SECHZEHN
Ich rannte aus Leibeskräften. Nein, ich ließ mich nicht stoppen, ich würde auch aus dieser Situation als Siegerin hervorgehen. Aber es half nichts. Sanna Saarniaho, die gegnerische Verteidigerin, grätschte völlig den Regeln entsprechend, ich landete auf dem Hintern und verlor den Ball. Da sie noch vor einigen Jahren in der Nationalelf gespielt hatte, war es keine Schande, ihr zu unterliegen, aber ich ärgerte mich trotzdem.
Ich spielte härter und aggressiver als je zuvor. Seit der Einstellung der Voruntersuchung im Fall Ilveskivi war die Arbeit ein einziger Frust gewesen. Am Morgen hatte ich mit dem Staatsanwalt Ari Aho gesprochen, der den gleichen Standpunkt vertrat wie meine Vorgesetzten: Es war an der Zeit, die Ermittlungen zu beenden. Dummerweise war Katri Reponen nicht im Dienst gewesen, mit ihr hätte ich vielleicht etwas aushandeln können.
»Maria, nimm an! «, rief Anu Wang und schickte einen Steilpass über das halbe Feld. Es gelang mir, die Torhüterin zu täuschen und den Ball ins obere linke Eck zu platzieren. Mein Triumphgebrüll war verfrüht, denn trotz meines Torerfolgs unterlagen wir am Ende mit eins zu drei. Wir hatten die Mannschaften ausgelost, weil viele von uns sich noch an die demütigenden Szenen im Sportunterricht erinnerten, wenn die Champions ihre Klassenkameradinnen bei der Mannschaftswahl selektierten. Ich war im Allgemeinen unter den Ersten gewesen, die gewählt wurden, denn ich war nicht nur eine relativ gute Sportlerin, sondern auch so aggressiv, dass man lieber nicht gegen mich spielte. Da ich in meiner Jugend in einer Jungenmannschaft gespielt hatte, hatte ich mir angewöhnt, rücksichtslos zur Sache zu gehen.
Das Spiel tat mir gut, es erinnerte mich daran, dass man keine Chance hatte, an den Ball zu kommen, wenn man herumstand. Als ich mir am Spielfeld den Schweiß abwischte, trat Liisa Rasilainen auf mich zu.
»Wer hat dir beigebracht, so gemein gegen die Knöchel zu treten? «, grinste sie und trank von ihrem Sportlertrunk. »Du hast mich wohl mit den Hammeln aus der Chefetage verwechselt. «
»Entschuldigung. Hab ich dir sehr wehgetan? «
»Halb so schlimm. Ich hab morgen frei, deswegen hab ich mir gedacht, ich geh heute Abend zum Karaoke ins ›Cafe Escale‹. Kommst du mit? «
Ich hatte am nächsten Tag zwar nicht frei, sondern musste neben der üblichen Routine auch noch eine Besprechung der Koordinationsgruppe für die Hauptstadtregion überstehen, doch der Gedanke an Karaoke und ein paar Drinks war verlockend. Wenn ich Iida vorher zu Bett bringen konnte, würde ich nicht einmal meine Mutterpflichten vernachlässigen. Wir verabredeten uns für halb zehn am Busbahnhof. Ich radelte so schnell nach Hause, wie ich nur konnte. Es war sommerlich warm geworden, die Natur setzte alles daran, das langsame Wachstum in den kühlen Wochen wettzumachen. Die Birkenblätter waren schon daumennagelgroß, der Löwenzahn leuchtete mit der Sonne um die Wette. Was meine Stimmung anging, hätte es allerdings November sein können. Ich empfand den Sonnenschein fast als Hohn.
Seit meinem Dienstantritt bei der Espooer Polizei hatte Taskinen als Puffer zwischen mir und den obersten Chefs fungieren müssen. Es war mir nicht klar, ob er den Beschluss, die Voruntersuchung zu beenden, wirklich für richtig hielt. Wahrscheinlich würde ich lange warten müssen, bevor er mir die Gründe darlegte.
Ich wusste, dass es unvernünftig war, mich in derart düsterer Laune in eine Kneipe zu hocken, hatte aber keine Lust, vernünftig zu sein. Ich lieferte mir mit Iida eine Wasserschlacht unter der Dusche und las ihr lange vor. Erst als sie fest schlief, genehmigte ich mir einen Drink, um für den Abend in Fahrt zu kommen.
Antti amüsierte sich über meinen Eifer, zum Karaoke in eine Schwulenbar zu gehen.
»Diese Rasilainen hat bestimmt ein Auge auf dich geworfen, sonst hätte sie dich nicht eingeladen«, zog er mich auf und verwuschelte mir die Haare, die ich gerade gestylt hatte.
»Dummkopf. Sie lebt mit einer Flötistin zusammen, die das betrunkene Grölen nicht abkann. Liisa darf zu Hause nur unter der Dusche singen, dabei hat sie eine tolle Stimme. « Bei der letzten Betriebsfeier war Liisa Rasilainen als Solistin einer Polizeiband aufgetreten, und selbst der zurückhaltende Taskinen hatte sich zu Bravorufen hinreißen lassen.
»Und du gehst nur zum Vergnügen in die Karaokebar, nicht etwa, um etwas über Petri Ilveskivi zu erfahren? «, fragte Antti, und ich wurde rot. Natürlich hatte ich nicht vergessen, dass das »Café Escale« Petris Stammlokal gewesen war. Auch wenn ich die Dienstkleidung zu Hause ließ, trug ich meine berufliche Identität immer mit mir.
Ich zog Jeans, Turnschuhe, ein T-Shirt und ein Flanellhemd an. Es war mir egal, was die Leute aus meiner Kleidung ablesen mochten. Ich tuschte mir nur leicht die Wimpern, so fühlte ich mich sorglos und alltäglich. Eigentlich hätte es mir Spaß gemacht, mich als Primadonna zu verkleiden, doch dann hätte ich mich richtig schminken müssen, und dazu fehlte mir die Zeit. Ich fuhr mit dem Rad nach Olari und nahm dort den Bus. An der Endhaltestelle wartete Liisa Rasilainen, die gerade von einem Betrunkenen um eine Zigarette angeschnorrt wurde. Der Mann wollte ihr nicht glauben, dass sie nicht rauchte, und rief uns Verwünschungen nach, als wir ihn stehen ließen und uns auf den Weg in das Lokal machten. Dort hatte die Show bereits begonnen. Ein Mann, der in seinem Lederanzug aussah, als wäre er eben von einer Harley-Davidson gestiegen, sang mit gefühlvoller Tenorstimme den melancholischen Schlager »Du kehrst nie mehr zurück«. Ich hatte den Verdacht, dass er die sentimentalen Worte ernst meinte.
Wir holten uns an der Bar unsere Drinks, einen Gin Tonic für mich und trockenen Cidre für Liisa. Die meisten Tische waren besetzt, wir zwängten uns an einen Ecktisch, an dem zwei Männer saßen. Der Körpersprache nach waren sie kein Liebespaar. Der eine, ein schlanker Blonder, blätterte eifrig in der Songliste, während sein großer, dunkelhaariger Begleiter sich über jeden seiner Vorschläge lustig machte. Derart boshafte Frotzeleien ließen sich die meisten Leute nur von ihren besten Freunden gefallen. Liisa nahm die zweite Songliste und las sie mir vor. Ich brauchte noch einen zweiten Drink, bevor ich entscheiden konnte, ob ich mich auf die Bühne wagte. Als ich an die Bartheke ging, sah ich Lauri Jensen hereinkommen. Ich rief seinen Namen, doch er hörte mich nicht, denn im selben Moment begann unser blonder Tischnachbar zu singen. Er hatte sich für »Verlass mich nicht« von Mamba entschieden und ahmte den Sänger der Band so täuschend echt nach, dass das ganze Lokal Beifall brüllte. Selbst die Phrasierung war genau richtig.
Der Barkeeper gab mir meinen Drink. Ich schlängelte mich durch die Menge zu Lauri Jensen, der mit einem ernst drein-blickenden, etwa sechzigjährigen Mann sprach. Mein Anblick schien ihn zu verblüffen, doch er fasste sich rasch und umarmte mich.
»Hallo, Maria! Ich hab gehört, dass ihr den Mord an Petri aufgeklärt habt. Gute Arbeit! « Er schlug mir anerkennend auf die Schulter.
»Danke«, antwortete ich düster. Lauri verstand meinen Tonfall falsch.
»Entschuldige, dumm von mir, an deinem freien Abend von der Arbeit zu sprechen. «
»Das macht mir nichts aus, ich bin heute einfach nur mies drauf. « Da ich ihm nichts von der erzwungenen Einstellung der Ermittlungen erzählen konnte, konzentrierte ich mich darauf, dem Mamba-Interpreten zu applaudieren.
»Bist du allein? Setz dich doch zu Mara und mir. «
»Ich bin mit einer Kollegin da. Sie will unbedingt, dass ich singe. «
»Deshalb sind wir ja hier. Weißt du, was Petri immer gesungen hat, jedes Mal, wenn er hier war? ›Dich, dich liebe ich‹ von Chydenius. Eine schwierige Melodie mit all den Halbtonintervallen, aber Petri hatte eine schöne Stimme. Was willst du denn singen? «
»Keine Ahnung. «
Im ganzen Lokal waren nur etwa zehn Frauen, die Männer waren deutlich in der Mehrzahl, was jedoch nicht störend wirkte. Man ließ uns in Ruhe. Allerdings kamen wir fast zwangsläufig mit unseren Tischnachbarn ins Gespräch. Die beiden waren nett, wenn auch ziemlich scharfzüngig. Der Blonde stand kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Pfarrer. Infolgedessen diskutierten wir schon bald über den lautstarken Widerstand gewisser kirchlicher Kreise gegen gleichgeschlechtliche Ehen.
»Wie kannst du in den Dienst einer Institution treten, die dich nicht so akzeptiert, wie du bist? «, ereiferte sich Liisa. »Ich gehör zwar auch zur Kirche, aber das ist eher eine Art Scheinchristentum. Wenn die Kirche die Frauenordination abgelehnt hätte, wäre ich auf jeden Fall ausgetreten. «
»Man kann das System nur von innen ändern«, antwortete der Blonde.
»Ich glaube an Gott und will Pfarrer sein. «
Im Allgemeinen vermied ich es, über Glaubensfragen nachzudenken. Ich war mir nicht im Klaren darüber, woran ich glaubte, doch die nebulöse Wischiwaschi-Religiosität, die einem neuerdings überall begegnete, irritierte mich über die Maßen. Pfarrer segneten Einkaufszentren, und in den Kontaktspalten der Kirchenzeitungen bezeichneten sich manche Leute als Jesus-Fans. Die religiöse Überzeugung schien zur Ausstattung erfolgreicher Menschen zu gehören wie ein Auto und das neueste Handy-Modell. Ich hatte allerdings keine Lust, darüber mit einem Theologen zu debattieren. Außerdem stand plötzlich Kim Kajanus an der Tür.
»Wer ist das? «, fragte der Dunkelhaarige, der fast alle im Lokal zu kennen schien. »Sieht aus wie ein neugieriger Hetero. «
Auch andere Köpfe drehten sich nach Kim um, der jetzt zur Theke ging und ein Bier bestellte. Den Blick fest auf die Wand geheftet, zog er sich mit seinem Glas in die hinterste Ecke zurück. Ein Blick auf Lauri Jensen verriet mir, dass er Kim wiedererkannt hatte. Am liebsten wäre ich gegangen, aber Liisa erklärte, sie werde »Mombasa« singen, und das musste ich mir einfach anhören. Ich blätterte in der Songliste und versuchte, für mich etwas ebenso Abgeschmacktes zu finden. Mein Glas leerte sich schnell, ich redete mir ein, ich wäre vom Fußball und vom Radfahren durstig. Liisa trank langsam ihren Cidre und sang bei den Auftritten der anderen halblaut mit, um die Stimme zu öffnen. Lauri Jensen stand auf, und ich glaubte, er wolle singen, doch der Showmaster kündigte einen gewissen Mika an. Lauri kam an unseren Tisch und beugte sich zu mir.
»Petris Freund ist hier, der Fotograf. «
Ich nickte. Es herrschte wieder ohrenbetäubender Lärm, denn ein kleiner, etwa fünfzigjähriger Mann schmetterte Paula Koivuniemis Schlager »Eine erwachsene Frau«, und das ganze Lokal sang mit.
»Ich unterhalte mich mal mit ihm, er wirkt so einsam«, grinste Lauri, als das Lied zu Ende war.
»Frischfleisch, ja, ja. « Liisa zog eine Grimasse. »Was für ein Glück, dass ich mir keine Partnerin mehr zu suchen brauche. Manchmal guck ich mir diese Single-Geschichten an, Ally McBeal und dergleichen, und frage mich, was daran so lustig ist. Ich erinnere mich noch genau, wie verzweifelt ich damals oft war. «
»Lauri ist auch verheiratet«, begann ich, doch da war Liisa schon an der Reihe. Sobald sie auf der Bühne stand, veränderte sich ihre ganze Gestalt. Ihr Körper wiegte sich, die braunen Augen glühten. Sie war eine charismatische Frau, die grauen Strähnen und die ausdrucksvollen Fältchen im Gesicht standen ihr ausgezeichnet. Sie sang »Mombasa« eine halbe Oktave tiefer als gewöhnlich und flirtete ungehemmt mit dem Publikum. Ich konnte mir gut vorstellen, was die Chauvinisten im Präsidium zu ihrem Auftritt gesagt hätten.
»Jetzt hab ich noch einen Cidre verdient! «, schnaufte Liisa, als sie sich zwischen schulterklopfenden und augenzwinkernden Bewunderern an unseren Tisch durchkämpfte. »Soll ich dir was mitbringen? «
»Ja, einen Gin Tonic«, antwortete ich und hielt ihr einen Zwanzigmarkschein hin. Dann drehte ich mich zu Kim und Lauri um. Lauri sprach lebhaft auf Kim ein, der in der Songliste blätterte, als wollte er vermeiden, Lauri ins Gesicht zu sehen.
»Na, Maria, hast du dir schon ein Lied ausgesucht? «, fragte Liisa und stellte mir ein Glas hin. Als ich verneinte, begannen sie und unsere Tischnachbarn mich zu drängen.
»Ich trau mich nicht, das Niveau an unserem Tisch ist zu hoch«, versuchte ich mich herauszuwinden.
»Aber nur, solange der da nicht singt«, sagte der Theologe und zeigte auf seinen Freund, der ihm die Zunge herausstreckte wie ein Fünfjähriger. Wieder blätterte ich in der Songliste, bis ich ganz am Ende ein paar Lieder von Virve Rosti entdeckte. »Ich bin stark« klang herrlich pompös, genau das Richtige gegen meinen Berufsfrust. Vielleicht sollte ich es meinen Vorgesetzten widmen. Ich ließ mich beim Discjockey vormerken und ging zur Toilette. Im »Cafe Escale« waren Frauen und Männerklos nicht getrennt, doch das war für mich nichts Neues. Ich hatte mir schon in der Schule angewöhnt, mich den Jungs anzuschließen und ein guter Kumpel zu sein, im Fußballclub wie in der Punk-Band. Inzwischen hatte ich allerdings langsam genug von dieser Rolle.
Auf dem Rückweg kam mir Kim Kajanus entgegen, der gerade seinen Songwunsch beim Discjockey abgegeben hatte. Unsere Blicke trafen sich, er grüßte verlegen und ging an die Theke. Die schwarze Kleidung ließ sein Gesicht noch blasser erscheinen und betonte das flammende Rot seiner Haare. In welcher Ecke der Welt mochte sich Eriikka Rahnasto gerade aufhalten?
An unserem Tisch wurde herzhaft über den derzeitigen Innenminister hergezogen. Viel zu schnell war ich mit Singen an der Reihe. Das Lampenfieber packte mich erst auf der Bühne, dann aber zitterten mir die Beine dermaßen, dass man es bestimmt im letzten Winkel sah. Warum hatte ich mich nur auf diesen Blödsinn eingelassen? Immerhin hatte ich seit dem letzten Auftritt unserer Punk-Band Rattengift nicht mehr in der Öffentlichkeit gesungen. Doch das Publikum begann schon bei den ersten Tönen zu jubeln.
Natürlich zitterte meine Stimme und traf gelegentlich den falschen Ton, aber ich sang mit solchem Pathos, dass ich begeisterten Applaus erhielt.
Ich verbeugte mich und breitete die Arme aus wie eine echte Primadonna. Vielleicht hätte ich doch Pumps mit hohen Absätzen anziehen und goldenen Lidschatten auflegen sollen. Die drei Minuten im Rampenlicht waren ein tolles Erlebnis, doch danach trank ich den Gin Tonic wie Wasser.
»Toll gesungen! «, sagte Lauri Jensen und legte seine Arme um meine Schultern. »Der Rotschopf ist übrigens ganz schön unfreundlich. Er behauptet, er hätte Petri nur flüchtig gekannt, zur Beerdigung zu kommen wäre ein spontaner Einfall gewesen. Ist der überhaupt schwul? «
»Wie, hast du ihn nicht danach gefragt? «, zog ich ihn auf.
»Nee. Ich geh jetzt, morgen Abend bin ich für den Familienzirkus zuständig, weil Jukka arbeiten muss und die Frauen ins Theater wollen.
Das halt ich nicht durch, wenn ich müde bin. Grüß Antti von mir! « Unsere Tischnachbarn erzählten hirnrissige Geschichten über alle möglichen Promis, und Liisa und ich kicherten wie die Teenager. Die Welt erschien mir längst nicht mehr so hoffnungslos wie ein paar Stunden zuvor. Immerhin war Frühling, und zu trinken gab es auch genug. Wir lachten und scherzten, bis Kim auf die Bühne gerufen wurde. Tiefernst stimmte er das »Lied vom toten Geliebten« von Chydenius an. Er hatte einen dunklen, leicht rauen Bariton, und das heftige Zucken seines Adamsapfels verriet seine Nervosität. Was für ein Ritual vollzog er, indem er dieses dramatische Lied in Petris Stammlokal sang?
»Trüb ist der Wein der Träume, dunkel der Wald des Schlafs, die andere Seite so fern, dein Blick erreicht sie nicht«, sang Kim, ohne sein Publikum anzusehen. Mir war nach Lachen und Weinen zumute, nach beidem zugleich.
Als das Lied zu Ende war, steckte Kim das Mikrophon in die Halterung und drängte sich durch die Menge, ohne den Beifall und die Pfiffe wahrzunehmen. Aus einem plötzlichen Impuls heraus nahm ich meine Jacke und sagte zu Liisa:
»Sorry, ich muss gehen. Was Dienstliches. Ich erklär es dir am Montag. « Ohne mich um den Protest unserer Tischnachbarn zu kümmern, lief ich die Straße hinunter. An der nächsten Ecke holte ich Kim ein.
»Hallo, Kim«, schnaufte ich. »Wie geht's? «
Er sah mich wütend an. »Warum hast du mit diesem Lauri geredet? Ist die Polizei nicht an die Schweigepflicht gebunden? « Er ging schnell. Die Hundertneun stand an der Haltestelle, offenbar wollte er mit dem Bus nach Kauniainen.
»Ich hab ihn nur gefragt, ob du auf der Beerdigung warst, sonst nichts! «
Ich musste mich anstrengen, mit ihm Schritt zu halten. Zwar war ich es gewöhnt, neben langbeinigen Männern herzulaufen, doch die Drinks und die physischen Anstrengungen des Tages steckten mir in den Knochen.
»Du vergisst, dass ich Polizistin bin. Bei Mordermittlungen muss man gelegentlich auch unangenehme Fragen steilen. «
»Aber der Mord an Petri ist doch schon geklärt! Der Kleinkriminelle hat ihn umgebracht, stand in der Zeitung. « Er schob die Hände tief in die Taschen seiner Wildlederjacke.
»Warum bist du zur Beerdigung gegangen, und warum warst du heute im ›Cafe Escale‹? «
»Das geht die Polizei nichts an! «, giftete er. »Die Einladung zur Beerdigung stand in der Zeitung. «
»In welchem Verhältnis stehst du zu Eriikkas Vater? «
»Was hat Reijo damit zu tun? «
Wir hatten den Busbahnhof erreicht, ich folgte Kim zur Haltestelle, wo einige Fahrgäste warteten. Er grüßte jemanden und tat, als kenne er mich nicht. Außenstehende mussten den Eindruck gewinnen, eine Frau mittleren Alters versuche verzweifelt, einen fast zehn Jahre jüngeren Adonis aufzureißen. Aber es war mir egal, was die Leute dachten, ich musste mit Kim sprechen. Ich stieg mit ihm ein und setzte mich unverfroren neben ihn.
»Was hat Petri von Reijo Rahnasto gehalten? Er hat doch sicher gewusst, dass deine Freundin Rahnastos Tochter ist? «
Er beugte sich zu mir und flüsterte: »Meine Nachbarn sitzen auf der Nebenbank. Eriikka kennt sie. Sei um Himmels willen still! « Obwohl ich dreieinhalb Gin Tonics getrunken hatte, brachte ich es fertig, mich vernünftig zu benehmen. Ich wollte Kim das Leben nicht unnötig schwer machen.
»Komm mit zu mir! «, flüsterte er plötzlich, als der Bus auf die Kalevalantie abbog. »Eriikka ist in Brüssel. Ich hab meiner Kusine vom Land das Großstadtleben gezeigt«, sagte er dann laut zu seinen Nachbarn.
»Ich war zum ersten Mal in meinem Leben beim Karaoke«, sagte ich ebenso laut und gekünstelt und biss mir auf die Lippen. Kim sah zweifellos aus wie der Held eines Melodrams, aber musste er sich auch so verhalten?
Kim wohnte im Zentrum von Kauniainen in einem soliden dreistöckigen Haus. Im zweiten Stock verabschiedeten wir uns von den Nachbarn und gingen hinauf in den dritten.
Die geräumige Wohnung war sparsam möbliert. Sie bestand aus einem großen Raum, der durch eine Küchentheke und einen verschiebbaren japanischen Wandschirm unterteilt wurde, hinter dem offenbar das Bett stand. An den weiß gestrichenen Wänden hingen einige Fotografien, die Möbel waren aus Chrom und schwarzem Leder. Die Audio und Videogeräte waren mehrere zehntausend Mark wert. Kim Kajanus war kein Bettelknabe. Er rieb sich die geröteten Augen.
»Die verdammten Kontaktlinsen machen mir immer Probleme, wenn geraucht wird. Warte einen Moment, ich nehm sie raus. «
Er verschwand im Badezimmer, ich hörte Wasser rauschen. Als er zurückkam, trug er eine Brille mit brauner Fassung, die ihn älter und härter aussehen ließ.
»Was soll das eigentlich? Warum warst du im ›Escale‹, du bist doch nicht lesbisch, oder? «
»Aus demselben Grund wie du. Ich versuche, Petri in meinen Gedanken zum Leben zu erwecken, um herauszufinden, warum er überfallen wurde. «
»Zum Leben erwecken«, seufzte Kim. »Das hab ich wahrscheinlich auch versucht. Das heißt, zur Beerdigung bin ich gegangen, um mir klarzumachen, dass er tot ist. Und heute… Petri hat mir erzählt, dass er zum Karaoke geht und an mich denkt, wenn er Liebeslieder singt. Ach Scheiße, das ist alles so lächerlich! «
Er ließ sich auf das Sofa fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile stand er auf und fragte mit ruhigerer Stimme:
»Möchtest du einen Kaffee? «
Warum nicht, es konnte eine lange Nacht werden. Ich setzte mich auf das Sofa, von dem Kim gerade aufgestanden war. Es war angenehm weich.
Ich streifte die Schuhe von den Füßen und zog die Beine unter mich. An der gegenüberliegenden Wand hing ein stilvolles Schwarz-Weiß-Foto von Eriikka Rahnasto. Die scharfen Kontraste von Licht und Schatten betonten die hohen Wangenknochen und die gerade Nase. Die Schultern waren nackt, die blonden Haare fielen über das rechte Ohr.
Das Bild an der anderen Wand zeigte ein Sofa. Das rote Sofa, das bei Petri und Tommi im Wohnzimmer stand. Kim kam aus der Küche zurück.
»Petris Sofa… Es ist eine gute Aufnahme, ich hab sie vergrößert. Man sollte meinen, es täte nicht weh, das Foto zu betrachten, Petri ist ja nicht drauf. Er hat da links gestanden und gegrinst, da drüben auf dem weißen Fußboden ist der Schatten von seinem Arm zu erkennen, siehst du ihn? Jedes Mal, wenn ich das Bild anschaue, sehe ich auch Petri, und sein Bild legt sich über alles andere, über das Sofa und das Fenster und das ganze Bild. Wahrscheinlich sollte ich es abnehmen und Eriikka sagen, es wäre mir langweilig geworden. «
Kim hatte die Vorhänge nicht vorgezogen, zwischen den Birkenzweigen schimmerten blasse Sterne. Auf einmal wurde ich entsetzlich müde, doch der Espressogeruch aus der Küche war verlockend.
»Ich hab Latte Macchiato gemacht, du hast doch hoffentlich keine Laktose-Intoleranz? Eriikka verträgt keine Milch«, sagte Kim und schob einen Teewagen aus Chromstahl heran, auf dem zwei große Milchkaffeeschalen und ein Teller mit Orangenkeksen standen.
»So, nun stell deine Fragen«, sagte er nach dem ersten Schluck.
»Was hat Petri über Reijo Rahnasto gesagt? «
»Sie schienen über alles entgegengesetzter Meinung zu sein. Petri war ziemlich verunsichert, als er erfuhr, wer meine Freundin ist. Er wollte wissen, ob Eriikka sehr an ihrem Vater hängt. «
»Und, tut sie das? «
Er antwortete nicht sofort, sondern biss in einen Keks, als sei er ausgehungert. Der Kaffee war stark und angenehm warm. Da die Schale keinen Henkel hatte, wärmte sie auch gleich die Hände.
»Ich weiß es eigentlich nicht. Eriikka spricht nicht viel über ihre Eltern. Ihre Mutter wohnt in Turku. Die Scheidung war offenbar so schmerzhaft, dass sie nicht mehr in derselben Stadt leben wollte wie ihr Exmann, aber das war lange bevor ich Eriikka kennen gelernt habe. In letzter Zeit ist Reijo öfter mit einer Kollegin von Eriikka ausgegangen. Warum fragst du mich eigentlich nach ihm? « Als Kim begriff, wurde sein schmales Gesicht wachsbleich.
»Du glaubst doch nicht etwa, Reijo hätte davon gewusst? Und Petri wäre deshalb… Mich hätte er garantiert zusammengeschlagen, wenn er es erfahren hätte, aber Petri… Nie im Leben! « Die langen Finger fuhren durch die Haare, schlossen sich dann zitternd um die Kaffeeschale.
»Ist er gewalttätig? «
»Er hat sowohl Eriikkas Mutter als auch seine zweite Frau verprügelt, aber das ist ein Familiengeheimnis. Eriikka hat es mir einmal verraten, als sie ein bisschen zu viel getrunken hatte, aber danach hat sie sich geweigert, darüber zu reden. Ihre Mutter war weniger diskret, sie hat gesagt, hoffentlich würde ich Eriikka nicht so behandeln, wie ihr Mann sie behandelt hat. Pfui Teufel! «
»Was hat Petri über Rahnasto gesagt? «, fragte ich noch einmal.
Kim stand auf und ging ans Fenster. Draußen hörte man Bremsgeräusche und Hupen, auf der nahe gelegenen Bahnstrecke rumpelte ein Frachtzug vorbei. Ich nahm einen Keks, die Orangenfüllung tropfte mir aufs Kinn, doch Kim hatte zum Glück Papierservietten bereitgelegt.
»Petri meinte, Rahnasto verstößt gegen das Kommunalgesetz, weil er dem Ausschuss nicht alle Anträge vorgelegt hat. Er war sehr erleichtert, als er gemerkt hat, dass ich Reijo auch nicht besonders mag. Reijo ist durch und durch skrupellos, darüber kann auch sein geschliffenes Auftreten nicht hinwegtäuschen. Im Geschäftsleben mag das noch angehen, da muss man natürlich auf seinen eigenen Vorteil aus sein, aber in der Politik sollte man doch wohl auch die Interessen der Bürger vertreten. Möchtest du noch Kaffee? «
»Danke, gern. Offensichtlich hast du bei der letzten Wahl nicht für Rahnasto gestimmt. «
Kim lachte. Er holte Kaffee und Milchkanne aus der Küche und füllte unsere Tassen auf. Dann fragte er, warum ich mich immer noch mit Petris Tod beschäftigte.
»Weil ich den Verdacht habe, dass Reijo Rahnasto Seppäläs Auftraggeber war. Warum hätte er sich sonst so glühend für den Fortschritt der Ermittlungen interessieren sollen? Du kennst ihn. Glaubst du, er hätte das Zeug dazu, einen Schläger anzuheuern und ihn später zu erschießen, weil er einen Fehler gemacht hat? «
»Dazu wäre er fähig«, sagte Kim leise. »Du weißt, dass er Waffen sammelt? «
»Ja. «
»Im letzten Herbst wollte er mich unbedingt auf die Elchjagd mitnehmen. Als ich ablehnte, meinte er, dann sollte ich wenigstens fotografieren. Wahrscheinlich hätte er sich gern mit ein paar Wirtschaftsbossen und einem toten Elch ablichten lassen. Reijo ist ein guter Schütze, er hat schon mindestens fünf Elche und einen Bären erlegt. Ich zweifle nicht daran, dass er im Notfall auch fähig wäre, einen Menschen zu erschießen. «
»Nur das Motiv fehlt«, sagte ich halb zu mir selbst. »Irgendwie muss es mit der Sitzung oder zumindest mit dem Tätigkeitsfeld des Stadtplanungsausschusses zusammenhängen, aber wie? « Ich rieb die Kaffeeschale, als wäre sie eine Kristallkugel.
»Hör mal, Kim, gehst du gelegentlich mit Rahnasto in die Sauna? Du weißt schon, ein Kasten Bier, eine Flasche Kognak und Männergespräche, in dem Stil? «
»Nein. «
»Schade. «
»Ich kann trotzdem versuchen, etwas herauszufinden… Dass ich Petri beruflich gekannt habe, ist kein Geheimnis, immerhin stand mein Name unter den Illustriertenfotos. Mein Interesse für den Fall wäre also ganz normal. «
Wir unterhielten uns noch eine Viertelstunde, dann bestellte ich ein Taxi. Mein Rad konnte über Nacht in Olari stehen bleiben. Zwar nahm ich Salos Drohungen längst nicht mehr so ernst wie am Anfang, doch mitten in der Nacht fühlte ich mich im Auto sicherer. Zu Hause aß ich ein dick belegtes Brot und schlief trotz des nächtlichen Kaffeetrinkens bald ein. Als mich das Knattern eines Mopeds weckte, wusste ich, dass es kurz nach halb fünf sein musste, denn der Zeitungsbote kam immer pünktlich. Kurz darauf hörte ich ein Auto näher kommen, dann erstarb das Motorengeräusch. Wahrscheinlich wieder ein Liebespaar, dachte ich und döste ein.
Am Morgen war es heiß im Schlafzimmer, die Sonne leuchtete mir gnadenlos in die schläfrigen Augen. Ich setzte die Sonnenbrille auf, bevor ich in Schlafanzug und Pantoffeln nach draußen ging. Einstein schlüpfte an mir vorbei und schoss wie ein blutjunger Kater auf die Birke neben dem Briefkasten zu, in der eine Bachstelze schaukelte.
Sekunden später passierte es. Als Einstein neben dem Briefkasten aufkam, ging die Bombe hoch. Die Druckwelle verschloss mir die Ohren, doch ich sah, wie Einstein von einem Splitter getroffen und in hohem Bogen gegen den Vogelbeerbaum geschleudert wurde.