DREIUNDZWANZIG
Laine ist ein häufiger Name. Als Muukkonen und ich das Aktionärsverzeichnis des Rahnasto Industrial Security Service durchgesehen hatten, war uns die Aktionärin Maritta Laine nicht aufgefallen. Sie war die Frau meines Kollegen.
Laine gab nichts zu, obwohl wir ihm nachweisen konnten, dass er Rahnasto am Donnerstagabend von seinem Handy aus angerufen hatte. Er behauptete, er habe über den Jagdverein gesprochen, dem beide angehörten. Warum hatte Laine versucht, die Ermittlungen zu behindern? Glaubte er, mein Scheitern würde ihn zum Leiter des Gewaltdezernats machen, oder steckte noch mehr dahinter? Ich hatte keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen, denn er ließ sich sofort nach Rahnastos Festnahme krankschreiben.
Man wunderte sich allgemein, was Rahnasto zu dem tollkühnen Versuch getrieben hatte, mit falschem Pass zu fliehen. Hatte der Stadtdirektor ihm erklärt, er könne nicht mit seiner Unterstützung rechnen, oder hatte die Vorsitzende der Stadtverwaltung ihn wissen lassen, dass sie und ihre Anhänger ihre Hände in Unschuld waschen würden? Vielleicht hatte Rahnasto im Fall Ilveskivi auf eigene Faust gehandelt, vielleicht hatten die anderen die Wahrheit geahnt, es aber für klüger gehalten zu schweigen.
Die Vorsitzende der Stadtverwaltung versicherte, dass die Laajalahti-Pläne auf jeden Fall zu gegebener Zeit auf dem üblichen Weg den demokratisch gewählten Gremien vorgelegt worden wären.
»Der übliche Weg bedeutet, dass der Beschluss vorher ausgeklüngelt worden ist und Gegenvorschläge nicht zur Behandlung zugelassen werden«, schimpfte Eila Honkavuori. Wir saßen auf der Dachterrasse des Kaufhauses Stockmann in Tapiola und aßen Eis. Ich hatte sie eingeladen.
»Das geht wohl jetzt nicht mehr, nachdem der Plan vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangt ist«, meinte ich.
»Zwei Tote sind ein zu hoher Preis für kommunale Demokratie«, schnaubte Eila, schloss dann aber verzückt die Augen, als die pralle Kirsche, die den Eisbecher zierte, in ihrem Mund verschwand. »Ich glaube nicht, dass sich etwas ändert. Petri und dieser Marko Seppälä sind tot, Rahnasto sitzt in Untersuchungshaft, aber alle anderen sind mit mehr oder weniger weißer Weste davongekommen. Du hast doch den Kommentar des Stadtdirektors gehört. Selbst in zuverlässigen Parteifreunden kann man sich täuschen. Jeder hat seine Schwächen. «
Bei den Vernehmungen stritt Rahnasto nach wie vor alles ab bis auf die Laajalahti-Pläne, für die er die Stadtführung verantwortlich machte. Er behauptete, Seppälä und Väinölä nie gesehen zu haben. Sein Fluchtversuch wurde jedoch als belastend angesehen, und der Staatsanwalt bereitete eine Anklage wegen Anstiftung zum Mord, Mord und Anstiftung zum versuchten Mord vor.
Laine dagegen kam ohne Anklage davon. Er hatte schließlich zugegeben, dass er Rahnasto über die Ermittlungen im Fall Ilveskivi und später im Fall Seppälä auf dem Laufenden gehalten hatte, behauptete jedoch, in gutem Glauben gehandelt zu haben, um die freundschaftlichen Beziehungen zu dem einflussreichen Kommunalpolitiker, der zugleich sein Jagdfreund war, zu pflegen. Vielleicht hatte Laine nicht gewusst, dass Rahnasto ein Mörder war, und hatte lediglich versucht, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Seine Krankschreibung wurde bis zum August verlängert, doch schon vor Mittsommer kursierte das Gerücht, Laine werde der neue Leiter der Wachabteilung bei Rahnasto Industrial Security Service.
In der letzten Stadtratssitzung vor der Sommerpause wurde Rahnasto von allen Ämtern entbunden. Durch die Ämterrotation rückte Eila Honkavuori zur stellvertretenden Vorsitzenden des Stadtplanungsausschusses auf.
»Ich mache mir Sorgen um Tommi«, sagte sie. »Er hockt ganz allein in seiner Wohnung und sieht sich immer wieder Fotos von Petri an. « Ich war bei ihm gewesen und hatte ihm alles berichtet, was mit Petri Ilveskivis Tod zusammenhing. Draußen war es über dreißig Grad warm, doch in der Wohnung herrschte Novemberstimmung. Alles war sauber und düster, dunkle Vorhänge hielten die Sonne fern. Dutzende von Kerzen flackerten, und überall standen Fotos von Petri. Vielleicht empfand Tommi das blühende Leben außerhalb des Hauses als Verhöhnung seiner Trauer.
»Tommi hat praktisch nur durch Petri gelebt. Er hat keine eigenen Freunde. Ich habe ihn ins Konzert und zu uns nach Hause eingeladen, aber er will nicht. «
Die Tensen-Männer hatten das Gleiche gesagt, aber Eva hatte sie ermahnt, nicht aufzugeben. Ich erinnerte mich zurück, an meinen Kollegen Ström und meine Mitschülerin Sanna, und dachte daran, wie leicht es war, einen vor Trauer gelähmten Menschen allein zu lassen. Einen Menschen, der keine Dankbarkeit für all die Zuwendung erkennen ließ, der einen vor den Kopf stieß und fortschickte, um weiterzujammern. Und dann kam der Tag, an dem es zu spät war. Das sagte ich auch zu Eila, aber sie wusste es bereits. Sie würde Tommi nicht allein lassen.
»Turo und ich haben noch einmal über das Thema Kinder nachgedacht«, erzählte sie. »Wir haben beschlossen, eine Adoption in die Wege zu leiten. Ein Baby gibt man uns nicht, aber wir sind bereit, ein älteres Kind zu adoptieren. Jemandem ein Heim zu geben, der keins hat. Vielleicht ist das unsere Bestimmung. «
»Das wäre nicht die schlechteste Bestimmung. «
»Wir stellen keine Bedingungen. Herkunft, Geschlecht oder Gesundheitszustand spielen keine Rolle. Wenn man selbst ein Kind austrägt, stellt man ja auch keine Qualitätsanforderungen. Es ist verrückt, aber ich habe das Gefühl, dass irgendwo ein Kind ist, das gerade auf uns wartet. Hoffentlich müssen wir uns nicht allzu lange gedulden. «
Ich hatte versprochen, im Herbst mit ihr zum Bauchtanz zu gehen, der seit Jahren ihr Hobby war. Ich sehnte mich nach Abwechslung, nach weichen, weiblichen Bewegungen als Ergänzung zum Fußball und zum Gewichtheben. Wir waren auf dem besten Weg, Freundinnen zu werden.
Suvi Seppälä dürstete nach Rache. Der Tod hatte Marko in ihren Augen fast zum Heiligen gemacht. Sie redete sich ein, er habe Ilveskivi nur leicht verletzen wollen. Dass die Situation außer Kontrolle geraten war, sei Pech gewesen. Sie wollte von Rahnasto eine halbe Million Finnmark Entschädigung fordern. Eine Regenbogenillustrierte finanzierte der trauernden Familie Ferien auf Mallorca und erwarb den Alleinanspruch auf Suvis Lebensgeschichte.
Die Medien spekulierten über die Gründe, die einen Mann wie Rahnasto zum Mörder gemacht hatten. Auch ich grübelte darüber nach, als ich die Videoaufnahme seiner Vernehmungen sah. Er blieb beharrlich bei seiner Behauptung, Seppälä nur einmal flüchtig begegnet zu sein, als er ihm Feuer gab, und in seinem glatten, unpersönlichen Gesicht rührte sich nichts. Den Versuch, mit gefälschtem Pass nach Estland zu reisen, begründete er mit dringenden geschäftlichen Verpflichtungen.
Seine Exfrauen sagten aus, er sei gewalttätig gewesen, seine Angestellten dagegen sprachen bewundernd über die Leistungsfähigkeit und den grenzenlosen Ehrgeiz ihres Chefs. Bei der Ausbildung zum Reserveoffizier war Rahnasto als hervorragende Führungspersönlichkeit eingestuft worden. An seiner glatten Oberfläche schien nichts haften zu bleiben. In zynischen Momenten sagte ich mir, dass er sich vermutlich auch vor Gericht herauswinden würde.
Wir hatten noch keine neue Bleibe gefunden, doch an Mittsommer fing der Urlaub an. Allmählich gefiel mir der Gedanke umzuziehen. Wir hatten immerhin schon knapp fünf Jahre in Henttaa gewohnt, so lange war ich seit meiner Jugend nicht mehr an einem Ort sesshaft gewesen. Der Umzug von Koivu und Wang ging zügig vonstatten, denn Anus Brüder und Vettern halfen fleißig mit. Wir Kollegen konzentrierten uns eher auf das Umzugsbier. Die neue Zweizimmerwohnung hatte sechzig Quadratmeter und zwei Türen, die man hinter sich schließen konnte, wenn das Zusammenleben zu anstrengend wurde.
Am Vorabend des Mittsommertags wurde Einweihung gefeiert. Anttis Eltern holten Iida zu sich nach Inkoo, wir wollten am nächsten Tag nachkommen und zu einem Segeltörn aufbrechen. Es war weiterhin schönes Wetter angesagt.
Antti hatte ein Brot gebacken, ich hatte mit Iida eine leere Olivendose als Salzfässchen bemalt. Eine Flasche von Koivus Lieblingsschnaps vervollständigte unser klassisches Mitbringsel. Die Gastgeber empfingen uns mit feierlichem Gesicht.
»Sieh uns genau an«, sagte Koivu. Ich schaute hin, doch es dauerte fünf Sekunden, bis ich auf die richtige Stelle blickte. Koivu und Wang hatten sich verlobt.
Liisa Rasilainen und ich begannen sofort mit der Planung des Polterabends, und Antti schlug Koivu vor, mit ihm den Verein Polizistinnengatten e.V. zu gründen. Puustjärvis kleine, schüchterne Frau trank zwei Glas Bowle und erklärte dann, sie wolle tanzen. Koivu schaffte es, im Wohnzimmer ein paar Quadratmeter Tanzfläche freizuräumen, auf der sich die Tanzwütigen drängten wie in den Discos meiner Jugend. Nachdem ich eine Weile zu Abba-Musik herumgehüpft war, ging ich auf den Balkon, um mich abzukühlen. Zwischen den Nachbarhäusern hindurch sah man bis zum Sportplatz, der Verkehrslärm drang nur gedämpft an meine Ohren. Eine leichte Brise ließ die Fichten auf dem Hof tanzen und trocknete den Schweiß auf meiner Stirn.
Ich hatte nicht gewusst, wie ich Mikke danken sollte. Ein Besuch im Gefängnis ging über meine Kräfte, doch eine Karte oder ein Anruf schien mir zu wenig. Ich hatte mehrere Briefe angefangen, aber alle zerrissen. Nun hatte ich einen langen Brief von ihm bekommen. Der Inhalt war größtenteils ernst, doch an manchen Stellen blitzte Ironie auf. Als ewiger Außenseiter sah Mikke auch die humoristischen Seiten des Gefängnislebens. Es waren die lustigsten Passagen, bei denen ich am heftigsten weinen musste.
»Ich erwarte nicht, dass du mir schreibst, aber wenn du es tust, freue ich mich natürlich. Aber bitte nicht aus Mitleid. Ich mag dich, doch ich mache mir keine falschen Hoffnungen. Endlich finde ich wieder zu mir selbst und wage es, an die Welt dort draußen zu denken. Du hattest Recht, das Meer läuft nicht davon. Ich habe schon angefangen, die nächsten Segeltörns zu planen, obwohl ich in der Bewährungsfrist nur innerhalb der Hoheitsgewässer segeln darf. Aber auch in den Schären gibt es noch viel zu entdecken.
Ich wünsche dir und deiner Familie viel Spaß beim Segeln. «
Vielleicht würde ich ihm doch noch schreiben. Zeitliche und räumliche Distanz halfen offenbar nicht; um sich von schmerzlichen Gefühlen zu befreien, musste man sie durchleben. Es war sinnlos, die Erinnerung an Mikke zu verdrängen, irgendwann würde sie aufhören zu schmerzen. Mit anderen brauchte ich darüber nicht zu sprechen. Es genügte, dass ich selbst wusste, was ich empfand und was nicht.
Taskinen riss mich aus meinen Gedanken. Unser Verhältnis war kühl geblieben, obwohl er ein paar Mal vorsichtig versucht hatte, es wieder zu verbessern. An seinen Augen sah ich, dass er leicht angetrunken war, was bei ihm selten vorkam.
»Warm da drinnen«, sagte er behutsam.
»Hier ist es auch nicht viel kühler«, antwortete ich leise.
»Ich schäme mich wirklich, dass ich dem Druck nachgegeben habe. Ich habe immer geglaubt, mir könnte so etwas nicht passieren, mich könnte niemand einschüchtern. Ich habe mich für besser gehalten als die meisten meiner Kollegen. Es fällt mir nicht leicht, zuzugeben, dass ich genauso bin wie alle anderen. «
Seine Augen schimmerten feucht. Auch er ging gleich nach Mittsommer in Urlaub, und wir hatten ursprünglich einen gemeinsamen Segeltörn geplant. Doch davon war in letzter Zeit nicht mehr die Rede gewesen.
»Du bist die Einzige, der ich von der Sache erzählt habe. Die anderen sind nur Kollegen, keine Freunde. Wir sind doch noch Freunde? «
Meiner Meinung nach verdiente jeder eine zweite Chance. Daran hielt ich sogar fest, wenn ich es mit Mördern zu tun hatte, beispielsweise mit Mikke. Warum sollte ich Taskinen nicht verzeihen können, zumal er seinen Fehler eingestand?
Da ich die richtigen Worte nicht fand, umarmte ich ihn einfach. Mein Vertrauen zu ihm war nicht mehr grenzenlos, aber immer noch groß genug. Vielleicht hatten wir beide zu oft versucht, allein zurechtzukommen, und deshalb manchmal Fehler gemacht.
»Wer umarmt denn da meine Frau? «, rief Antti von der Balkontür aus.
Er wusste von unserem Zerwürfnis und war sichtlich erleichtert über unsere Versöhnung. Ich löste mich aus Taskinens Armen und machte mich auf den Weg zur Toilette. Im Vorbeigehen drückte ich Antti einen Kuss auf die Wange.
Im Flur fing Puupponen mich ab.
»Ich hab auch einen Grund zum Feiern«, sagte er mit feierlichem Gesicht und nahm eine fünf Zentimeter dicke Mappe aus seiner Aktentasche.
»Das hier ist gestern fertig geworden. «
»Die Blondine mit den roten Schuhen«, las ich. »Kriminalroman. Von Ville Puupponen. Wow! Damit hast du dich also das ganze Frühjahr herumgeschlagen? «
Auf seinem Gesicht mischten sich Erschrecken und Stolz.
»Ja, aber nicht in der Arbeitszeit, oder höchstens ein oder zweimal. Es ist so eine Art flotter, witziger Krimi geworden, mit einem Polizisten aus Savo als Hauptperson. Und jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Du verstehst doch was von Büchern. Würdest du dir die Geschichte mal durchlesen und mir sagen, ob sie brauchbar ist? «
»Aber gern, ich fühle mich geehrt«, sagte ich überrascht.
»Sag den anderen nichts davon«, flüsterte er, und ich versteckte den Hefter in Anttis Tasche, in der wir unsere Mitbringsel transportiert hatten. Ich hoffte nur, dass Puupponens Roman nicht allzu blutrünstig war, denn mit Bluttaten hatte ich bei der Arbeit genug zu tun. Ich wollte nicht immer bloß mit dem Tod konfrontiert werden, tagaus, tagein misshandelte oder ermordete Menschen vor mir sehen und dabei so lange abstumpfen, bis ich Gewalt für etwas Normales hielt. All das war ich Leid. Ich brauchte ein Gegengewicht zum Tod.
Ich trat vor Koivus und Wangs Plattenregal. Anu Wangs neunzehnjähriger Bruder lächelte mir scheu zu. Er hatte gerade mit einer glatten Eins das Abitur bestanden und sofort einen Studienplatz an der Technischen Hochschule bekommen, wo er theoretische Physik studieren wollte. Anu meinte, in vier Jahren hätte er den Doktortitel in der Tasche.
Zwischen Van Halen und Bon Jovi entdeckte ich eine Platte von Luonteri Surf und legte sie auf. In dem Song war zwar vom Herbst die Rede, doch er passte auch zu diesem Sommerabend.
Die kalte Herbstsonne am See steht schon tief, auf dem Acker knirschen die eisigen Stoppeln, und irgendwie fühl ich mich unglaublich stark, mich stößt keiner um, ich bin Urgestein.
»Ist der Song auf dich gemünzt? «, frotzelte Puupponen, doch Antti schlang die Arme um mich und wiegte mich im Rhythmus der Musik. Die nächsten Stücke auf der Platte waren wilder, trotziger Punk, der uns allen in die Beine fuhr. Wir hüpften und sprangen ausgelassen herum, bis der Nachbar aus der unteren Etage klingelte und erklärte, wenn der Lärm nicht sofort aufhöre, würde er die Polizei rufen. Wir stellten die Musik ab und lachten erst, als er gegangen war.
Koivu hatte auf dem Balkon Laternen angezündet. Die Sommernacht war zwar hell, doch die Kerzen verschönerten mit ihrem Schattenspiel die Betonwände. Die Mauern strahlten Wärme ab, in den Balkonkästen blühten Stiefmütterchen.
»Komm mal mit«, sagte ich zu Antti und zog ihn auf den Balkon. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, erwartete er entweder einen Kuss oder eine Zigarre. Stattdessen zog ich das zerknitterte Pillenrezept aus der Tasche. Ich fühlte mich stark, denn ich wusste, was ich wollte.
»Ich hätte heute die neue Packung anfangen müssen, aber ich mag nicht. Was meinst du, brauchen wir den Wisch noch? «
»Nein«, lächelte Antti und zog mich an sich. Nach einem langen Kuss zerriss ich das Rezept und verbrannte es feierlich in einer Laterne. Einen Monat später war ich schwanger.