Eine Rückkehr oder

Wie lebt’s sich heute unter Eltern?

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In Ostberlin, Stadtteil Prenzlauer Berg, wird jedes Wochenende ein soziales Ritual vollzogen. Männer und Frauen Ende dreißig entern samstags den Kollwitzmarkt. Die Männer tragen Babys vor dem Bauch, oder sie fahren sie in teuren Kinderwagen zwischen den Marktständen umher. Das schon leicht schüttere Haupthaar haben die späten Jungs kunstvoll drapiert. Ihre mitgebrachten Frauen und Freundinnen, gestiefelt und in kurzen bunten Kleidchen, trinken Kaffee und schauen den Kindern zu, wie sie mit ihren Laufrädern den Marktbesuchern über die Füße fahren oder mal probehalber an den Auslagen des Blumenhändlers rütteln. Beschwert sich jemand, setzt’s böse Blicke.

Ob im Münchner Glockenbachviertel oder in Dresden-Neustadt, im Hamburger Schanzenviertel oder in Köln-Ehrenfeld, ob in den Unistädten mit angesagten Altstadtvierteln oder, oh ja, im Prenzlauer Berg – in den Großstädten dieses Landes hat sich eine neue soziale Schicht gebildet. Nennen wir sie die Macchiato- oder Edel-Eltern. Das sind die postbürgerlichen Eroberer deutscher Innenstädte, die urban und extravagant leben, aber nicht auf das verzichten mögen, was sie kennen: kleinstädtische Identität plus den Distinktionsgewinn einer Metropole. Geborgenheit für ihre Kinder wie in der Klippschule bei gleichzeitig maximalen Bildungsangeboten. Eine Elite, die über gute Bildung und ausreichend Geld verfügt und deren Nachwuchs in einem bildungsbürgerlichen Kokon aufwächst. Nirgendwo lässt sich die hemmungslose Selbstgentrifizierung dieser Generation so genau beobachten wie auf den angesagtesten elf Quadratkilometern Deutschlands: im Prenzlauer Berg.

Deutlich sichtbar tritt gerade hier jenes neue gewaltige Missverständnis zutage, dem die urbane Elterngeneration der Edel-Eltern erlegen ist. Das Missverständnis lautet: Das Kind ist unser Lebensinhalt. Es ist uns alles in einem: Glück, Sinn, Statussymbol, Jungbrunnen.

Natürlich ist ein Kind etwas Wunderbares. Von niemandem wird ein Erwachsener so vorbehaltlos geliebt, kein anderer Mensch sieht so über offenbare Schwächen hinweg und schenkt für die bloße Existenz als Mutter oder Vater dermaßen viel Bewunderung. Das ist großartig. Problematisch aber wird es, wenn das Kind herhalten muss für etwas anderes Sinnstiftendes – einen interessanten Job etwa oder die Frage, ob die eigene Beziehung noch trägt. Wenn es zur Ausrede dafür wird, sich beruflichen oder sozialen Konflikten nicht stellen zu müssen oder sich nach wilden Jahren des Ausagierens zurückziehen zu dürfen auf die alten bürgerlichen Werte: Familie, Zugehörigkeit, Bildung.

Ein Kind ist ja nicht nur ein gesellschaftlich akzeptierter Grund, eine Auszeit vom Alltag zu nehmen. Es macht in unserer demografisch gebeutelten Gesellschaft zugleich aus seiner Mutter und seinem Vater sozial höher stehende Edelwesen, die sich ihres privilegierten Status verdammt sicher sein können. Denn – machen wir uns nichts vor – der Habitus, mit dem in den Bionade-Vierteln Eltern mit ihren Tausend-Euro-Kinderwagen die Gehwege entlangpflügen, ist mitunter eine Zumutung. Er postuliert eine »Hoppla, hier komm ich«-Haltung und macht deutlich, dass aus dem Weg zu springen hat, wer sich nicht fortpflanzt.

Gemessen in Lebenszeit ist dies jedoch ein kurzer Triumph. Denn was Außenstehende nicht sehen, ist: Hinter den Türen der Altbauwohnungen, in den Wohnküchen und Parkettkinderzimmern wächst eine Generation heran, die ihre Eltern fest im Griff hat. Es sind Jungen und Mädchen, die schon jetzt ihre Familie dominieren, weil Mama und Papa ihnen den Spitzenplatz in ihrer biografischen Prioritätenliste freigeräumt haben. Diese Kinder haben das selbst nicht so entschieden – dennoch, für sie gilt stets: Me first. So erleben sie es Tag für Tag mit ihren Eltern, die sich ihnen als Personal zur Verfügung stellen. Und so wird es in den Straßen und Cafés, den Arztpraxen und Supermärkten dieser bundesdeutschen Stadtviertel zelebriert.

Es gibt sie tatsächlich, Mütter und Väter, die sich den Urlaub sparen, weil sie meinen, ihrer Charlotte unbedingt die bilinguale Privatschule zahlen zu müssen. Freiberufler, die sich keine Unfallversicherung leisten, weil sich der sechsjährige Jonathan die Reitbeteiligung offenbar so sehr wünscht. Vollzeitmütter, die kein eigenes Leben mehr haben, weil sie wie eine amerikanische Soccer Mom das ihrer Kinder organisieren und optimieren. Jederzeit verfügbar. Heraus kommen Hochdruckkinder, die Mandarin und Schlagzeug lernen und deren Mütter nur noch andere Mütter kennen, die alles dafür tun, dass das Leben ihres Kindes gelingen möge. Weil sie wenigstens das zufrieden machen könnte.

Und was ist mit ihrem Leben? Was mit Arbeit, eigenen Freunden, erwachsenen Interessen, der Beziehung? Warum sind Eltern bereit, für ihren Traum von Elternschaft und Nachkommen alle anderen Pläne fahren zu lassen? Es ist das Politische, das hier ins Private schwappt. Eine Gesellschaft, der die Sinnhaftigkeit von Arbeit verloren gegangen ist, die keine planbaren Biografien mehr kennt und als Ersatz für berufliche Entwicklung sich selbst aufgebende, steuerfinanzierte Elternschaft anbietet, ist tief verunsichert.

Seit der Wende sind 80 Prozent der ursprünglichen Bewohner aus dem Prenzlauer Berg weggezogen. Statt ihrer sind vor allem jene gekommen, die der kleinstädtischen Enge ihres überwiegend westdeutschen Elternhauses entfliehen wollten. Sie haben in den Neunzigern noch ein bisschen Party gemacht und irgendwas mit Medien. Unterwegs ist ihnen – und zwar leider meist den Frauen – der Studienabschluss aus dem Blick geraten, erst recht, als die Kinder kamen. Dann haben sie halt das gemacht: Kinder erziehen. Und sie haben Schulen gegründet, Fahrradstraßen erstritten, Wohnungen gekauft, und schließlich sind sie wieder in die Kirche eingetreten.

Meine Freundin Sibylle kriegt die Krise, wenn sie mir davon erzählt. Von den Buggygeschwadern, deren Wagenlenkerinnen strengen Blicks ihre Seitenstraße runtertrecken. Von den Schwaben im Bioladen, die »Des isch Berlin!« zischen, wenn das Laugengebäck mal wieder ausverkauft ist. Von den späten Müttern, die sichtlich erschöpft mit ihren Töchtern über die Blaumeise im Spielplatzgebüsch reden, als sei Kindheit ein einziges Weiterbildungsprogramm. »Das ist nicht mehr mein Viertel«, stöhnt Sibylle, »hier herrscht Familiendiktatur. Lauter Klugscheißer, die gleich die Polizei rufen, wenn’s nachts mal lauter wird. Typen, die irgendwas mit Medien oder Politik machen, Fantasiemieten zahlen können, mit Ende dreißig ihr einziges Jetzt-wird’s-aber-Zeit-Kind kriegen und dafür sorgen, dass hier inzwischen alles verkehrsberuhigt ist. Und am Sonntagmorgen pilgern sie in die Kirche zum Gottesdienst – als das Kind kam, sind sie halt doch wieder eingetreten. Ehrlich, wären die hier nicht alle so megakreativ angezogen, man könnte meinen, wir wären bei dir auf dem Dorf.«

Ich weiß, was Sibylle meint. Und worunter wir beide leiden: unter Machtverlust und unter allgemeinem Groll. Denn das hier war mal unser Viertel. Wir haben hier einst unsere Kinder geboren, haben sie auf dem noch nicht baubiologisch sanierten Kollwitz-Spielplatz buddeln lassen. Haben die Eröffnung des ersten Bioladens und die Einrichtung der ersten Tempo-30-Zone in der Kollwitzstraße erlebt – dass wir heute beim Überqueren derselben von Radlern mit Kinderanhänger beiseitegeklingelt werden würden, hätten wir uns nie träumen lassen.

Es konnte ja schließlich keiner ahnen, dass diese harmlos wirkenden Zugezogenen hier mal alles übernehmen würden. Die lockeren Männer und Frauen, denen wir vor fünfzehn Jahren mit unseren Kinderkarren entnervt in die Hacken gefahren sind, weil sie, den Kopf im Nacken, die Gehwege blockierten. Viel zu spät kapierten wir, dass die da keineswegs nach dem Wetter Ausschau hielten, sondern schon mal von außen die Fenster jener Wohnungen taxierten, die ihre Eltern ihnen zu kaufen beabsichtigten. Ich guckte mir das damals eine Weile an. Und ich spürte: Das ist nicht mehr meine Gegend, nicht mehr meine Auffassung vom Leben im Prenzlauer Berg, ich bin nicht mehr erwünscht. Ich schnappte Mann und Kinder, drehte von außen den Schlüssel unserer Fünf-Zimmer-Flucht um und verschleppte die ganze Bagage an den Stadtrand. Lieber langweilig im Grünen wohnen als langweilig zu gelten in einer Gegend, wo neuerdings kinderlose Medienfuzzis das Sagen hatten.

Sibylle ist geblieben. Sie hat hier ihre Tochter großgezogen, hat erlebt, wie aus den jungen Neubürgern von einst ungemein coole Kreativpaare wurden, die so mit Ende dreißig eilig ihren Luis oder die Selma gebaren. Und sie sah mit Sorge, wie die Familiendiktatur errichtet wurde. Überall brachen plötzlich pralle Schwangerenbäuche durch die Menge, es eröffneten Kinderklamottendesigner preisungünstige Geschäfte. An den Wochenenden war in den Frühstückscafés kein Durchkommen mehr – riesige Pulks von Neueltern hatten Stühle und Tische zu einer Art Festung zusammengeschoben, die Armada der Vintage- und Designer-Kinderwagen stellte den Befestigungsring dar. Es war ein Schreien und Schnattern, ein Greinen und Plappern, Stillen und Heulen. Und wer einfach nur frühstücken wollte, so wie Sibylle und ich, schien in den Augen dieser Ein-Kind-Eltern einer komplett vorgestrigen Generation von gebärstreikenden Müttern anzugehören und wurde entsprechend ignoriert.

Ich sitze in Sibylles sonnendurchfluteter Küche und lausche den Nöten meiner Freundin. Statt 450 Euro soll sie bald unverschämte 500 Euro zahlen – »25 Prozent Mieterhöhung? Da haben die beim Mieterverein nur höhnisch gelacht.« Und letzte Woche war zwei Stunden lang das Wasser abgestellt, »das ist doch eine Provokation, ein Vorgeschmack auf das, was uns als Mieter hier erwartet«, schimpft sie. Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Wodkaglas und schaut zu mir hinüber ans andere Tischende. »Aber was red ich«, sagt sie und zeichnet mit dem Glasboden kleine Kondenswasserkreise, »du hast ja keine Ahnung, was hier inzwischen läuft. Haste vielleicht ganz richtig gemacht, hier wegzuziehen.«

Zehn Jahre lebe ich nun schon am Stadtrand, die Kinder sind drüber groß geworden, und ich bin inzwischen eine Postmom. Heute jammern die Töchter mir die Ohren voll, in was für eine grüne Einöde ich sie – die gebürtigen Hauptstädterinnen – verschleppt habe. Ich höre ihre Worte und erzähle was von guter Luft und kurzen Wegen. Ich mache das, damit wir uns alle besser fühlen. Denn natürlich fehlt auch mir die Stadt, meine Stadt. Aber ist sie das denn überhaupt noch? Meine Stadt? Mein Prenzlauer Berg?

Jetzt dominiert dort ein risikofreies urbanes Leben in ganz und gar geordneten Verhältnissen. Alle paar Meter ein noch abgefahreneres Geschäft. Cafés, in denen die Friedrichs und Alruns auf winzigen Stühlchen vor lactosefreiem Kakao sitzen. Spielplätze, auf denen Kinder buddeln, die gekleidet sind wie kleine Lords und Ladies auf Studienreise. Häuserlücken, in denen baubiologisch einwandfreie Townhouses und Lofts zum Verkauf stehen. Eine unvorstellbare Volvo-, Saab- und Therapeutendichte, Geburtshäuser, Kitas, Privatschulen, so viel man will … Sibylle hat wohl recht – ich habe keine Ahnung, was dort wirklich läuft.

In vielen verschiedenen Städten tauchen diese Zonen der Macchiatomütter und Edel-Eltern auf, ich erkenne den Entwurf, die ganze Haltung, wenn ich auf Reisen bin. Der Prenzlauer Berg wird nur deshalb als Klischee gehandelt, weil er einfach zuerst da war, so perfekt in dieser neuen Us-first-Haltung. Dieses Milieu will ich mir mal genauer anschauen. Was spielt sich ab in den Parkettwohnungen? Wie wird heute geheiratet, geboren, gelebt in meinem ehemaligen Viertel? Wer hat das Sagen in den Privatschulen? Wer kann sich all die dicken Autos, die Biomarktpreise, Designerkinderschuhe und die Townhouses eigentlich leisten? Und ist auf dem Spielplatz zu hocken nicht immer noch genauso langweilig für die Eltern wie einst?

Ich schalte eine Kleinanzeige. »ACKERN, AUSGEHEN, SCHLAFEN. Journalistin aus dem Berliner Umland sucht für April, Mai und Juni ein Zimmer im Prenzlauer Berg. Gibt es das?«

Das gibt es. Nur wenige Tage später schaue ich mir einen Raum an: hell und freundlich, preiswert und mit eigenem kleinen Bad, vermietet wird er von einer schwäbischen Familie mit spätem Einzelkind. Wir mögen uns von Anfang an, ich muss versprechen, nichts aus dem Zusammenleben mit meinen Mitbewohnern aufzuschreiben – das ist ihre einzige Bedingung. Zwei Wochen später, zehn Jahre nach meiner grimmigen Ausreise, reise ich wieder ein in den Prenzlauer Berg. An einem Aprilsonntag ziehe ich ins Wegwarte-Zimmer. Ich stelle meine Leselampe ans Futonbett, rücke den Schreibtisch an die Wand, räume Kleider und Schuhe in den Schrank. Und dann beginnen sie – meine drei Monate Feldforschung im Macchiatobezirk.