Babyccino im Café Kiezkind oder
Der Milchschaumtraum vom Helmholtzplatz
Die Geschichte geht so: Mutter und Kind laufen durch den Prenzlauer Berg. Es ist Winter, um die null Grad, der Kollwitzplatz liegt verlassen in der Dämmerung, nur wenige Autos kreuzen die Tempo-30-Zone. Die Mutter hält das Kind bei der Hand, sie werden bald zu Hause ankommen. Da, plötzlich, fängt es an zu schneien. Erst sind es nur ein paar zögerliche Flöckchen, die weiß zur Erde trudeln, aber schnell werden es mehr und mehr. Die Mutter zieht ihre Kapuze hoch, sie will jetzt schnell heim. Doch das Kind bleibt stehen. Es legt den Kopf in den Nacken, schaut den dicken tanzenden Flocken zu und sagt beglückt: »Guck mal, Mama. Es regnet Milchschaum!«
Ja, so geht die Geschichte. Sie ist natürlich ein moderner Mythos, eine ironische Verarschung der viel zitierten und gescholtenen Latte-macchiato-Mütter und ihrer Kinder. Und doch steht sie, wie alle guten Witze, für etwas. Denn es gibt sie wirklich, diese Mütter. (Und übrigens auch Väter.) In ihrem natürlichen Umfeld beobachten kann man sie im angesagtesten Eltern-Kind-Café des ganzen Prenzlauer Bergs. Das heißt Kiezkind und liegt auf dem Helmholtzplatz, einem großen Viereck, das von kundigen Stadtplanern begrünt und bebankt wurde. Hier trifft sich tout Prenzlauer Berg. Alles, was über Kinder verfügt, steuert gern das Karree an, und wer keinen Nachwuchs bei sich führt, muss sich verlaufen haben oder Tourist sein.
Aus dem alten Trafohaus, von dem aus einst die Anwohner mit Strom versorgt wurden, wurde vor Jahren das Café Kiezkind. Schon von Weitem sieht man, wer hier Stammgast ist: Vor dem Eingang stehen die schwarzen Boogaboo- und Peg-Perego-Kinderwagen in Reih und Glied; schnittige Lauflernräder im angesagten Tattoo-Design der Saison wurden vor der Tür von ihren kindlichen Besitzern achtlos in den Staub geworfen. Die Edelstahlspeichen der 150-Euro-Bikes kontrastieren sehr schön mit den handbestickten Ledersätteln.
Drinnen ist die Luft zum Schneiden. Eine olfaktorische Mischung aus vollen Windeln, Biowienern und Chai latte schlägt dem Gast entgegen. Dies hier ist ganz klar der Kantinenduft der Ökoelterngeneration. Rechts neben dem Eingang findet sich ein Buddelkasten, dessen Sand von kleinen Baumeistern bereits großflächig durch den gesamten Raum verteilt wurde und von anderen Ein-Meter-Buddlern gerade mit Schippen weiter über den Rand verklappt wird. Gott sei Dank ist der Sandkasten beheizt, das garantiert auch die gleichmäßige Erwärmung der Windelinhalte und sorgt für noch mehr Aroma auf achtzig Quadratmetern.
Neben dem Buddelkasten stehen die Erziehungsberechtigten, sie tragen Outdoorjacken oder Boutiquenmäntel, ratschen miteinander in allen Sprachen und Idiomen Deutschlands und der Welt und nippen an ihrem Bio-Smoothie, während der kleine Malte der süßen Luise gerade die Plastikschippe über den Schädel zieht. Flatsch!
Ein großes, ein großartiges Gebrüll setzt nun ein. Ein Tosen und Kreischen, nur sehr mühsam zu unterbrechen durch die zuständigen Mütter, die nun doch mal ihre Smoothies beiseitestellen und sich dem Konfliktherd zu ihren Füßen nähern. »Come on, give it to her«, bittet die Malte-Mutter ihren Sohn und versucht ihm die Schippe zu entwinden. Der Sound steigert sich noch um ein paar Dezibel. Selbst wenn Malte die Schippe loslassen würde, würde das Luise nicht von ihrem Schreitremor erlösen. Es ist ein sensationeller Wut- und Erschöpfungsschrei, wie ihn nur Kleinkinder auszustoßen in der Lage sind, die einen langen Kitatag hinter sich haben und im Grunde nur darauf gewartet haben, dass ihnen irgendeine Ungerechtigkeit widerfährt. Maltes und Luises Mütter können im Grunde jetzt nur noch eins tun: sich ihre Kinder unter die Arme klemmen und das Etablissement verlassen. Und genau das tun sie auch.
Zurück bleiben zwei halbleere Smoothie-Fläschchen und der Baby latte von Luise. Das schöne Heißgetränk, eine jener irren Erfindungen des urbanen Familiengastrobereichs, wird nun leider kalt. Baby latte – manchmal heißt er auch Babyccino – ist nicht nur warme geschäumte Milch, die hier für 50 Cent zu haben ist und möglicherweise tatsächlich Kinder glauben macht, Milchschaum könne an kühlen Winterabenden vom Himmel herabschneien. Nein, Baby latte ist mehr. Nämlich der Ausdruck dafür, dass sich hier in dieser Gegend die Bedürfnisse von Eltern und Kindern auf unheimliche Weise sogar kulinarisch annähern.
Weil die Erwachsenen tagein, tagaus Kaffee mit Milchschaum trinken, war es irgendwann unausweichlich, dass auch die kleinen Urbaniten, die bestversorgten Ein-Meter-Trolle, ihr eigenes Trendgetränk bekommen. Zugleich wird durch den Babyccino auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht, dass die kleine Luise nicht nur das Kind einer Macchiatomutter ist. Nein, sie ist so eine Art beste, zugegeben etwas klein geratene Freundin, mit der man das gute Leben teilen möchte. Selbstredend ist hier im Café Kiezkind für den vollendeten Fake gesorgt: Gegen 30 Cent Aufpreis kann der Baby latte auch mit Caro-Kaffee bestellt werden, damit Luises Glas dem von Mama zum Verwechseln ähnlich sieht – nur eben kleiner und natürlich ohne schädliches Koffein.
Der Tag ist nicht mehr fern, an dem in einem Elternbezirk irgendwo in Deutschland das erste Lokal eröffnet, dessen Spezialitäten Gerichte wie Zwieback-Bananen-Brei, passierte Pastinake und angewärmtes Mangomark sind. Die köstlichen Pampen werden dann auf farbenfrohen Plastiktellern aus Recyclingmaterial serviert, dazu gibt’s Demeter-Karottensaft oder Fenchel-Apfel-Tee oder gleich eine Kanne Stilltee. Alle Gäste müssen auf Triptrap-Stühlen sitzen, und wenn sie aufgegessen und ihren Baby latte ausgetrunken haben, dürfen sie die handgewebten Lätzchen abnehmen, und dann aber ab in die Spielecke, wo sie mit Holzklötzchen aus geöltem Olivenholz ihr gerade anfinanziertes Townhouse nachbauen. Es wird eine gleiche und gerechte Eltern-Kind-Partnerschaft geben, in der alle das Gleiche essen und trinken und so am Ende sogar das Gleiche scheißen.
Im Café Kiezkind ist es heute aber noch nicht ganz so weit. Noch sitzen die Eltern auf den Hockern und Bänken, während ihr Nachwuchs mit kurzen Armen versucht, auf eines der umherstehenden räudigen und halb kaputten Schaukelpferde zu klettern. Noch finden sie sich hier zusammen und blättern in der aktuellen Neon oder in Nido, der Zeitschrift für hedonistische Eltern, reden über die Avocados, die im LPG-Markt diese Woche im Angebot sind, und den süßen Zivi, der gerade in der Kita angefangen hat. Ab und zu verschwindet eine Mutter oder ein Vater im Windelraum, um den Dienst am Hintern zu versehen. Und draußen vor der Tür, direkt hinter dem kleinen Zäunchen – aber so, dass ihre Kinder sie nicht sehen können –, stehen ein paar Väter und rauchen gesundheitsschädlichen Biotabak. Drinnen schäumt die Maschine unentwegt weitere Baby latte auf, Bionade-Flaschen werden entkorkt, Ovomaltine, Mangolassi und Kirschmolke fließen in die Gläser. Hier wird nur Gesundes konsumiert, aus den Kindern soll ja mal was werden, und die Gefahren von außen sind groß.
Eine dieser Gefahren zum Beispiel steht gut sichtbar nur wenige Meter vom Café entfernt. Es sind die örtlichen Alkoholiker, die in der Mitte des Platzes seit Jahrzehnten ihren Treffpunkt haben. Wahrlich kein beruhigender Anblick: Männer mit roten, schiefen Gesichtern, gekleidet in karierte Fleecejacken, in den Händen halten sie Hundeleinen und Bierflaschen. Wenn Hasso nicht macht, was er soll, wird aus zahnlosen Mündern »Platz!« gebrüllt. Dann legt sich der Köter wieder nieder und schaut zu, wie neben seiner Schnauze die Kronkorken übers Pflaster klingeln und Kippen ausgetreten werden.
Solche Männer gab es hier schon immer. Trinker. War schließlich mal ein Arbeiterbezirk, wo in den Eckkneipen schon mittags die Kohlenfahrer saßen und ihr 51-Pfennig-Bier gezischt haben. Aber jetzt stören sie. Jetzt stören sie die neue Ordnung auf dem Helmholtzplatz und ganz besonders die der Anwohner mit den teuren Kinderwagen. Schon gab es Anträge an die Bezirksverordnetenversammlung, das Trinken auf dem Helmholtzplatz zu verbieten. Einige besonders engagierte Eltern baten zusätzlich darum, das Ordnungsamt möge auch die Raucher zur Kasse bitten. Also natürlich nur die bösen Raucher. Wenn die Edel-Eltern hier mal ein mexikanisches Corona köpfen und dazu eine ganz korrekte American Spirit rauchen, ist das natürlich was anderes. Nämlich Genuss und Ankurbeln der Volkswirtschaft. Gott sei Dank haben die Puritaner kein Gehör gefunden. Denn derlei Gedanken sind ja ausbaufähig. Gut möglich, dass am Helmholtzplatz demnächst Leute ohne Kinder Begrüßungsgeld zahlen müssen. Dann wär’s hier echt wieder wie ganz früher.