Es
gibt keine Kevins mehr oder
Die Kinderärztin
Mittagspause in der Praxis. Die Kinderärztin zeigt mir die frisch renovierten Behandlungszimmer. Durch eine ausgeklügelte Raumaufteilung ist es jetzt möglich, zwischen den Räumen zu pendeln, ohne jedes Mal durchs Wartezimmer zu müssen, wo die ungeduldigen Eltern mit den kranken Kindern warten. Eine Stunde Zeit hat sie für unser Gespräch. Dann los!
Ich habe jetzt genau zwanzig Jahre meine Kinderarztpraxis hier in Prenzlauer Berg. Ihre Tochter war ja auch mal meine Patientin, ich kann mich aber ehrlich gesagt nicht erinnern. Wenn ich Sie hier vor mir sitzen sehe, denke ich an ein kleines Mädchen, das ein bisschen zu dünn war und überhaupt nicht gern zum Arzt ging, nicht wahr? Ja, meine Schreibtischschublade mit den Belohnungs-Gummibärchen ist immer noch dieselbe: hier, die zweite von oben.
Wie es mir geht, fragen Sie. Naja, ich habe gut zu tun. Meine Praxis ist jeden Tag von acht bis zwölf geöffnet, außerdem zweimal pro Woche von vierzehn bis achtzehn Uhr. Das klingt ganz gemütlich, ist es aber nicht, weil ich zusätzlich noch alle möglichen Briefe und Anträge für die Patienten schreibe. Also Kuranträge, Gutachten für den Psychologen, Bescheinigungen, so etwas, das mache ich alles zusätzlich zur Sprechstunde, das zahlen die Kassen ja nicht. Auch nicht, dass ich hier jede Menge Lebensberatung gebe für all die Eltern, die nach Struktur suchen, nach Hilfe, weil ihre Kinder nicht schlafen, weil Kinderhaben wirklich anstrengend ist und sie das logischerweise manchmal fix und fertig macht.
Was ich hier sehe, sind die riesigen Erwartungen, die die Eltern an ihre Kinder haben. Sie freuen sich auf das Baby, und dann kommt es auf die Welt und sie können nicht schlafen. Das ist schlimm, ich weiß. Aber die Mütter und Väter setzen sich ihren Kindern gegenüber auch nicht durch. Sie wollen weiter was erleben und auf nichts verzichten. Und damit das Kind ruhig bleibt, lassen sie zum Beispiel zu, dass es andauernd den Nuckel drin hat. Das ist ja eine Möglichkeit, ein Kind ruhig zu kriegen – aber am Tage, wenn es wach ist, sollte man den weglassen. Allerspätestens, wenn das Kind läuft, gehört der Nuckel tagsüber weg.
Viele denken auch, sie müssten endlos stillen. Ich finde, zwölf Monate wären das höchste der Gefühle, aber ich sehe hier Stillkinder, die sind drei, vier Jahre alt und kriegen davon eine Vorderzahnkaries. Auch weil ihnen ständig etwas zu trinken angeboten, immer etwas in den Mund gesteckt wird. Die Eltern haben diese Wasserflaschen dabei und fragen mich dann besorgt, warum das Kind so viel trinkt, ob es vielleicht einen Diabetes hat. Dabei ist das nur eine schlechte Angewohnheit, die man einfach abstellen muss.
Als modernes Allheilmittel gilt hier im Bezirk die Ergotherapie. Das ist eine zeitgemäße, kassenfinanzierte Möglichkeit, sich und das Kind zu beschäftigen. Es ist ja ein allgemeines Hin- und Herschaffen zu beobachten: zum Arzt, zum Ergo, zum Logopäden, zum Babyyoga, zu irgendeiner Art von Förderung. Da wartet dann jemand anderes, der was mit dem Kind macht. Die Mütter sitzen schon ab morgens im Café oder auf dem Spielplatz, ich sehe das ja. Da unterhalten sich eher die Frauen untereinander, als dass sie mit ihren Kindern spielen. Und die Kinder wissen auch gar nicht mehr, wie man spielt. Sehen Sie hier noch jemanden Hopse spielen? Oder Fangen? Die Kinder sind symbiotisch mit ihren Müttern, die stellen so was wie die besten kleinen Freunde der Frauen dar. Es wird auch viel zu viel erklärt, ständig reden die Eltern auf die Kinder ein und begründen ihr Tun. Das tut den Kindern nicht gut, die brauchen Entscheidungen und Struktur, daran können sie wachsen.
Hier wohnen inzwischen kaum noch sozial Schwache, für eine Ärztin wie mich ist das eine richtig gute Klientel: Alle haben Geld. Ich denke ja manchmal, die Leute meinen, wir hätten in Ostberlin noch so eine Art halben Sozialismus. Gesundheit darf nichts kosten. Und wenn die Leute doch für etwas zu zahlen bereit sind, dann ist das meist Homöopathie oder es sind Sachen, die ihnen die Apotheker eingeflüstert haben: Das wirkt Wunder, sagen die, und das können Sie sich auch ganz einfach von Ihrer Kinderärztin nachrezeptieren lassen. Gestern war hier eine Mutter, die hatte sich Läusemittel aufschwatzen lassen, 350 Milliliter für 75 Euro. Ich hab ihr das Rezept geschrieben, ich hab bei so etwas einfach nicht die Kraft zu widersprechen. Aber wenn ich bedenke, dass ich pro Patient ungefähr 35 Euro von den Kassen bekomme, ist das natürlich ein Hammer.
Ich schicke selten jemanden weg. Wenn die Eltern hier ankommen mit ihren kranken Kindern und sagen: Frau Doktor, Sie wurden uns empfohlen, Sie sollen so eine tolle Kinderärztin sein, dann lächle ich. Aber eigentlich möchte ich das nicht hören. Die Leute können wirklich nicht einschätzen, ob ich gut bin als Medizinerin. Sie können mich mögen oder so, das ist schön, aber das andere wissen sie einfach nicht.
Es gibt eine Mutter, die hat gewechselt, weil sie sehr unzufrieden mit mir war – und ehrlich gesagt auch ein bisschen dämlich, wie ich finde. Dabei habe ich ihrem Kind das Leben gerettet. Morgens war sie hier, da hatte das Kind seit zwei Tagen Fieber. Ich habe sie nach Hause geschickt, und wir haben verabredet, dass ich sie mittags anrufe, um mal zu hören, wie es dem Kind geht. Da war auch noch alles okay so weit. Aber irgendwas hat mir nicht gefallen, irgendwas stimmte nicht. Deshalb habe ich gesagt, wir telefonieren noch mal nachmittags. Aber da war die ganze Zeit besetzt, also bin ich nach Praxisschluss bei ihr zu Hause vorbeigefahren, ist ja gleich hier ums Eck. Sie war erstaunt, dass ich vor der Tür stehe und hat gesagt, es ist alles in Ordnung mit ihrer Tochter. Na, habe ich gesagt, wenn ich schon mal hier bin, will ich sie mir auch schnell noch mal ansehen. Und da hatte die Kleine schon diesen abgewandten Blick und fing an zu krampfen. Ich habe sofort in der Klinik angerufen und alles für einen akuten Meningitis-Fall vorbereiten lassen.
Die Frau hat danach zu einem anderen Kinderarzt gewechselt. Sie war der Meinung, die Hirnhautentzündung hätte ich schon morgens in der Praxis diagnostizieren müssen. So etwas geht mir nach, wissen Sie. Ich brauche Anerkennung, und ich spüre den Druck, der auf mir lastet. In so einer Einzelpraxis sind Sie allein mit Ihren Entscheidungen, die müssen Sie oft sehr schnell treffen. Teilweise fühle ich mich mit alldem überfordert und einsam, ich leide mittlerweile auch unter Schlafstörungen.
Witzigerweise verbindet mich genau dieses Thema mit vielen Eltern. Sie kommen her, weil sie nicht schlafen können. Weil ihre Kinder nicht einschlafen, nicht durchschlafen, weil sie jemanden brauchen, der ihnen mit ihrem neuen Baby Struktur gibt. Die Eltern haben allerdings Ansprüche, die nicht zusammengehen: Sie wollen ein Kind, das früh einschläft und spät wieder aufwacht, damit sie dazwischen viel Zeit für sich haben. So hat das die Natur aber nun mal nicht eingerichtet. Ich erkenne den Lebensrhythmus meiner Patienten zum Beispiel an den Autos hier in der Straße. Wenn ich um halb acht Uhr morgens herkomme, finde ich schwer einen Parkplatz; aber so gegen neun fahren die Leute doch mal los zur Arbeit, dann wird endlich was frei.
Die Eltern, die heute hier leben, lesen sich unheimlich viel an. Bevor sie zu mir kommen, wissen sie immer schon alles. Ich verstehe das, es ist ja ein Zeichen der Unsicherheit, die sie spüren. Wem sollen sie vertrauen: der Schulmedizin, der Naturheilkunde, der Hebamme? Das Kind ist ja das Kostbarste, was sie haben. Neulich war eine Frau zur U2 hier, der Kinderuntersuchung nach der ersten Lebenswoche. Das Baby hatte ein Nabelgranulom, eine Gewebswucherung am Nabel. Na, sage ich zu der Mutter, das ätzen wir weg, ich geb Ihnen einen Ätzstift mit. Danach kam sie nicht wieder. Heute habe ich angerufen, ich brauche ja den Stift zurück. Ja, sagt die Mutter, Stift kommt morgen, Kind wurde von der Hebamme mit Kochsalz behandelt. Wenn die Frau morgen herkommt, werde ich das ihr gegenüber nicht als Problem darstellen. Mit so was halte ich mich inzwischen zurück.
Alles soll ja »natürlich« sein, was man dem Kind verabreicht. Aber wenn es hustet und hustet, will man doch ein wirksames Mittel. Die Kinder heute sind nicht kranker als vor zehn oder zwanzig Jahren. Was aber immer weiter zunimmt, sind Hautprobleme. Klar, Sauberkeit und Chemie sind was Wunderbares, aber die Kinder entwickeln dadurch kaum noch Resistenzen. Naja, und die Läuse. Das ist halt normal in einer Großstadt, wo so viele Menschen eng beieinanderwohnen.
Als ich vor zwanzig Jahren meine Praxis eröffnet habe, bin ich extra in den Prenzlauer Berg gegangen. Ich hätte ja auch, nur mal zum Beispiel, in den Wedding gehen können. Aber das wollte ich nicht: Das wäre ja im Westen gewesen, und den kannte ich da einfach nicht. Also hier. Dann kamen die ersten Westeltern mit ihren Kindern, und ich stellte fest: Die sind ja richtig nett. Aber auch deutlich komplizierter. Was denen so ein bisschen abgeht, ist, sich auch mal Gedanken um andere zu machen. Die haben geerbt, haben also Geld oder eine schöne Eigentumswohnung, brauchen nicht so viel zu arbeiten und haben Zeit, sich ganz gründlich ihrer Elternschaft zu widmen. Das ist manchmal wirklich anstrengend.
Sozial Schwache sehe ich eigentlich kaum noch. Das finde ich schade. Es gibt hier keinen Kevin mehr, keinen Maik, dafür ganz viele Nepomuks und Lottas. Die Gesellschaft spaltet sich in Bildungsferne und Bildungsnahe. Das ärgert mich sehr. Ich habe darüber nachgedacht, wie man solche einseitigen Strukturen aufbrechen könnte und stelle mir vor, Berlin würde alle Schulen in den Problembezirken schließen – da gäb’s dann einfach keine mehr. Und die Kinder würden stattdessen in die sogenannten besseren Bezirke zur Schule gebracht. Vom Wedding in den Prenzlauer Berg, von Neukölln nach Steglitz und so weiter. Zwei bis vier ärmere Kinder in jede Klasse – das würde allen guttun und gäbe sicher keinen Aufschrei. Mächtigen Protest gäbe es aber ganz sicher, wenn die Sache andersrum laufen würde, wenn die Prenzlauer Berger Kinder in den Wedding müssten. Aber einen Versuch wäre es wert. Finden Sie nicht?
Die Stunde ist um. Vor der Tür des Behandlungszimmers hört man die Sprechstundenhilfe werkeln. Sie ist aus der Mittagspause zurück, jeden Moment kommen die ersten Patienten der Nachmittagssprechstunde. Die Kinderärztin verabschiedet mich, jetzt geht’s weiter.