Stefan hat jetzt einen Extrajob. Außer dass er seit zwei Monaten mit dem kleinen Kyril zu Hause ist und zuverlässig sämtliche Aufgaben erfüllt, die damit verbunden sind, macht er sich zusätzlich immer wieder auf den Weg, um dem Jungen einen Kitaplatz zu besorgen. Sechs Monate ist Kyril jetzt alt, und nur sechs Monate hat Stefan noch, um diese lebenswichtige Angelegenheit zu regeln.
Denn lebenswichtig ist sie in der Tat. Für Stefan, für seine Frau Ute und natürlich für Kyril. Schon jetzt ist der Kleine so munter und kregel, dass Stefan seine liebe Not hat, ihn befriedigend zu beschäftigen. Und er möchte gar nicht wissen, wie das erst in einem halben Jahr aussieht. So wie Kyril heute über die Bodendielen der Prenzlauer-Berg-Wohnung robbt, wird er in wenigen Monaten womöglich bereits seine erste Playmo-Burg bauen wollen. Ganz klar: Dieses Kind braucht jede Menge Ansprache und Beschäftigung, schon allein damit es von all den gebotenen frühkindlichen Eindrücken auch mal in einen elternentlastenden Erschöpfungsschlaf fällt.
Stefan ist nun also unterwegs und schaut sich Kitas an. Drei, vier Besuche pro Woche, drei, vier telefonische Nachfragen erledigen – das ist ihm mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden. Von einer lieben Gewohnheit zu sprechen, wäre stark übertrieben. Denn es ist doch so, dass da ein Mann durch die Gegend zieht und sein Superkind feilbieten muss wie Sauerbier. Bitte, bitte, nehmt es doch! Gut fühlt sich das nicht an.
Um die achtzig Kitas gibt es im Prenzlauer Berg. Eine Menge davon fallen gleich mal aus: religiös ausgerichtete, zweisprachige, waldorfpädagogische – Kyril soll einfach stinknormal betreut werden, finden Stefan und Ute. Auch Elterninitiativen, also solche, in denen die Eltern einmal pro Woche Mittagessen kochen oder die Zwergenklos putzen und sich außerdem andauernd mit den anderen Müttern und Vätern besprechen müssen, haben sie von der Liste gestrichen. Bleiben immer noch sechzig Einrichtungen, in denen Stefan vorstellig wurde und wird. In zwanzig hat er Kyril jetzt einfach mal angemeldet – »irgendwie klappt’s ja dann doch meistens«, sagt er. Richtig fest klingt seine Stimme dabei nicht.
Die Gespräche in den Kitas nennt Stefan Eltern-Casting. In der Regel vollzieht sich das so, dass er irgendwann vormittags mit Kyril in der Kita erscheint. Sie werden herumgeführt, ihnen wird alles erklärt: hier die Küche, da das Spielzimmer, dies der Bastelraum und dort unser großer Garten. Stefan, der Kyril für derlei Besuche immer besonders hübsch anzieht, nickt zu allem und kann sich sehr gut vorstellen, hier jeden Morgen seinen Sohn in liebevolle Hände abzugeben. Aber dann, als es ans Eingemachte geht, erfährt er, dass da noch dreißig Kinder vor Kyril auf der Warteliste stehen. Was soll’s, er ist nicht in der Position, sich darüber hörbar aufzuregen, gar zu mosern, dass er sich in diesem Fall den Weg hierher ins Kinderparadies hätte sparen können. Nein, er füllt brav die Anmeldung aus und speichert die Telefonnummer in seinem Handy ab, um von nun an alle vier Wochen anrufen und nachfragen zu können.
So wie Stefan machen das natürlich alle, hier im kinderreichen Prenzlauer Berg und in der ganzen Republik. Auf diese Weise verstopfen sich Eltern gegenseitig diese verdammten Anmeldelisten, und alle hoffen dann darauf, dass der Zufallsgenerator ihrem Kind das begehrte Plätzchen zulost, weil die anderen irgendwo einen besseren ergattert haben. Ein würdeloser Zustand. Aber dies hier ist der Bezirk mit Berlins höchster Geburtenrate sowie einer üppigen Zuzugsrate. Achthundert Kitaplätze fehlen. Das klingt nicht viel für einen Kiez, in dem hundertfünfzigtausend Menschen leben.
Dennoch, jede dieser Kita-Odysseen ins Ungewisse ist nervtötend, demütigend und peinigend für die Bedürftigen. In einer derart angespannten Angebot/Nachfrage-Situation geht es schließlich nur noch um das Ob und schon lange nicht mehr um das Wie. Theoretisch könnten also die Kita-Erzieherinnen die Kinder den ganzen Tag in einen lichtlosen Keller sperren – die Eltern müssten trotzdem froh sein, dass sich überhaupt jemand kümmert. Gott sei Dank ist es ja nicht so, aber tatsächlich liegt hier von Anfang an eine ungleichberechtigte Situation vor, in der sich Mütter und Väter dreimal überlegen sollten, ob sie tatsächlich über das aufgewärmte Großküchenessen mosern sollten, wenn sie hier einen Platz ergattern wollen.
Das war mal anders. Als Mitte der Neunzigerjahre meine Tochter einen Kitaplatz brauchte, ging ich zur zentralen Vergabestelle ins Bezirksamt und bekam dort Plätze in drei verschiedenen Kitas angeboten. Der Kindsvater und ich schauten uns alle an und entschieden uns schließlich für jene, die uns besonders gut gefiel. Das klingt wie eine familienpolitische Utopie, ist aber die reine Wahrheit und sollte – wie ich finde – das Standardangebot sein für Familien. Zugegeben, in den Neunzigern war dieser Bezirk kinderverarmt. Die Ostlerinnen waren aufgrund des Wendeschocks in den Gebärstreik getreten, und die Westlerinnen, die bereits hier eingetrudelt waren, machten erst mal Party und glotzten Kinderwagenfrauen wie mich irritiert an. Krass, die hat ’n Kind!, dachten sie wohl und bestellten sich auf den Schreck noch einen Milchkaffee.
Ja, krass. Das denke ich auch, wenn ich mir anhöre, was Stefan von seinen Vorstellungsrunden erzählt. Neulich zum Beispiel war er mit Kyril in einer Kita, die ihm gut gefiel: gelegen in einer ruhigen Seitenstraße, großer Garten, klares pädagogisches Konzept, außerdem auch zwei männliche Erzieher. Als er der Chefin gegenüber reges Interesse bekundete und nach den Anmeldebögen fragte, bremste sie seine Euphorie mit der Frage: »Gibt’s denn etwas, was Sie für die Kita tun können?« Stefan verstand erst nicht recht. Was meinte die Frau, wollte die etwa Geld von ihm? Nein, die wollte ihn. Irgendeine nützliche Eigenschaft, Fähigkeit oder Verbindung musste dieser interessierte Vater doch haben.
Auf der Skala der schlimmen Momente im Kinderverwahr-Business war dies für Stefan der allerschlimmste. Denn was war er denn schon? Ein fünfunddreißig Jahre alter Politikwissenschaftler, ohne festen Job, dafür mit Kind. Kein zupackender Papa, der bei einer Rollrasenfirma arbeitet und ganz unkompliziert den von hundert Kinderfüßchen zerlatschten Rasen flicken könnte. Auch kein Ingenieur oder Elektriker, der bei kleinen Problemen schnell mal die Kita-Spülmaschine reparieren würde. Nicht mal Journalist war er, dann hätte er wenigstens ab und zu mal einen Karton Kopierpapier rüberreichen können. In seiner stillen Verzweiflung bekam Stefan gerade noch raus, dass er trotz Promotion in der Lage sei, eine Bohrmaschine zu bedienen. Dann packte er Kyril und trollte sich.
Natürlich gäbe es eine Lösung für all die suchenden Eltern, zumindest eine logistische. Nämlich die zentrale Erfassung und Vergabe der Kitaplätze. Aber das wäre ja fast Sozialismus und deshalb inakzeptabel. Nein, nein, so etwas Wichtiges wie Kinderunterbringung wird extra kompliziert gemacht und dann so beibehalten. Das bietet den Eltern, den Kitas und der Verwaltung vielfältige Möglichkeiten, sich organisatorisch auszuagieren, schon vor der Geburt. Längst ist es Usus, dass Frauen, in deren Gebärmutterschleimhaut sich gerade erst eine befruchtete Eizelle zu teilen beginnt, die Möglichkeit wahrnehmen, Kita-Castings zu besuchen. Sie wissen noch nicht, ob die Schwangerschaft ein glückliches Ende nimmt – aber sie sollen bereit sein, ihre Rolle als Organisationstalent von Beginn an unter Beweis zu stellen.
Auch Stefan bleibt natürlich dran. Kyril und er haben noch sechs Monate Zeit. Kann sein, sie kriegen etwas. Kann aber auch sein, dass nicht. Dann wird Stefan eine arbeitsamtfinanzierte Handwerkerausbildung anstreben. Wer braucht schließlich Politologen? Er will lieber Zwergenklos reparieren lernen und Wippen gangbar machen. Vielleicht klappt’s dann ja auch für Kyril.