2. KAPITEL

Von der Art des Schweigens her zu urteilen, das von allumfassend zu grabesgleich übergegangen war, hatte Eisenbeißer seine gute Laune, wie auch immer die aussehen mochte, noch nicht zurückerlangt. Die Mitarbeiter, die sonst an den Schreibtischen in seinem Blickfeld saßen, schienen sich eine lange Mittagspause zu gönnen. Kaylins Magen hätte sich ihnen wirklich gerne angeschlossen. Entweder das, oder er wäre das Frühstück, das sie nicht gegessen hatte, gerne losgeworden. Sie konnte sich nicht entscheiden.

Severn. Hier. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, was etwas unglücklich war, wenn man bedachte, dass sie in einer von ihnen etwas mit scharfen Kanten hielt. Wenn es auch keine Jahre her war, seit sie das letzte Mal jemanden wirklich gerne hatte umbringen wollen – und seien wir ehrlich, sie war kein Engel, – es war Jahre her, seit sie es das letzte Mal versucht hatte. Ihr Timing war, wie immer, tadellos.

Marcus sah von seinem Papierkram auf. Sie fragte sich, welches arme Opfer ihm die Arbeit gebracht hatte. Sie beneidete es nicht.

“Und?”, knurrte er.

Sie zuckte mit den Schultern. Das war nicht ungefährlich, wenn man seine Laune bedachte – aber sie hatte selber ihre Launen. “Wir brauchen ein sicheres Zimmer”, sagte sie ihm und fuchtelte mit dem Kristall, den sie immer noch fest umklammert hielt.

Er hob seine Augenbrauen, oder vielmehr das Fell über seinen Augen. Als seine Stirn sich wieder geglättet hatte, sah er genervt aus. Also nichts Neues. “Westzimmer”, sagte er knapp. “Und die zwei?”

“Frag den Falkenlord.”

Seine Lippen legten gefletschte Zähne frei, und sie beschloss, dass seine Laune wohl doch schlechter war als ihre. “Severn”, sagte sie knapp. “Ehemals von den Wölfen.”

“Hier?”

“Ich sagte ehemals.”

“Und der andere?”

“Tiamaris. Er ist ein …”

Das leise Knurren wurde tiefer. Der Leontiner glitt um seinen Schreibtisch herum. Der Papierkram blieb liegen.

Tiamaris ließ sich nichts anmerken. Er stand so selbstbewusst da, dass Kaylin sich fragte, ob ihn überhaupt irgendwas je aus der Ruhe brachte.

“Kastenname?”, fragte der Leontiner.

“Das geht Euch nichts an, Hauptmann Kassan”, antwortete Tiamaris. Seine Stimme verriet keine Gemütsregung. Kaylin war beeindruckt. Nicht davon, dass er Marcus’ Rang kannte – den konnte jeder an der Uniform ablesen – sondern, dass er seinen Rudelnamen kannte.

Marcus kam näher und schien dabei immer größer zu werden – zumindest sein Fell tat das. Es war die Art der Leontiner, wenn sie sich bedroht fühlten. Das geschah normalerweise nur in der Gegenwart seiner Frauen oder seiner Jungen.

Severn setzte sich auf einen leeren Schreibtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste erwartungsvoll. Kaylin hätte sich fast dazugesellt. Fast.

Aber sie wollte nicht dort sein, wo er war, das hatte sie vor langer Zeit beschlossen. Und hier würde sie nicht darüber nachdenken, denn wenn Marcus wie durch ein Wunder doch nicht wild wurde, dann wurde sie es vielleicht, und sie wollte nicht schuld daran sein, wenn es im Büro Tote gab. Nicht, nachdem der Falkenlord ihr klargemacht hatte, welcher Preis für so einen Tod zu bezahlen war.

“Tiamaris, sagt Ihr?” Manchmal konnte man Marcus’ Knurren fast mit einem Schnurren verwechseln. Kaylin versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sie merkte, dass Eisenbeißer tatsächlich Barrani sprach. Es war die Amtssprache aller Lords der Gesetze, und weil er gegen fast alle amtlichen Angelegenheiten allergisch war, benutzte er sie so gut wie nie.

Tiamaris hob eine dunkle Augenbraue. Sie waren fast gleich groß. Marcus kam immer näher. Tiamaris tat weiter so, als wäre er eine Statue. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zusehends.

Männer. “Eigentlich, Marcus, habe ich es gesagt.” Kaylin hob den Kristall, als wäre er ein kaiserlicher Erlass.

Zu ihrer Überraschung drehte sich Marcus tatsächlich um und sah sie an. Aber auch wenn sein Blick auf den Kristall in ihrer Hand gerichtet war, galten seine Worte Tiamaris. “Das ist mein Büro”, sagte er ruhig, jedes Wort durchzogen mit dem vollen Knurren eines Leontiners im besten Alter. “Das sind meine Falken. Wenn Ihr … beschlossen habt, hier zu arbeiten, akzeptiert Ihr das.”

“Ich habe mich entschieden, dem Lord der Falken zu Diensten zu sein”, war die neutrale Antwort. Auch die in Barrani. Kaylin fiel auf, dass Tiamaris noch keine andere Sprache gesprochen hatte, seit er in den Turm gekommen war.

Kaylin versuchte es noch einmal. “Wir brauchen Ausrüstung”, fing sie an. “Und der Falkenlord –”

“Er hat es mir gesagt.” Er wendete sich wieder an Tiamaris. “Wir sind noch nicht fertig”, sagte er ruhig.

“Nein”, stimmte Tiamaris in einem freundlichen Tonfall zu, der das Gegenteil bedeutete. “Wir haben gerade erst angefangen. Hauptmann?”

“Nehmt das Westzimmer”, antwortete er und kniff die Augen langsam zusammen. Kaylin wusste, dass Tiamaris so gut wie tot war. Oder er wäre es, wenn er kein Drache gewesen wäre. “Kaylin, zeig ihnen den Weg.”

Sie atmete tief durch. Stellte sich vor, ihnen allen zu sagen, dass sie nicht ihr Babysitter war. Überlegte es sich eine Sekunde, ehe sie den Mund öffnete, um die Wörter hinauszulassen, anders. “Klar.” Sie salutierte schlampig, mit der Handfläche nach außen, aber nicht gestreckt. Außerdem, merkte sie, als Eisenbeißer sie anstarrte, mit der falschen Hand.

“Ihr zwei, hinterher.”

“Alles, was du sagst”, sagte Severn zu ihr und glitt vom Schreibtisch. “Führe uns, Kaylin.”

Das Westzimmer war einer von vier gleichen Räumen, und alle waren genauso poetisch getauft. Die Leontiner hatten es nicht so mit fantasievollen Namen. Soweit Kaylin es beurteilen konnte, übersetzte sich das leontinische Wort für “Nahrung” als “Leiche.” In kulinarischen Gesprächen musste man sich anpassen.

Als Marcus seinen Posten übernommen hatte, waren die sicheren Räume – wie alle Räume in den verwirrenden Hallen der Gesetze, die der Falkenlord regierte – nach aufrechten Bürgern benannt gewesen, nach Menschen mit einer Menge Geld oder nach entfernten Verwandten des gegenwärtigen Kaisers. Marcus hatte in jede Ecke des Falkenbereichs gepinkelt, die er finden konnte, und nachdem er damit fertig gewesen war, hatte er noch einige Dinge geradegerückt. Angefangen bei den Namen.

Wie dem auch sei, “West” war immer noch besser als irgendein Name mit sieben Silben, den sie ohne Wörterbuch nicht aussprechen konnte. Wenn er jetzt noch etwas gegen die blöden Schutzzauber an den Türen unternehmen würde …

Ehe sie die Tür berührte, wendete sie sich an Tiamaris. “Bring ihn nicht gegen dich auf”, sagte sie ruhig.

“Habe ich das?”

Sie wusste nicht genug über Drachen, um zu erkennen, ob er es mit Absicht getan hatte. Aber sie wusste genug über Männer. “Marcus ist über einen ganzen Haufen Leichen an die Spitze gestiegen”, antwortete sie. “Und wir brauchen ihn, wo er ist. Stoß ihn nicht wieder runter.”

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Tiamaris.

Kaylin beschloss, dass er ihr besser gefiel, wenn er es nicht tat. Seine Zähne waren nicht wie normale Zähne. Zwar fehlten ihm die ausgeprägten Eckzähne der Leontiner, aber sie schienen zu funkeln. So wie seine Augen es taten.

Sie drückte die Tür auf und betrat das Zimmer.

“Severn.” Sie hatte seinen Namen auf ihrer Zunge, ehe sie es verhindern konnte. “Setz dich. Tiamaris?”

“Kaylin?”

“Wir können nicht fortfahren, ehe die Tür nicht geschlossen ist – der Stein ist versiegelt.”

“Ah.” Er trat über die Schwelle in den kleinen, fensterlosen Raum, der wirkte wie eine Gefängniszelle. An den falschen Tagen war er das auch. Und die Gefangenen darin? Sie schauderte.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Severn ließ sich auf einen der Stühle fallen, als wäre er in seinen eigenen Räumen. Tiamaris setzte sich steif hin, als wäre er nicht daran gewöhnt, sich in der Mitte zu beugen.

Und Kaylin stand zwischen ihnen wie zwischen einem Fels und einer Mauer. Sie sah zu Severn. Sah sich die vertrauten Narben an, die sie nie vergessen hatte, und betrachtete auch die neueren.

Sie wollte ihn umbringen.

Und er wusste es. Sein Lächeln erstarrte in seinem Gesicht, bis es eine Maske war, eine Fassade. Dahinter waren seine blauen Augen wachsam. Seine Hände hatte er unter die Tischplatte gesteckt, die die einzige ebene Oberfläche außer dem Boden war.

“Bist du wirklich ein Falke?”, fragte er beiläufig.

“Bist du wirklich ein Wolf?”

Sie starrten einander einen Herzschlag zu lange an.

“Kaylin”, sagte Tiamaris ruhig. “Ich glaube, du hast hier noch etwas zu erledigen.”

“Ich bin ein Falke”, antwortete sie.

“Warum?”

“Warum?” Ihre Finger schlossen sich um den Kristall. “Ja”, sagte sie an Tiamaris gewandt. “Arbeit. Wie immer.”

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie Severn jede Frage beantwortet hätte. Wirklich jede. Aber dieses Mädchen war sie jetzt nicht mehr. Sie hatte nicht den Wunsch, ihr Leben mit ihm zu teilen. Stattdessen blickte sie in den Kristall. Sie musste gezögert haben, denn Tiamaris hob eine Augenbraue.

“Du bist mit dieser Art Steinen doch vertraut?”

“Ich habe sie schon gesehen”, sagte sie kalt.

“Aber du hast noch nie einen benutzt.”

Sie schob sich eine Haarsträhne aus den Augen, die es nicht gab, als würde sie Zeit schinden. Ihre frühen Jahre in den Straßen der Kolonien hatten sie gelehrt, dass Lügen ihren eigenen Wert hatten. Ihre formenden Jahre bei den Falken hatten ihr allerdings gezeigt, dass sie meistens durchsichtig waren, wenn sie von ihr kamen. Sie ließ sich Zeit, ehe sie antwortete. “Nein. Noch nie.”

“Wenn du mir gestatten würdest –”

“Nein.”

Noch eine gehobene Braue. “Nein?”

Das Wort klang wie eine Drohung.

“Nein”, sagte sie, nachdem sie sich gefasst hatte. “Der Falkenlord hat den Stein mir gegeben. Wenn du es versuchst und er versiegelt ist, dann finden wir noch nach Wochen Stücke von dir in unseren Haaren.”

Sein Lächeln war kein Trost. Er streckte seine Hand aus. “Ich habe den Vorteil”, sagte er leise, “dass ich weiß, wie man einen Kristall entsiegelt.”

Ihre Pause, musste sie selbst zugeben, diente nur dazu, Zeit zu schinden. “Warum schickt er einen Drachen in die Kolonien?”

Tiamaris zuckte mit den Schultern. “Die Frage musst du ihm selbst stellen. Ich fürchte allerdings, er wird dir die Antwort schuldig bleiben.” Er kniff die Augen zusammen, bis das Gold zu einem brennenden Rot geworden war. “Ich gestehe, ich bin ebenfalls neugierig. Warum hat er sich entschieden, ein Mädchen ohne Erfahrung zu schicken?”

“An Erfahrung fehlt es mir nicht”, fuhr sie ihn an. “Ich bin seit sieben Jahren bei den Falken.”

“Du bist bei den Falken”, entgegnete er, “seit du dreizehn Jahre alt warst. Laut dem Brauch der Kasten warst du damals noch ein Kind. Du hast erst vor zwei Jahren das Erwachsenenalter erreicht. Nach den Regeln des Gesetzes bist du also seit zwei Jahren ein Falke.”

“Die Regeln der Kasten”, fauchte sie, “gelten für die Kasten. Ich bin in den Kolonien aufgewachsen. Alter hat dort eine andere Bedeutung.”

“Dann”, sagte Tiamaris und streckte seine Hand auf der Tischplatte aus, “stimmt es also.”

Sie sah ihn wieder an. Was weißt du noch über mich? Was nicht wirklich die wichtige Frage war. Und warum? Das war sie. “Du bist seit einem Tag ein Falke, wenn ich mich nicht irre.”

“Zwei”, antwortete er.

“Es braucht mehr als zwei Tage, um ein Falke zu werden.”

Er zuckte mit den Schultern. “Es braucht nur das Wort des Falkenlords.”

Damit hatte er natürlich recht. Sie verfluchte den Falkenlord in allen sieben Sprachen, die sie beherrschte. Was nicht viel zu heißen hatte, sie konnte nur vier von ihnen einigermaßen sprechen. Aber sie war Falke genug, um in den anderen dreien wichtige Wörter aufgeschnappt zu haben, auch wenn keine davon für die Ohren von Kindern oder Politikern geeignet waren.

Sprachen waren ihre einzige akademische Begabung. Sie war in fast jeder anderen Klasse, zu der man sie gezwungen hatte, durchgefallen. Lord Grammayre war damit so tolerant umgegangen wie ein enttäuschter Elternteil, und sie hatte sich mehr Predigten darüber anhören müssen, dass sie sich mehr anstrengen sollte, als ihr lieb war. Wenigstens ein Drittel davon hatte aerianisch geklungen, so wütend war er gewesen. Es war seine Gewohnheit, formelles Barrani zu sprechen, wenn er sich an die Falken wendete, auch wenn er zu Elantranisch, der Sprache der Menschen, wechseln konnte, wenn er sehr frustriert war.

“Der Kristall”, sage Tiamaris.

Sie hatte alle Zeit geschunden, die ihr möglich gewesen war. Mit zusammengebissenen Zähnen – was Severn zum Lachen brachte – legte sie ihre linke Handfläche über den Stein. Zwischen ihren Händen gefangen fing der Stein an, zu pulsieren. Sie spürte seinen Schlag und ließ den Kristall fast fallen, als er anfing, wärmer zu werden, und die Wärme zu Hitze wurde, und die Hitze zu etwas, was kaum weniger brannte als Feuer.

Sie hatte schon früher Feuer berührt und war davon berührt worden. Irgendwo hatte sie immer noch Narben davon. Aber sie sollte verdammt sein, wenn das bisschen Schmerz sich ihr in den Weg stellte. Nicht vor den zwei anderen.

Der Kristall pulsierte weiter. Sie spürte es und konnte fast das Muster seines anhaltenden Trommelns erkennen. Nach einem Augenblick merkte sie warum; es war langsamer geworden und hatte sich ihrem Herzschlag angepasst.

Der sowieso schon zu laut war.

“Los geht’s”, sagte sie leise.

Kaylin.

Die Stimme des Falkenlords war unverwechselbar. Sie entspannte sich und hörte zu. Die Worte klangen ruhig und fast angenehm. Eine aerianische Stimme.

Kaylin, werde Zeuge.

Der Raum begann zu verschwimmen, und vor ihren Augen breiteten sich die Kolonien aus. Sie konnte die Grenzen erkennen, die die kriminellen Provinzen umzäunten, die umgangssprachlich als Kolonien bezeichnet wurden. Sie lagen am westlichen Flussufer und vereinnahmten alles bis auf die Hafenverwaltung bei den alten Docks. Der Blick kam von hoch oben, jemand war dieses Stück des Weges geflogen. Jemand hatte den entsiegelten Kristall gehalten, sich damit verbunden, und ihn mit Bildern, dem Ausblick und Faktenwissen gespeist.

Grammayre? Sie konnte sich nicht sicher sein.

Die Lords der Gesetze waren die vollstreckende Faust des Kaisers. Ihre Existenz hing von seinen Launen ab, und sie schuldeten ihm Treue. Dieser Wahrheit sah sie seit sieben Jahren jeden Tag ins Auge. Die Falken, die Wölfe und die Schwerter waren keine Soldaten, sie waren kein Teil der kaiserlichen Armee.

Dennoch war es ihnen vom Gesetz her gestattet, Waffen und Rüstungen zu tragen. Auf ihre eigene Art bewahrte jede Gruppe die Gesetze der Stadt Elantra. Und wenn das nicht Krieg bedeutete, dann wollte sie keinen erleben. Niemand mochte die Wachen, die den Lords der Gesetze dienten, aber es wagte auch fast niemand, sich ihnen entgegenzustellen. Nicht außerhalb der Kolonien.

Und in den Kolonien?

Ein alter Schmerz verzog ihre Miene. Sie schloss die Augen, doch der Kristall hielt ihren Blick gefangen. Sie beobachtete, wie die Kolonien näher kamen, bis sie unverkennbar waren. Sie sah die Grenzen, hinter denen die Lords der Gesetze kaum noch herrschten, kaum noch Macht hatten, und diese Macht auch nur auf dem Papier.

Die Armeen hätten sich mehr Macht verschaffen können, aber der Kaiser gestattete ihnen nur selten einen Feldzug in seiner Stadt.

Und so bestanden die Kolonien fort.

Und in den Kolonien bestand die Sklaverei fort, die vor eineinhalb Generationen abgeschafft worden war, auch wenn sie nicht mehr so genannt wurde. Ganze Herrenhäuser, opulente, goldene Villen, öffneten Besuchern ihre Türen, und hinter diesen Türen konnten die Reichen alles kaufen. Einen illegalen Augenblick des Entkommens in den von Rauch durchzogenen Räumen der Opiate … einen Augenblick der Ekstase in den privaten Empfangsräumen der Prostituierten. Und hier und da ein Toter, wenn dessen Geschmack ins Sadistische lief.

Ein Sündenpfuhl wie aus dem Bilderbuch. Die Kolonien verdienten ihr Geld an denen, die nicht einmal im Traum daran denken würden, innerhalb ihrer Grenzen zu leben.

Und die Koloniallords herrschten. Sie hatten ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Armeen, ihre eigenen Untergebenen – es fehlte nicht viel zum offenen Krieg. Doch ein Krieg innerhalb der Stadtmauern würde ihnen doch die Armee des Kaisers auf den Hals hetzen. Das begriffen sie alle, und es war vielleicht das Einzige, was die Koloniallords im Zaum hielt. Aber Kaylins Erfahrung nach war das lange nicht genug. Menschen lebten und starben nach den Launen ihrer Lords. Geld regierte die Kolonien, Geld und Macht.

Doch die Menschen, die dort lebten, die in den alten Gebäuden lebten, den verfallenen Mietskasernen, den kleinen, armseligen Häusern, hatten keins von beidem. Sie rafften zusammen, was sie konnten, und sie träumten von einer Zeit, in der sie die Grenzen überschreiten durften, die eine Stadt von der anderen trennte, in der sie ihre Freiheit und Sicherheit in den Straßen dahinter suchen konnten.

Sie könnten genauso gut in einem fernen Land leben.

“Kaylin?” Blechern hörte sie die Stimme von Tiamaris, der Bedrohung und Erhabenheit der natürlichen Stimme der Drachen beraubt.

“Kannst du es sehen?”

Stille. Ein Herzschlag. “Nein”, sagte er ruhig. “Der Stein ist, wie du schon gesagt hast, auf dich eingestimmt. Und es scheint, dass du unsere Untersuchungen leiten sollst.” Er klang nicht begeistert, und sie wusste, dass es kleinlich von ihr war, sich einen Augenblick lang darüber zu freuen.

Aber ihre Zufriedenheit war nicht von Dauer. Der Blick im Kristall senkte sich und drehte ab. Der Himmel sauste vorbei. Clint hatte sie einmal mit in die Luft genommen. Sie war erst ein paar Wochen bei den Falken gewesen, und der Hunger, unter dem die meisten Kinder in den Kolonien litten, hatte sie dürr werden lassen. Er hatte sie unter den Armen gefasst, und sie hatte sich, fest entschlossen, mit ihm zu fliegen, an ihn geklammert.

Aber dann hatte der Abstand von Clint zum Erdboden sie überwältigt. Sie konnte nicht aufnehmen, was sie sah, sie konnte nichts tun außer die Augen schließen und zittern. Der Wind im Gesicht, den sie auch jetzt spürte, erinnerte sie daran, was sie nicht war: Aerianer, bestimmt, am Himmel zu fliegen.

Aber Clint hatte sie festgehalten, und seine Stimme in ihrem Ohr war ihr Anker gewesen. Es war ihm gelungen, langsam ein Gefühl der Sicherheit aus ihrer Angst zu necken, aus ihrer Starre, und schließlich musste sie doch die Augen öffnen und sich umsehen. Er nahm sie mit nach Hause, in die Höhen der Falkenhorste, auf den Klippen, die an der Südgrenze der Stadt lagen.

Sein Zuhause war nicht wie das Zuhause, vor dem sie geflohen war.

Nicht wie das Zuhause, zu dem der Blick des Kristalls sie zurückbrachte.

Die erste Kolonie zog unter ihrem Schatten vorbei. Sie sah das höchste der Gebäude darin und sah den Galgen und den an einer Kette baumelnden Käfig daneben. Beide waren besetzt. Hier hatte jemand die Bediensteten des Koloniallords verärgert, und das sollten alle wissen. Der Insasse des Käfigs – Mann? Frau? Sie konnte es aus der Entfernung nicht sagen – war offensichtlich noch am Leben.

Der Reisende hielt hier nicht inne, er beobachtete nur.

Aus der Ferne war sie versucht, das Gleiche zu tun. Aber sie hatte diese Käfige schon vom Boden aus gesehen, hatte zugesehen, wie ein Freund in einem gestorben war, hatte eines Tages herausgefunden, was es bedeutete, vollkommen machtlos zu sein.

Sie kämpfte gegen den Kristall, aber sie wurde übermannt. Die Falken – ihr Platz bei den Falken – hatten ihr vorgegaukelt, Macht zu haben. Und der Falkenlord würde sie ihr nehmen, ehe er sie gehen ließ. Um sie daran zu erinnern – wie sie sich selbst nicht hatte eingestehen wollen –, dass sie immer noch machtlos war, immer noch jung.

Dies ist der Bereich des Koloniallords Nightshade, ein ausgestoßener Barrani, sagte seine Stimme. Natürlich kennen wir seinen wahren Namen nicht. Er wird von einer Magie verborgen, die weit stärker ist als jene, die wir selbst gefahrlos nutzen können. Nicht einmal die Kastenlords der Barrani wagen es, Nightshade in seinem eigenen Reich anzugreifen.

Sie schloss die Augen. Es half nichts.

Du kennst diese Kolonie.

Sie kannte sie. Severn kannte sie. Sie hatten in ihren Straßen gelebt, und sie wären dort fast gestorben. Und Severn hatte dort viel, viel Schlimmeres getan. Der Wunsch, ihn umzubringen, lähmte sie. Er war an einen bitteren Drang nach Gerechtigkeit gebunden – und nur Dummköpfe erwarteten in den Kolonien Gerechtigkeit.

Hier hat man Todesfälle gemeldet, die ihr untersuchen sollt. Weitere Informationen folgen.

Der Kristall vibrierte in ihrer Hand und wurde fast zu heiß, um ihn noch zu halten. Sie hielt ihn dennoch fest, als ihr Blick auf einmal verschwamm.

Sie stand auf dem Boden. Der Geruch der Straßen erfüllte ihre Sinne, und seine furchtbare Vertrautheit überwältigte sie. Sie stolperte, fiel, stand auf, sie sah hinab und merkte, dass ihre Tunika – sie kannte das Kleidungsstück nicht, es gehörte einem Mann – rot von Blut war.

Sie spürte keinen Schmerz, aber sie wusste, dass diese Erinnerung den Tha’alani zu verdanken war, und sie hasste es. Die Aufzeichnungen waren vollkommen anders als die Beobachtungen des Falkenlords, die aus der Ferne geschehen waren; die Erinnerung war voller Angst, Schmerz und der Unfähigkeit, beides hinzunehmen oder zu verweigern.

Sie stolperte durch die Straßen. Ihre Arme schmerzten, sie trug irgendetwas darin. Nein, er tat es, wer auch immer er war. Er stolperte durch die belebten Straßen. Die Sonne stand hoch am Himmel. Einige Menschen beobachteten ihn aus der Ferne, ihre offene Neugierde vermischt mit Furcht auf den – Gott sei Dank – unbekannten Gesichtern. Niemand kam näher. Niemand bot an, ihm mit der Last, die er trug, zu helfen. Und als seine Kraft schließlich versagte, als seine Knie nachgaben, als seine Arme sich mit einem Beben, das von Zeit und Anstrengung sprach, lösten, sah sie warum. Sie sah es durch seine Augen.

Der Körper eines Menschen rollte hinab in seinen Schoß, blutbeschmiert, leblos.

Er schrie. Einen Namen, immer und immer wieder, als wäre der Name eine Beschwörung, als ob er die Macht innehätte, das Leben zu zwingen, zurückzukehren.

Aber jetzt, wo sie als Falke zusah, als jemand, der gelernt hatte, was der Tod war, und was seine Ursachen, wusste Kaylin, dass es umsonst war.

Der Junge – zehn Jahre alt, vielleicht zwölf – war ausgeweidet worden. Seine Arme hingen schlaff an seinen Seiten hinunter, und sie konnte die schwarzen Tätowierungen sehen, die von Handgelenk bis Ellenbogen unauslöschlich in sein Fleisch gestochen worden waren.

Sie hatte so etwas schon einmal gesehen. Sie wusste, dass die Male nicht nur auf seinen Armen sein würden, sondern auch auf seinen inneren Schenkeln.

Sie schrie.

Und Severn schrie kurz nach ihr, als sie ohne zu wissen wie, den Kontakt mit dem Kristall verlor.

Ihre Handflächen warfen Blasen, und entlang der Kanten des harten Kristalls war ihre Haut aufgerissen. Severns ebenfalls. Er ließ den Kristall sofort fallen, und er schlug mit einem dumpfen Ton auf der Holzoberfläche auf, wo er sich festsaugte.

Sie hätte gedacht, er würde wegrollen.

Was für ein dummer Gedanke.

“Was machst du denn?”, schrie sie Severn durch zusammengebissene Zähne an. Ihre schmerzenden Hände verhinderten klare Gedanken.

“Dir den Kristall wegnehmen”, knurrte er zurück. Für den Augenblick hatte er seine Selbstbeherrschung vergessen.

“Warum?”

Er zuckte mit den Schultern und schüttelte sich dann. “Dir hat nicht gefallen, was du gesehen hast”, fügte er ruhig hinzu.

“Und das ist wichtig?”

“Ja.”

“Warum?”

Er antwortete nicht.

“Das war mutig”, sagte Tiamaris, der zum ersten Mal seine Stimme erhob. “Und sehr, sehr dumm. Der Falkenlord muss sich einige Mühe gemacht haben, diesen Kristall zu erschaffen. Er ist … offensichtlich ungewöhnlich. Kaylin?”

Sie schüttelte den Kopf. Im Grunde schüttelte sie sich einfach nur. Sie wollte den Kristall noch einmal berühren, und gleichzeitig wollte sie ihn zerstören. Zwischen den zwei Möglichkeiten hin und her gerissen – die eine zwingend notwendig, die andere unmöglich – war sie wie versteinert.

Tiamaris blieb ruhig. “Ich stehe in deiner Schuld.” Er sprach die Worte sehr ernst. Seine Augen waren von Rot zu Gold geworden, Gold wie flüssiges Licht.

“Schuld?”

“Ich hätte den Kristall selbst genommen. Es wäre … unbesonnen gewesen. Es scheint, als hättest du das Vertrauen des Falkenlords, Kaylin. Und es scheint auch”, sagte er, mit dem leisesten Anflug eines düsteren Lächelns, “dass dieses Vertrauen sich nicht auf seine neuesten Rekruten ausdehnt.”

Severn weigerte sich, in das Gespräch hineingezogen zu werden. Er starrte Kaylin an. Seine eigenen Hände hatten begonnen, anzuschwellen und Blasen zu werfen.

“Hast du es gesehen?”, fragte sie ihn, alle Feindseligkeit für den Augenblick vergessend. Er war Severn, sie war Elianne, und die Straßen der Kolonien hatten das Unmögliche getan: Sie waren noch erschreckender geworden, als sie es beide je für möglich gehalten hatten.

Er schüttelte den Kopf. “Nein”, sagte er, jetzt ohne Arroganz oder Leichtfertigkeit. “Aber ich weiß, was du gesehen hast.”

“Wie?”

“Ich habe dich so nur einmal im Leben schreien gehört”, antwortete er. Er hob eine Hand, als wolle er sie berühren, und sie zuckte sofort zurück und legte eine Hand an den Griff ihres Dolches. An einen der vielen.

Er akzeptierte ihre Abweisung, als wäre nichts geschehen. “Ich war damals auch dort”, fuhr er leise fort. “Ich habe es auch gesehen. Es fängt wieder an, nicht wahr?”

Sie schloss die Augen. Nach einem Augenblick, immer noch mit geschlossenen Augen, rollte sie ihre Ärmel hoch und legte damit ihren Arm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen frei.

Dort prangten in schwarzen Linien, die elegant und bedrohlich ineinander verschlungen waren, Tätowierungen, die fast genauso aussahen wie die auf den Armen des toten Jungen.

Sie war überrascht, als jemand ihr Handgelenk berührte, und riss ihre Augen auf.

Aber Tiamaris hielt ihr Handgelenk mit einem Griff fest, der wahrscheinlich ohne viel Mühe Knochen zermahlen konnte. Komisch, wie menschlich seine Hände aussahen. Wo sie doch so wenig menschlich waren.

Sie versuchte, sich loszumachen. Er schien es nicht einmal zu bemerken.

Doch seine Augen flackerten, als sie mit der freien Hand einen Dolch zog. Sie hatte sich langsam bewegt, und die Dolche machten kein Geräusch – aber er merkte es trotzdem sofort.

“Das würde ich lassen, wenn ich du wäre. Lord Grammayre hat es nicht gern, wenn in seinen eigenen Reihen gekämpft wird.”

“Lass los”, flüsterte sie.

Er schien sie nicht gehört zu haben. “Weißt du, was diese Zeichen bedeuten?”, fragte er. Die innere Membran seiner Augen hatte sich geschlossen und verdeckte das plötzliche Feuer in seinen Augen.

“Tod”, flüsterte sie.

“Ja”, antwortete er. Er betrachtete sie sorgfältig, und nach einer Weile wurde ihr klar, dass er die Zeichen las. “Sie bedeuten Tod. Aber das ist nicht alles, Kaylin von den Falken.”

“Sie sind nicht – das ist nicht Drachensprache.”

“Nein. Viel älter als Drachensprache, wie du unsere Zunge so malerisch bezeichnest.”

“Barrani?”

Seine Lippen verzogen sich voll Verachtung.

“Das nehme ich als Nein.” Sie zögerte. Die Zeichen waren Teil von ihr, seit sie mit zehn Jahren auf ihren Armen erschienen waren, ein hohes Alter in den Kolonien. Kaum ein Kind überlebte so lange, nachdem es beide Eltern verloren hatte.

“Wo hast du sie her?”

“Nightshade”, flüsterte sie.

“Wer hat sie dir gestochen? Wer hat dich so markiert?”

Es war Severn, der antwortete. “Niemand.”

“Unmöglich.”

“Ich habe es gesehen”, antwortete Severn. “Ich habe gesehen, wie sie … gewachsen sind. Das haben wir alle. Sie haben eines Morgens im Winter angefangen.”

“An welchem Tag?”

“Dem kürzesten.”

Tiamaris sagte nichts. Sie wollte, dass er nie damit aufhörte, aber er öffnete doch den Mund. “Ich habe die Leichen gesehen”, sagte er schließlich. “Und die Tätowierungen haben nicht, wie du sagst, einfach ‘angefangen’. Sie sind gemacht worden, und zwar zu einem hohen Preis.”

“Ihre nicht”, sagte Severn gelassen.

Tiamaris runzelte die Stirn. “Es gibt hier etwas”, sagte er schließlich, “das selbst ich nicht lesen kann.”

“Kennst du – kennst du jemanden, der es kann?”

“Nur einen”, antwortete Tiamaris, “und es wäre zu gefährlich für dich, ihn zu fragen.”

“Warum?”

“Er würde dir wahrscheinlich beide Arme abnehmen.”

“Das kann er ja versuchen”, sagte Severn, und plötzlich lag sein langer Dolch in seiner Hand.

Kaylin sah erst das Messer an, dann Severn. Sie verstand überhaupt nichts. “Woher weißt du, wie man die Zeichen liest?”, flüsterte sie.

“Man könnte mich als Gelehrten bezeichnen”, war die vorsichtige Antwort. “Ich beschäftige mich besonders mit dem Altertum.”

Zauberei also. Sie fragte nicht weiter nach.

“Lass mich los”, sagte sie müde und versuchte doch, ihre Worte wie einen Befehl klingen zu lassen.

Überraschenderweise löste Tiamaris seinen Griff. “Du bist interessant, Kaylin, wie der Falkenlord schon vermutet hat. Aber jetzt bin ich doch überrascht.”

“Warum?”

“Weil der Falkenlord dich am Leben gelassen hat.”

Kaylin sagte nichts.

Wieder sagte Severn “Warum?”, ohne dass es einen Sinn ergab. Seine Hände befanden sich wieder unter der Tischplatte.

“Eure Geschichte … ist seltsam. Und ihr müsst verstehen, dass die Todesfälle, die vor einigen Jahren in den Kolonien gemeldet wurden, ebenfalls untersucht worden sind.”

Die Toten. Vor sieben Jahren. Sie schauderte.

Zum ersten Mal, seit sie Tiamaris getroffen hatte, sah er grimmig aus. Wie schneebedeckte Klippen in der Ferne.

“Du warst damals dabei”, sagte sie leise.

“Ich war dabei.”

“Und du warst kein Falke.”

“Nein.”

Sie hob ihren bebenden Kopf. Sah hinab auf ihre Arme. “Was bedeutet das alles?”

“Ich weiß es nicht”, antwortete er, und selbst jetzt sah er ihr immer noch ins Gesicht. “Aber schließlich hat dann das Morden aufgehört. Weiß der Falkenlord von den Zeichen?”

Sie nickte und sah fast so grimmig aus wie er. “Er weiß fast alles über mich.”

“Und er hegt nicht den Verdacht, dass du mit den Vorfällen zu tun hast.”

Sie machte große Augen. Sie war zu erstaunt, um wütend zu sein. Das kam vielleicht später noch.

“Du verstehst nicht, und anscheinend hielt es Grammayre nicht für nötig, dich zu informieren. Da ich mit dir arbeiten muss, werde ich es deshalb tun. Der erste Tote muss – und Lord Grammayre dürfte mit der ungefähren Zeit vertraut sein – am selben Tag gefunden worden sein, an dem deine Zeichen aufgetaucht sind. Am Tag der Sonnenwende.”

Die Stille war, wie man sagt, betäubend. Und in diese Stille kroch der Schatten der Anklage.

“Sie hatte mit dem Tod der anderen nichts zu tun”, fuhr Severn ihn an. “Sie waren alle –”

“Sei still, Severn”, unterbrach Kaylin ihn.

Überraschenderweise hörte Severn auf sie.

“Ich glaube euch”, war die ruhige Antwort. “Weil ich sie kennengelernt habe, glaube ich euch.” Tiamaris sah über den Tisch zu Kaylin. Der Tisch schien auf einmal sehr, sehr lang geworden zu sein. Er sprach aus der Ferne zu ihr. “Du hast gesagt, es hat wieder angefangen. Sag mir, was du vermutest.”

Sie schluckte. Ihr Mund war sehr trocken. “Die Toten”, flüsterte sie schließlich. “In Nightshade. Ich dachte – als der erste Leichnam aufgetaucht ist, – ich war mir so sicher, dass ich als Nächstes sterben würde. Wegen der Zeichen. Das waren wir alle.”

“Alle?”

Sie presste die Lippen zusammen. Die Frage blieb unbeantwortet. Es ging ihn verdammt noch mal nichts an. Ein anderes Leben.

“Was ist geschehen?”

Sie schüttelte den Kopf. Dann atmete sie tief durch und stand auf. Ihre wunden Handflächen stützte sie auf die harte Oberfläche des vernarbten Holzes. “Ich bin nicht gestorben. Ich weiß nicht warum”, sagte sie schließlich. “Aber ich weiß, wo wir hingehen.”

“Zu Nightshade”, sagte Severn leise.

“Zu Nightshade.” Sie ging auf die Tür zu. Blieb stehen. Dann drehte sie sich um und sah Severn an, der nicht aufgestanden war, um ihr zu folgen. “Wir sind noch nicht fertig”, sagte sie ihm leise.

Er sagte nichts, doch nach einem Augenblick überlegte er es sich anders. “Ich weiß. Elianne –”

“Ich bin Kaylin”, flüsterte sie. “Vergiss das nicht.”

“Das werde ich nicht. Was ist mit dir?”

Sie schüttelte den Kopf, und statt mörderischer Wut fühlte sie etwas anderes, etwas noch Gefährlicheres. “Ich werde nicht vergessen, was du getan hast, damals in Nightshade.”

Er sagte überhaupt nichts.

“Ich muss jetzt etwas essen. Wir treffen uns in einer Stunde in der Eingangshalle. Nein, in zwei. Macht euch bereit.”

“Für die Kolonien?” Er lachte bitter.

Tiamaris dagegen nickte.

Sie verließ das Zimmer, ruhig und mit einer erhabenen Würde, die sie nur selten besaß. Erst als sie sicher war, dass die beiden sie nicht mehr sehen konnten, blieb sie stehen und entleerte ihren unerheblichen Mageninhalt.

Marcus war natürlich da. Als hätte er gewartet. Wahrscheinlich hatte er das. Er legte seine samtenen Pfoten auf ihre Schultern und drückte zu. Sie spürte die weichen Polster seiner Handflächen durch ihre Tunika hindurch. Und die Wärme, die von ihnen ausging.

“Kaylin.”

“Ich will nicht zurück”, flüsterte sie in einer Stimme, die sie hasste. Die Stimme einer Dreizehnjährigen. Eines Kindes.

“Sag mir nicht, wohin ihr geht. Wenn ich mich nicht irre, bist du gebunden.” Er sah auf ihre aufgesprungene Handfläche und stieß seinen Atem in einem Seufzer aus, der wie ein Knurren klang. Es war ein tröstliches Geräusch, oder wenigstens war es so gemeint. Wenn man einen Leontiner kannte. Diesen kannte sie.

“Aber ich kann es mir denken”, fügte er grimmig hinzu. “Komm. Der Quartiermeister hat mir alles geliefert, was du angefordert hast.”

“Ich habe aber gar nichts –”

“Der Falkenlord begreift, wohin ihr geht”, sagte er ruhig. “Und er war darauf vorbereitet. Er war glaube ich, nicht darauf vorbereitet, den halben Tag zu verlieren. Er ist ungeduldig und hat deinen Lohn gekürzt.”

“Bastard”, flüsterte sie, aber ohne es zu meinen.

Er fuhr mit der Hand über ihren runden Rücken. Als ob sie zu ihm gehörte, Teil seines Rudels. “Ich habe dir das hier mitgebracht”, sagte er, als sie sich endlich aufrichtete. Ihr war immer noch flau im Magen.

Sie wusste, was er für sie hatte.

Es sah wie eine Armschiene aus, nur kürzer, und leuchtete golden. In sie waren drei Edelsteine eingelassen, die für das ungeübte Auge wertvoll aussahen: Rubin, Saphir und Diamant.

Aber Kaylin wusste, dass sie noch mehr waren. “Ich werde die Kontrolle nicht verlieren”, setzte sie an.

Seine Augen waren so schmal, wie es ging. “Das war keine Bitte, Kaylin. Ich weiß, wohin ihr geht.”

“Er hat es dir gesagt?”

Er rümpfte die Nase, als er auf die Schweinerei um ihre Füße herum hinabsah. Und auf ihnen.

“Oh.”

“Leg es an”, befahl er ihr mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete. Mit der Stimme eines Hauptmanns.

“Marcus –”

“Leg es an, Kaylin. Und wenn ich du wäre, würde ich es für eine ganze Weile nicht ablegen.”

Sie nahm die Armschiene aus seinen Händen und starrte sie an. Sie hatte scheinbar kein Scharnier, aber auch das war nur eine Illusion. Sie berührte die Edelsteine in einer Reihenfolge, die ihre Finger nie vergessen hatten: Blau, blau, rot, blau, weiß, weiß. Sie spürte den vertrauten und schmerzhaften Schub der Magie und hörte zur gleichen Zeit das unverwechselbare Geräusch einer Käfigtür, die sich öffnete.

“Hat er dir befohlen, mich dazu zu zwingen?”, fragte sie bitter.

“Nein, Kaylin. Ich glaube, er vertraut darauf, dass du deine eigenen Grenzen kennst.”

“Und du?”

“Ich auch”, sagte er leise. Aber er wartete, bis sie die Schiene über ihren linken Arm geschoben hatte. “Soweit du sie kennen kannst, vertraue ich dir auch.”

“Was soll das heißen?”

“Du weißt, was das heißt.”

Das tat sie. “Ich – ich habe die Kontrolle nicht mehr verloren seit –”

“Damals warst du nicht in den Kolonien.” Er schwieg einen Augenblick und fügte dann noch etwas hinzu. “Kaylin, deine Gabe – niemand versteht sie. Nicht einmal der Falkenlord. Er hat darüber geschwiegen. Ich ebenfalls. Er ist der einzige der Lords der Gesetze, der weiß, was geschehen kann, wenn du die Kontrolle verlierst. Und er ist auch der Einzige, der es wissen sollte.”

Sie schloss die Augen. “Der Falkenlord –”

“Vertraut dir. Mehr noch, er scheint dich zu mögen. Ich lerne langsam, seine Weisheit zu begreifen. Auch wenn du nicht einmal um dein eigenes Leben oder meinen Ruf zu retten pünktlich sein kannst.” Dann wendete er sich ab. “Lass die Schweinerei. Ich schicke jemanden her, um sauber zu machen.”

Sie bewegte sich immer noch nicht.

Und hörte sein knurrendes Seufzen. Er drehte sich wieder um. “Was du mit Sesti getan hast, und mit einem meiner eigenen Weibchen, ist nichts, was der Falkenlord oder ich je hätten voraussehen können.”

“Sesti war –”

“Kaylin. Du wärest nicht zu Sesti gegangen, wenn du geglaubt hättest, sie könnte die Geburt aus eigener Kraft überleben. Du hättest es nie gewagt, gesehen zu werden. Du bist verdammt vorsichtig gewesen. Das musstest du sein. Aber du hast sie gerettet, und auch ihren Sohn. Du hast meinen Sohn gerettet. Ich würde dich nicht zwingen, die Schiene zu tragen, wenn ich glauben würde, dass du dort, wo du hingehst –”

Sie hob ihre Hand. “Sie ist dran, Marcus”, sagte sie müde.

Das Letzte, worüber sie nachdenken wollte, war ihre Gabe.

Weil sie über die Jahre festgestellt hatte, dass sie immer, immer einen Preis hatte, und irgendjemand musste ihn bezahlen.