15. KAPITEL

Sie ließ Severn schnell hinter sich. Ganze Jahre ihres Lebens waren davon bestimmt gewesen, dass sie nicht einmal mithalten konnte. Sie hörte ihn fluchen, aber er rief ihr nicht nach und bat sie auch nicht, langsamer zu werden.

Die Bewegung kühlte ihre Arme. Verborgen unter einer Lage Stoff und Leder wurde das Feuer durch die Bewegung gedämpft, aber sie fühlte sich dadurch nicht besser – sie wusste, wenn es wieder anfing, dann an ihren Beinen, und sie konnte es sich nicht leisten, zu stolpern oder langsamer zu werden. Catti blieb dazu nicht die Zeit.

Halt durch, dachte sie. Keine Verzweiflung in ihren Worten, nur ein Befehl. Oder ein Gebet. Oder eine Mischung aus beidem. Kaylin hatte, wie die meisten Koloniegeborenen, keine feste Religion. Die Götter waren wie das Wetter. Manchmal gut, manchmal schlecht, und immer unvorhersehbar.

Die Leute, denen sie begegneten, sprangen ihr aus dem Weg. Auch Severn wichen sie aus – oder vielleicht Tiamaris. Der Drache hielt Schritt, ohne auch nur außer Atem zu geraten. Sie war sich allerdings sicher, dass sie mindestens zwei Mal gehört hatte, wie Steine sprangen. Die Straßen waren in einem anderen Zeitalter befestigt gewesen, und er trug höchstens die Struktur ab, die noch übrig blieb. Es war, als wäre er so darauf konzentriert, zu rennen, und nur zu rennen, dass er sich nicht darauf konzentrieren konnte, leichte Schritte vorzutäuschen.

Zu einer anderen Zeit hätte sie das überrascht. Oder zu Tode geängstigt. Aber sie hatte gerade genug in der Grundausbildung zum Falken – der einen Sache, in der sie verdammt gut gewesen war – gelernt, um immer zu merken, was um sie herum geschah. Nur blieben ihr keine Reserven, darauf zu reagieren. Catti, dachte sie. Catti.

Und etwas in ihr hörte eine Antwort.

Es war kein Wort. Und es war kein Schrei – dafür war es nicht stark genug. Sie hatte Catti nie wimmern gehört; der kleine Rotschopf, der so störrisch schubste und so schief sang, war immer ein zu starkes Kind gewesen.

Aber sie war ein Kind. Und sie war nicht in den Kolonien zu Hause.

Wir kommen, Catti. Wir kommen und bringen dich nach Hause. Halt durch. Warte auf mich.

Sie sendete die Worte aus, aber sie waren nicht gesprochen, eher wie Fasern, hell und luftig, und wie die blassesten Sterne nur aus dem Augenwinkel klar zu erkennen. Sie konnte nicht sehen, wohin sie zogen, aber das machte nichts, sie wusste es auch so.

Sie eilte um eine Ecke, hasste das Gebäude, das ihr im Weg stand und sie zwang, ihren Weg zu ändern – spürte, wie etwas in den Kerben dieses plötzlichen Hasses auftauchte. Macht. Wenn sie die Zeit gehabt hätte und die Armschiene, hätte sie sie angelegt – aber das hätte Catti umgebracht. Stattdessen versuchte sie, die Gründe zu vergessen, wegen denen sie das verdammte Ding überhaupt bekommen hatte. Sie rannte durch das Aufwallen der Magie hindurch und ignorierte es. Betete, auch wenn das keinen Zweck hatte.

Hier half ihr der Schmerz, der so plötzlich und heftig über sie kam, der sie überraschte, auch wenn sie ihn erwartet hatte. Es war, als hätte man ihren ganzen Körper geohrfeigt, und es war eine grausame Erinnerung an das, was zu tun war. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um nicht zu stolpern oder hinzufallen. Sie gab alles, verkürzte ihre Schritte nur so lange wie nötig, während ihre Schenkelinnenseiten schon brannten.

Es gab Severn die Zeit, aufzuholen, Zeit, ihre Schulter zu berühren, aber keine Zeit, zu sprechen. Das würde er auch nicht tun. Sie drehte sich um, um ihn anzusehen, und er las alles, was er wissen musste, in ihrem verzerrten Gesichtsausdruck.

“Vier Ecken”, sagte er, aber es ergab keinen Sinn für sie. Doch er sprach mit Tiamaris, und der Drache knurrte seine Antwort. Seine Stimme war nur der Schatten seines Fauchens, doch voller und stärker als seine normale Sprechstimme. Wie viel verbarg ein Drache, wenn er durch die Straßen der Stadt ging?

Und wie viel verbarg sie?

Sie rannte weiter, sie atmete weiter. Das Atmen fiel ihr schwerer. Selbst Severn glänzte vor Schweiß, und er war ein Wolf – daran gewöhnt, durch die Straßen der Stadt zu rennen. Daran gewöhnt, durch diese Straßen zu rennen, wahrscheinlich als Einziger unter den Wölfen.

Doch die Straßen wurden kürzer, und statt mit Steinen gepflastert waren sie übersät mit Löchern und Rillen aus getrocknetem Schlamm und festgefahrenem Heu. Es war eine der älteren Straßen der Kolonie. Sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern und versuchte es auch nicht. Denn sie sah auf und erblickte endlich das Gebäude, von dem sie wusste, dass sie es betreten musste.

Es war von schwarzen Toren umgeben. Rost drang durch die Lücken in der seltsam glänzenden Farbe, und es dauerte nur einen Augenblick, bis sie merkte, dass es gar kein Rost war. Sie fluchte.

“Wachturm”, sagte Severn, und es klang auf seinen Lippen wie ein schlimmerer Fluch als ihrer. “Der Eingang ist auf der anderen Seite”, sagte er zu Tiamaris.

“Wir haben keine Zeit!”, rief Kaylin.

Tiamaris sah erst Severn an, dann Kaylin. Seine Augen leuchteten jetzt rot, eine tiefe, brennende Farbe, die sein inneres Lid nicht verdeckte. Sie hatte ihn so noch nie gesehen.

“Aus dem Weg”, befahl er ihr.

Sie gehorchte ohne nachzudenken und fragte sich, ob in seinen Worten ein magisches Kommando gelegen hatte. Oder wie man so etwas sonst nannte. Für eine Minute wünschte sie sich wirklich, eine bessere Schülerin gewesen zu sein.

Der Drache streckte seine Hände aus, griff nach den dicken Eisenpfosten und spannte seine Muskeln an. Kaylin wartete, weil sie dachte, dass er sie weit genug auseinanderbiegen würde, um ihnen Einlass zu gewähren.

Sie hatte sich geirrt.

Er riss sie aus ihrer Verankerung, und mit ihnen das ganze Zaunstück. Das Rennen hatte ihn nicht außer Atem gebracht, und diese Anstrengung entlockte ihm kaum ein Schnaufen. Aber er tat es wirklich, und sie sah, wie sich die Muskeln in seinen Händen abzeichneten wie gemeißelt. Sein Gesichtsausdruck war wie aus Stein. Rotem Stein.

Sie war dankbar, dass sich die Straßen bereits geleert hatten, weil jeder, der in der Nähe gestanden hätte, unter dem Zaun begraben worden wäre, der nur ein kurzes Stück hinter ihrem Rücken auf die Straße aufschlug und wahrscheinlich die wenigen Pflastersteine, die der alten Straße noch blieben, zerschmetterte.

Nicht, dass das ein Verlust war. Sie waren in den Kolonien, und das Gesetz zählte hier einen feuchten Kehricht.

Sie rannte über die neu aufgeworfene Erde und stolperte fast, als sie die Verankerungen im Boden bemerkte. Sie waren aus Ebenholz. Ebenholz bedeutete Magie. Wenn ihr nur eine Minute Zeit geblieben wäre, sie hätte sich von Tiamaris beeindruckt gezeigt.

Aber die Schmerzen hatten ihren Höhepunkt erreicht, und auch wenn sie andauerten, sie wusste, was geschehen würde, wenn sie endlich am Ende ankamen. Sie wusste auch, dass es nicht mehr lange dauern würde.

Sie spürte Cattis Angst, und einen Augenblick lang befand sie sich wieder in der Findelhalle, in ihrer heilenden Trance – so eng an das Leben des jungen Mädchens gebunden, dass sie ihre Gefühle nicht voneinander trennen konnte: Ihre Angst war eins.

Und zwischen ihnen stand eine Wand.

Alter Stein, glatt, zerfurcht – vielleicht – von Jahren des Efeuwuchses. Es gab keine Fenster. Hatte es nie gegeben. Sie hatte sich immer gefragt, warum er der Wachturm genannt wurde.

Aus schmerzlicher Ferne hörte sie Severn vom Tod sprechen, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. “Das Pförtnerhaus ist auf der anderen Seite.”

Nein. Keine Zeit. Im Pförtnerhaus gab es mit Sicherheit Wachen. Und selbst wenn nicht, wenn es verriegelt war, würden sie zu spät kommen.

Zu spät für Catti.

Sie konnte spüren, wie sich die Macht in ihr verdrehte wie die Muskeln einer sehr mitgenommenen Bauchdecke. Komisch, wie all diese dummen technischen magischen Worte nie einen Eindruck gemacht hatten, egal zu wie vielen Kursen man sie gezwungen hatte. Sie hatte nur ein einziges Mal eine Autopsie mit angesehen und erinnerte sich an jedes klinische Wort, das Red benutzt hatte.

Sie wurde von einer Übelkeit überwältigt, die nichts mit der Erinnerung daran zu tun hatte. Sie konnte Blut schmecken.

Sie schrie. Es klang wie ein Brüllen, das nur eine Handvoll Falken erkennen konnten. Sie waren nicht da. Severn war da. Und Tiamaris.

Und die Wand. Sie warf ihre Fäuste dagegen, trommelte gegen den Stein. Noch einmal. Ein drittes Mal. Von ihren Handkanten begann sich die Haut zu schälen, und dann folgten dunkle Blutstriemen.

“Catti!”, schrie Kaylin.

Und die Wand zerschmetterte.

Steinsplitter flogen in alle Richtungen; Staub stieg in einer undurchsichtigen Wolke wie ein luftiger Umhang auf. Sie kämpfte sich durch alles hindurch und sah auf der anderen Seite aus wie das Werk eines wahnsinnigen Bildhauers. Sie warf sich mit dem Kopf voran in den Schmerz, und weil sie nichts anderes mehr sehen und fühlen konnte, starb sie fast.

Aber weil der Schmerz alles war, weil sie schon wieder alles verloren hatte, tat sie es nicht. Sie kam mit der Innenseite ihres gekrümmten Arms gegen die Spitze eines scharfen Speers und brach ihn ab. Er riss ein Loch in ihr Leder und löste einige hartnäckige Reste von dem, was einst die Außenmauer gewesen war.

Die Spitze brach in ihrer Hand ab. Staub dämpfte den Glanz des Metalls. Sie stieß ihr störrisches, ungelenkes Gewicht zurück auf das gesplitterte Holz ihres Speeres.

Hörte, wie er etwas traf, hörte das Stöhnen, das mit dem Treffer einherging.

Hörte, gesegnet, aufs Mark erschüttert, das leise Wimmern eines kindlichen Schreis.

Catti. Catti. Catti.

Und um sie herum hielten sie vier Männer in Roben fest, wie Priester aus einer Geschichte, die selbst für Kinder zu düster war, alle gleich groß, schlank und perfekt gebaut. Kapuzen verbargen die obere Hälfte ihrer Gesichter.

Doch die scharfe Kante ihrer Kiefer war unverwechselbar: Barrani.

Sie waren Barrani.

Und auch wieder nicht. Sie kannte Barrani seit sieben Jahren. Hatte mit ihnen gelebt – nur kurz – sie untersucht, war mit ihnen auf Patrouille gegangen und hatte ihre Mahlzeiten mit ihnen geteilt; sie hatte ihnen ihre Schönheit geneidet, ihre Musikalität, die absolute Sicherheit ihrer Eleganz und ihr endloses, unsterbliches Leben. Sie hatten dafür gesorgt, dass sie sich ungelenk fühlte, hässlich und ein wenig dumm, einfach, indem sie existierten, weil ihr Leben die Art zu allem machte, wozu sie selbst niemals Zeit haben würde.

Aber bis heute war sie nie einem toten Barrani begegnet.

Und sie sehnte sich nach all den Unannehmlichkeiten, die die lebenden Barrani verkörperten, weil Leichen sich nicht ohne die Hilfe von sehr, sehr verbotener Magie bewegen konnten.

Und sie dachten nicht eigenständig.

Aber diese Leichen taten beides. Und eine von ihnen, mit Augen grau wie ein nächtlicher Sturm, tat noch etwas Schlimmeres: Sie lächelte.

Sie sprang hoch und auf die vier zu, zu Catti, die noch lebte. Das war alles, was zählte, sie lebte noch. Wäre Marcus da gewesen, er wäre stinksauer auf Kaylin. Wut, das hatte sie schnell gelernt, nützte in einem Kampf nichts – sie war ein schlimmerer Feind als der bewaffnete Gegner, weil sie bedeutete, dass man an zwei Fronten kämpfen musste.

Angst hatte ihren Zweck, auch das hatte sie gelernt. Aber man musste lernen, sich von ihr zu lösen und sie zu benutzen. Man durfte sich nicht von ihr benutzen lassen.

Alte Lektionen. Alt, mit Mühe gelernt, und vollkommen nutzlos. Sie schrie vor Angst, vor Wut, vor etwas so Ursprünglichem, dass kein einzelnes Wort es beschreiben konnte. Gegen einen Barrani hatte sie keine Chance.

Sie wusste es. Und selbst wenn sie in Mathe durchgefallen war, Wetten war in den Kolonien ihr einziges Hobby gewesen, sie kannte ihre Chancen gegen vier.

Sie würde es trotzdem riskieren.

Aber die anderen neun, die sich stumm in einem Kreis aufstellten, waren eine stärkere Wand, als die Wand es gewesen war. Sie konnte nicht an ihnen vorbei. Die Kraft, die sie benutzt hatte, um die Wände einzureißen, ließ ihr nicht genug Energie, um die Barrani zu zerstören. Und das hätte sie getan, langsam, wenn ihr die Macht geblieben wäre.

Sie würden die Zeit herausschinden, die die anderen brauchten, um Catti zu töten. Die vier hatten bereits ihre Klingen gezogen, geschwungene Klingen mit blitzenden Symbolen, als wären sie ebenfalls aus einer alten Geschichte, einer düsteren Legende entsprungen. Der Schmerz auf Kaylins Schenkeln, so unbedeutend im Vergleich zum Rest, ließ nach. Die Runen mussten vollständig sein.

Alles, was noch blieb, war die Punktierung.

Ihr Leben liegt noch in deiner Hand. Du kannst sie gehen lassen, hatte Tiamaris gesagt. Es wäre ein gnädiger Tod.

So nahe, Worte wie Asche in ihrem Mund, spürte sie die Bindung zwischen sich und Catti und hielt sie fest. Sie hatte ihre Dolche in den Händen. Und sie bewegte sich bereits. Was auch immer die Magie in sich trug, Gliedmaßen brauchte es nicht.

Doch diese Barrani waren nicht wie die, mit denen sie trainiert hatte, gedrillt worden war, und auf Patrouille ging. Ihre Klingen trafen. Eine grub sich mitten in eine Barranibrust, eine andere in ein Auge.

Und keine von ihnen zeigte auch nur irgendeine verdammte Wirkung.

Die Macht, die die Wand zerstört hatte, verebbte. Sie hatte dafür gezahlt. Das tat sie immer. Aber nicht jetzt, dachte sie und zwang es, Wahrheit zu sein, auch wenn ihr Körper nicht ganz daran glaubte.

“Lasst sie gehen”, brüllte sie auf Barrani.

Niemand außer Catti antwortete.

Nein, das war nicht richtig. Die Falken antworteten auch.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie wusste, dass sie nicht mehr alleine war, sie musste sich nicht allein neun Barrani in Roben stellen. Tiamaris stand neben ihr. “Kaylin.” Sie erkannte seine Stimme nicht.

Er drehte sich um, hob Severn hoch, und sagte etwas, das sie ebenfalls nicht verstand.

Aber Severn tat es. Er nickte, spannte sich an, und wurde durch die Luft über die stummen Barrani hinwegkatapultiert, als wäre er eine Eisenkugel. Seine Knie und sein Kinn hatte er an die Brust gezogen, sein Schwert bereit und ebenfalls fest an seinen Körper gepresst, während er sich überschlug wie ein Akrobat.

Die Decke des Wachturmes reichte bis in unendliche Höhen. Tiamaris hatte es bemerkt, Kaylin, die die Höhe liebte, hatte nichts gemerkt. Severn und der Drache trugen gemeinsam erst etwa eine Woche das Wappen und den Namen ihrer geliebten Falken, sie selbst seit sieben Jahren. Aber die beiden bereiteten dem Wappen Ehre.

Ihr Mund wurde trocken, als Severn landete, die Beine über Cattis schmalen, sich windenden Körper gespreizt. Sein Schwert glänzte im Licht lavendelfarben, Lavendel und Gold.

Schrecken hatte so viele Namen und so viele Gesichter. Sie hätte allen von ihnen nachgegeben, aber Tiamaris knurrte eine Warnung, und sie hatte gerade genug Zeit, um aus dem Weg zu gehen – denn auf einmal brauchte er sehr viel mehr Platz.

In dem Augenblick stellte sie fest, dass Drache mehr war als nur ein Ehrentitel.

Er hätte rot sein sollen.

Was für ein dummer Gedanke.

Sie konnte sich selbst sehen, in dem plötzlichen Wechsel von menschlich anmutender Haut, die aufbrach, wieder und wieder, wie Erde in den Händen der Götter. Kleine Berge mit zerfurchten Rücken brachen aus Tiamaris’ Haut vor, sie hätte Blut sehen sollen, Muskeln und Sehnen – mehr als nur die polierten, leuchtenden, glänzenden Schuppen aus Bronze. Sie fingen das Licht ein, brachen es, warfen es zurück, und mit ihm auch ein verzerrtes Bild ihrer selbst.

Sie konnte nicht an ihm vorbeisehen, so schnell wuchs er.

Sie konnte seinen Kopf nicht sehen, ehe er seinen Kiefer öffnete und zu ihrer Linken zuschnappte, bis aus jeder Seite seines Mundes etwa ein Drittel Barrani herausragte. Er hatte Flügel. Sie sah, wie er sie anspannte, wie sie durch die Luft peitschten. Sie hatte gehört, dass große Vögel gefährlich waren, und sie wusste, dass die Aerianer ihre Flügel benutzen konnten, um im Kampf Knochen zu brechen – aber das war etwas ganz anderes.

Ehe sie ihre Balance wiedererlangen konnte, waren vier der neun bereits gefallen. Aber die anderen fünf waren in Bewegung, und sie waren auf der Hut. Langsam – langsamer als jeder Barrani, dem sie je gegenübergestanden hatte – bildeten sie einen Kreis. Andererseits wäre jeder andere Barrani, mit dem sie gefochten hatte, schon längst so weit gelaufen, wie sie ihre langen, perfekten Beine tragen konnten. Sogar wenn man ewig lebte, war das Leben wertvoll. Vielleicht dann besonders, weil es so viel mehr zu verlieren gab.

Sie hatte selber Krallen, eine in jeder Hand. Sie umrundete den Drachen – konnte nicht mit seinem Namen an ihn denken – und er ließ sie passieren. Sein Brüllen trug den Duft von Rauch auf der Brise seiner Wut zu ihr.

Die Speere der Barrani trafen seine Flanken, und das Brüllen veränderte sich, aber es verstummte nicht. Er brüllte weiter und weiter, als wäre es eine uralte, ursprüngliche Beschwörung. Sie würde sich auf ewig daran erinnern.

Aber an mehr noch würde sie das erinnern: Severn.

Im Kampf.

Woran sie sich fast nicht erinnerte: Zu atmen. Severn blutete aus mehreren Wunden, seine Rüstung war zerrissen, und auf seiner Stirn glänzte das Rot, das ihr beim Drachen fehlte. Er trug kein Stirnband, das Blut troff ihm die Stirn hinunter in die Wimpern und Augen. Seine Kette mit den Klingen hing immer noch um seine Hüfte, er hatte nicht den Platz oder die Zeit, sie zu lösen und zum Wirbeln zu bringen, um aus ihr eine tödliche Waffe zu machen. Stattdessen verließ er sich auf sein Schwert.

Und die Wölfe, dachte sie, während sie rannte und die Stufen zu den vier Männern in Umhängen hinaufhastete, sollten verdammt stolz auf ihn sein. Er kämpfte gegen vier Barrani und stand immer noch.

Und Catti – Catti lebte noch.

Severn hatte die ganze Aufmerksamkeit ihrer Gegner. Kaylin streckte die Hand aus, griff die Rückseite einer Kapuze, das Fleisch darunter, und zog. Ihr Dolch durchschnitt die Luft, und noch mehr: Haut, Fleisch, Kehle.

Es hätte nicht funktionieren dürfen. Sie hätten schneller sein sollen. Auf einer Ebene war ihr das bewusst, sogar als sie sich über und an dem Mann vorbeidrängte, den sie theoretisch gerade umgebracht hatte.

Dann sah sie, dass zwei der kämpfenden Barrani keine Hände mehr hatten. Sie bluteten. Das war gut. Aber es schien ihnen nicht aufzufallen, und das war unglaublich schlecht. Severn rief etwas, aber sie konnte die Worte nicht erkennen, die Stimme des Drachen verschluckte sie und ließ sie unwichtig werden.

Nein, nicht unwichtig, das niemals.

Sie hatte gedacht, Severn würde Catti umbringen. Sie hatte gedacht – da machte Severn eine rasche Handbewegung und stolperte, als der Dolch eines Barrani ihn traf. Wo seine Worte nicht geholfen hatten, tat es das. Sie hatte Zeit, sich zu ducken, auf den Boden zu kommen, und sich abzurollen, ehe der Schatten von Armen in einem Umhang sie einhüllte. Die Arme eines Barrani ohne Kehle.

Zu lernen, sich auf die Füße abzurollen, hatte drei Wochen und viele blaue Flecken gekostet, und Tain hatte jede verdammte Minute genossen, weil keiner der blauen Flecken zu ihm gehörte. Wenn sie überlebte, würde sie ihm danken. Ihn vielleicht sogar zu einem Drink einladen.

Er hatte sie immer plattfüßig genannt, und “klobige Kaylin” war sein Spitzname für sie gewesen, bis sie einmal drei Wochen lang ein verschimmeltes Sandwich in seinem Schreibtisch versteckt hatte. Ihre platten Füße allerdings standen direkt unter ihr, als sie in die Knie ging und zur Seite austrat. Sie traf die Unterseite des Kiefers, und ihre Stiefel matschten im Blut. Sie behielt ihr Knie oben, drehte sich auf der Stelle und trat rückwärts aus. Dabei trat sie einem der Barrani das Messer aus der Hand, ehe Severn ein Auge verlieren konnte. Bewegung war wichtig, Balance noch wichtiger. Ihre Dolche arbeiteten, und ihre Hände waren rot, aber sie schienen nicht so viel auszurichten wie ihr Gewicht hinter der Kante ihrer Sohlen.

Catti war am Leben.

Sie hätte tanzen können, und im Grunde war sie sich ziemlich sicher, dass sie genau das gerade tat – aber es war ein barranischer Tanz, und die endeten oft tödlich. Sie trat nach einem Barranikopf, als sich der Priester – ja, das war genau das verdammte Wort für die – über Catti beugte. Er stolperte zurück. Sein Dolch hatte ein Zeichen genau über Cattis Nabel hinterlassen, und es war eines von dreien. Es war allerdings nicht tief.

Sie hatten wirklich versucht, Catti umzubringen.

Severn, Severn, Severn.

Sie stellte ihren Fuß an Cattis Seite und spürte, wie Severns Fuß ihren berührte, als er in Position ging, um ihren Rücken zu decken. Von diesem Standpunkt aus konnte Kaylin sehen, dass die Zeichen auf Cattis nackten Armen und Schenkeln glühten. Sie würden für sie immer schwarz sein, aber sie glühten trotzdem.

Lieber Gott, dachte sie, und es war ihr egal, welcher, wenn sie das überlebten, würde sie in Magie besser aufpassen. Sie würde sogar freiwillig mitmachen.

Der Halbkreistritt war ihr langsamster, aber auch ihr höchster. Sie schwang ihr Bein in die Luft und traf einen Unterarm. Er brach nicht, aber er verdrehte sich, und der Barrani, der daran hing, drehte sich mit. Severn benutzte immer noch sein Schwert, und kleine Stücke von Barranileichen häuften sich um sie herum an, aber die Körper, an denen sie nicht mehr hingen, kamen immer weiter nach.

Und dann sah sie bronzenes Licht, den großen, dreieckigen Kopf eines Drachen, und sie lächelte. Nicht einmal der Gestank des Todes, der an seinem rauchigen Atem hing, konnte seine bedrohliche Schärfe mildern.

Der Drache schnappte zwei der vier, und nachdem er sie zur Seite geschleudert hatte, sprach er. Irgendwo in dem Getöse, das einer so großen Kehle entspringen musste, hörte sie den Befehl.

“Bring das Kind hier raus. Sofort.”

Severn stand immer noch zweien von ihnen gegenüber, sie selbst konnte sich frei bewegen. Konnte tun, was bis dahin ihr einziges Begehren gewesen war. Sie zögerte. “Verdammt, mach schon”, sagte Severn, und dieses Mal, da seine Lippen nahe genug an ihrem Ohr waren, um mit der Stimme des Drachen zu verschmelzen, gehorchte sie.

Sie beugte sich nieder, nahm Catti in die Arme und rannte auf den Drachen zu. Catti hätte gelähmt sein sollen vor Angst, aber das war sie nicht. Ihre Arme waren an den Handgelenken gefesselt, doch sie versuchte trotzdem, sie Kaylin um den Hals zu schlingen.

Kaylin schüttelte den Kopf. Catti war nicht das Kind, an das sie sich zuerst während der Trance und dann während der Heilung erinnert hatte. Sie war schwer. Sie war zwölf, genau im richtigen Alter. Im falschen Alter.

“Es tut mir leid”, murmelte sie, als sie das Mädchen umdrehte und sich wie einen Sack über die Schulter warf. Das Gewicht brachte sie aus der Balance, sie konnte auf keinen Fall gleichzeitig kämpfen und das Mädchen tragen.

Aber das musste sie auch nicht. Sie strich an den harten Schuppen des Drachen vorbei und hielt nur eine Sekunde an, weil sie sehen konnte, wo sie aufgerissen waren, gesprungen, oder gespalten.

Aber er war ein Falke. Kaylin war ein Falke.

Und Catti war einer der Menschen, zu dessen Schutz die Falken ins Leben gerufen worden waren. Es gab keine Wahl. Sie verließ den Turm durch den Eingang, den ihre Macht geschaffen hatte, und trat hinaus in das volle, blendende Licht der Sonne.

Severn war zwei Schritte hinter ihr und schob sie fast aus dem Weg. “Lauf zu den Toren!”, rief er, und sie nickte, Catti immer noch über der Schulter. Als sie stolperte, fluchte er. In Koloniesprache, dem Dialekt, der jeden Bewohner der oberen Stadt die Nase rümpfen ließ.

Er nahm Catti von ihrer Schulter, und sie ließ ihn. Sie blieb nur lange genug stehen, um dem Mädchen einen Blick zu schenken, der Trost spenden sollte.

Doch er schmolz.

Auch die Steine schmolzen.

Hinter ihnen, im Wachturm, hatte Tiamaris von der Kaste der Drachen die gefürchtetste seiner Waffen losgelassen: Sein Feuer.

Severn zog sein Hemd aus und gab es Kaylin. Es war eine furchtbar blutige Sauerei und ließ ihre Wäscheberge daneben strahlend weiß aussehen. Aber sie wusste, wofür er es ihr gegeben hatte. Sie durchtrennte schnell die schweren Seile, die Cattis Arme fesselten, und massierte das Blut zurück in ihre Handgelenke.

“Zieh das an”, sagte sie leise und zog Catti das Hemd über den Kopf. Es verfing sich an ihrem roten Haarschopf und fiel wie ein ungünstig geschnittenes Kleid über ihre Schultern.

Sie durchtrennte auch die Seile an den Füßen und half Catti, aufzustehen. “Wir sind in den Kolonien”, sagte sie dem Findelkind. “In der Kolonie Nightshade.”

Cattis dunkle Augen waren geschwollen und aufgerissen zugleich. “War das ein Drache?”, flüsterte sie.

Kaylin nickte.

“Cool! Du hast einen Drachen!”

“Catti, er gehört mir nicht. Er ist ein –”

“Falke”, sagte Severn leise. “Und während du mein Hemd trägst, bist du es auch.”

Das Mädchen sah den Fremden mit gerunzelter Stirn an, und Kaylin war auf einmal unglaublich froh, dass Catti sie nicht vor der Findelhalle miteinander hatte kämpfen sehen. “Was meinst du?”

“Sieh dir deine Brust an”, sagte er. Und dann, mit einem komischen Stirnrunzeln, “oder eher deine Taille.”

Dort sah sie, genau an der Stelle verletzt, wo auch der Drache verletzt war, das Gold gebrochen und rot von getrocknetem Blut, das Emblem des jagenden Falken auf graublauem Grund. Auch gebrochen hatte es noch Macht, für Kaylin vielleicht sogar noch mehr, weil seine Flugkraft getestet worden war, und er nicht ins Wanken geriet.

“Das ist ein Falke”, sagte Catti mit gedämpfter Stimme.

Severn musste sich hinabbeugen, um Catti in die Augen zu sehen, und sein Gesichtsausdruck war vollkommen ernst. “Ja”, sagte er leise, “und die meisten Menschen – so wie Kaylin – müssen sich erst das Recht erwerben, ihn zu tragen. Du bist mutig gewesen, Catti. Für heute hast du es dir verdient, das Emblem zu tragen. Das macht dich für den Augenblick zu einem Falken, und Falken sprechen über solche Dinge nicht.”

Sie nickte.

Kaylin lächelte, weil sie wusste, was die nächste Frage sein würde.

“Auch nicht mit Marrin?”

“Marrin ist eine Ausnahme”, räumte Severn ein. Er stand auf. “Lord Tiamaris”, sagte er, in einem Tonfall, den Kaylin von ihm noch nie gehört hatte. Sie hätte gewettet, dass er so nicht einmal mit dem Wolflord selbst sprechen konnte.

Sie drehte sich um. Eingerahmt zwischen zerklüfteten, schiefen Steinen stand Tiamaris. Verschwunden waren Flügel, breiter Kiefer, langer Schwanz, verschwunden waren bronzene, glitzernde Schuppen. Er hatte wieder Hände und Füße – nackte Füße, schwarz vor Ruß. Er hatte nicht viel an. Und nicht einmal Severns Ausstattung hätte ihn bedecken können.

“Catti”, sagte sie leise, “bleib bei Severn.” Sie sah zu Severn, doch etwas in seinem Gesicht ließ sie den Blick abwenden. Aber er sagte nichts, als sie zurück zu Tiamaris ging.

Er war … versengt. Er blutete. Sein Gesicht hatte Prellungen, und sein Kiefer sah aus, als wäre er von ungefähr hundert der besten Schläger des Koloniallords in den Boden gerammt worden. Aber seine Augen waren rot, ein strahlendes Rot, das mit Rubinen nichts gemeinsam hatte.

“Tiamaris”, sagte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus.

“Nicht”, war seine knappe Antwort. Er trat zurück, und sie wäre ihm gefolgt, aber etwas in seiner Stimme sprach immer noch von der nachhallenden Kraft einer anderen Art.

“Lord Tiamaris”, wiederholte Severn mit klarer und knapper Stimme hinter Kaylins Rücken.

Die inneren Lider des Drachen hoben sich, bedeckten seine Augen und dämpften ihre Farbe. Als Nächstes senkten sich die äußeren Lider, und sein Gesicht verzog sich zu etwas, das Schmerz hätte sein können. Kaylin fiel auf, dass sie wirklich, wirklich wenig über Drachen wusste und dass sie sein Gesicht nicht lesen konnte – aber sie war klug genug, keine Fragen zu stellen. Doch sie beobachtete, wie bronzene Schuppen, so groß wie kleine Schilde, sich durch seine Haut gruben, sich flach auf seine breite, aber doch menschliche Brust legten, und nach unten fortsetzten.

Als er die Augen öffnete, bemerkte er, dass sie ihn anstarrte, und er bot ihr etwas, das sich wie die Erinnerung an ein Lächeln anfühlte, das man mit einem einfachen Blick nicht einfangen konnte. “Kaylin Neya.” Er sprach den Namen, als wäre sie kein Teil davon.

Aber sie nickte dennoch.

“Ich entschuldige mich bei dir und bei deinem Schützling, aber ehe wir Catti in die Findelhallen zurückbringen, müssen wir uns in die Gesetzeshallen begeben.” Sie nickte wieder, ging auf die eingefallene Mauer zu und merkte, dass es einen Grund gab, warum er sich noch nicht bewegt hatte.

“Im Namen der Macht, die mir übertragen wurde”, sagte er ihr fast behutsam, “muss ich dir den Einlass verwähren.”

“Aber die Falken müssen doch sehen, was –”

“Nein”, sagte er leise. “Das müssen sie nicht.” Er wartete, bis er sich sicher war, dass sie seinem Befehl gehorchen würde. Und weil er verletzt war, weil sie wusste, dass er eigentlich in die Krankenabteilung gehörte – egal welche der drei – und zwar so schnell, wie man ihn nur bringen konnte, gehorchte sie.

Erst, als sie zurück auf den Straßen der Kolonien waren – die eher einer Erinnerung an echte Straßen glichen – merkte sie, dass er nicht gesagt hatte, wer ihm seine Macht übertragen hatte.

Ehe sie es geschafft hatten, zur Brücke zu gelangen, die Sicherheit bedeutete – wenn man nicht in der Kolonie Nightshade zu Hause war – fielen Schatten über den Boden. Keine Schatten von Gebäuden, die bewegten sich nur etwa so schnell wie die Sonne auf ihrem Weg über den Horizont.

Doch diese Schatten ließen Kaylin in stummer Freude aufblicken, denn sie wurden von Aerianern geworfen, der deutlichsten Verkörperung des Namens des Lords der Gesetze, dem sie diente. Sie hätte ihre Schatten überall erkannt, denn der Tanz der plötzlichen Dunkelheit, den sie auf die Erde warfen, war immer etwas gewesen, das in ihr Sehnsucht und Freude weckte.

Hier, in Nightshade, bedeuteten sie noch viel mehr.

Nur einer der Aerianer landete, und für einen Falken war er sehr alt: Ein Mitglied der Reserve.

“Gefreite Neya?”, erkundigte er sich mit einem Blick auf ihre verwundeten Begleiter.

Sie salutierte ihm kurz – denn von ihnen dreien war sie die Einzige, die es ohne Schmerzen konnte. Und als sie sah, wie die wettergegerbten Falten um seine Augen sich zum falschen Gesichtsausdruck verzerrten, fügte sie noch hinzu: “Ich bin nicht im Dienst.”

“Du bist suspendiert”, war die vorwurfsvolle Antwort. “Aber in diesem Fall könnte es eventuell sein, dass Lord Grammayre deine Einmischung übersieht.” Er wendete sich an Severn. Seine Flügel bildeten dabei einen starren Bogen über seinem Kopf. Sie bebten, er war länger in der Luft gewesen, als man es ihm zumuten konnte.

“Ist das das vermisste Kind?”

“Ja. Catti von den Findelhallen.”

“Möge der Gott des Fluges euch warme Winde gewähren”, sagte der alte Aerianer sanft. Es war eine steife, konservative Phrase, aber er sagte sie mit so viel Gefühl, dass es Kaylin nichts ausmachte. “Offizier Handred?”

Severn nickte.

“Handred?”, fragte Kaylin und hob ihre Augenbrauen.

“Der Name meines Vaters.”

“Aber du hast gesagt, du weißt nicht, wer –” Sie hielt inne, als auch das andere Wort in ihr Bewusstsein drang. “Offizier?”

Er zuckte mit den Schultern.

“Du hast es nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen.”

“Bei den Falken scheint man auf Form nicht so viel Wert zu legen.”

“Ich will mit Marcus sprechen.”

“Warte, bis deine Suspendierung aufgehoben ist. Ich habe gehört, dass es für Leontiner tatsächlich noch einen Rang unter Gefreitem gibt.”

“Ja. Leiche.”

Er lachte. Der alte Aerianer zuckte bei dem Geräusch zusammen und schüttelte sein ergrauendes Haupt. Seine Flügel jedoch waren noch weiß, und sie waren stark genug, vielleicht stärker, als sie es gewesen waren, als alles Suchen nichts geholfen hatte.

Clint flog in die Höhe, als er sie kommen sah. Hoch in die Luft, der Aerianische Gegenpart zum Salutieren. Die halbe Stadt konnte ihn sehen – in seiner vollständigen polierten Rüstung war das nicht zu vermeiden – doch da die Aerianer in den letzten Tagen wie kleine Wolken über die ganze Stadt hinweggezogen waren, war es nicht so aufsehenerregend, wie es hätte sein können.

Als sie die Treppen erreichten, lag – und schlief – Catti in Severns Armen. Auch er blutete, aber er hatte darauf bestanden, dass er stark genug war, ihr Gewicht zu tragen. Etwas an der Verbitterung in seinen Worten hatte Kaylin überzeugt. Es sah so aus, als wäre die Last für ihn wie ein Geschenk.

Und das war sie.

Clint war auf den Boden zurückgekehrt und machte sich nicht die Mühe, ihnen mit seinem Speer den Weg zu versperren. “Severn”, sagte er, “du siehst furchtbar aus.”

“Du nicht”, entgegnete Severn. Sein Tonfall glich einem Schulterzucken, aber die Schultern hob er dabei nicht. Er wollte Catti nicht wecken.

“Aristo hat bereits Nachricht erstattet”, fügte Tanner hinzu. “Der Falkenlord wartet, und Eisenbeißer ist sein neuer Schatten.”

“Ist er glücklich?”, fragte Kaylin hoffnungsvoll.

“Ist er das je?”

“Ähm, ich trage das Emblem nicht. Das werdet ihr beide euch merken, ja?”

Tanner lachte.

“Marcus versteht das schon”, fügte Clint hinzu. “Ich meine, immerhin bist du nicht zu spät.” In den Worten war mehr als nur Necken. Er streckte die Hand aus und streichelte Cattis Kopf zärtlich. Nicht genug, um sie zu wecken, nur genug, um sich zu versichern, dass sie wirklich da war. Clint war immer jemand gewesen, der die Dinge spüren musste. Sein Lächeln war müde, echt, und im nächsten Augenblick verschwunden. “Ich sollte dir noch etwas sagen.”

Da sie wirklich nicht zu spät war, wartete sie ab.

“Das Arkanum hat uns einen Besuch abgestattet.”

Sie verdrehte die Augen. “Clint –”

“Und der Repräsentant ist noch nicht wieder gegangen.”

Da war noch mehr. Aber anscheinend nicht für ihre Ohren bestimmt. “Tiamaris.” Falls es ihn überraschte, wie Tiamaris angezogen war – und die Schuppen konnten als eine sehr altmodische Rüstung durchgehen, wenn man sie nicht hatte wachsen sehen – zeigte er es nicht.

Der Drache nickte knapp. “Wie erwartet”, sagte er.

“Was?”

Er hob eine halbe angesengte Augenbraue, als er Kaylin ansah. “Du warst wirklich eine schlechte Schülerin, was?”

“Es geht um Magie?”

Er schnaufte. Der Geruch nach etwas, das sie Schwefel nennen wollte – und nicht konnte, weil sie keine Ahnung hatte, wie Schwefel tatsächlich roch – kitzelte sie in der Nase. “Ich habe einige deiner Akten gelesen”, sagte er, “aber selbst ich habe meine Grenzen.”

“Geht schon rein”, sagte Clint zu ihnen allen. “Aber Kaylin?”

Sie hatte sich bereits nahe an die geliebten Flugfedern herangeschlichen. “Ja?”

“Ruf Marrin an.”

“Sie wird ganz bestimmt hier sein, ehe ich den ersten Satz vollendet habe, Clint.”

“Sie sollte es wissen.”

“Ehe ich das erste Wort gesprochen habe. Sie sah nicht gerade … ruhig aus. Und Tiamaris hat gesagt, dass Catti untersucht werden muss, ehe sie nach Hause darf.”

Er zuckte zusammen. In ihm kämpfte der Elternteil mit dem Falken. Der richtige Teil gewann. Er sagte nichts mehr.