5. KAPITEL

Er brachte sie zurück in die Räume, in denen sie aufgewacht war, und dort fand sie auch ihre Dolche. Ihre Kleider waren allerdings immer noch nirgends zu sehen. Als sie ihre Augenbrauen hob, lächelte er. Sein Lächeln war so nah an ihrem Gesicht, dass es fast verschwamm, und sie so tun konnte, als sei es etwas anderes.

Ihre Arme schmerzten. Ihr Kopf tat weh. Und ihre Wange? Blutete immer noch.

Der Koloniallord setzte sich auf ihr Bett. Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren, und sie zuckte zurück – was sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie war so armselig. “Nicht.”

Das Wort gefiel ihm nicht. Sein Gesicht fiel zurück in seine vertrautere, kalte Maske. “Ich will dir nicht wehtun”, entgegnete er. “Und ich habe auch nicht den Wunsch, sterbliche Kinder in mein Bett zu holen. Wer das Glück hat, die Langen Hallen betreten zu dürfen, kommt freiwillig.”

“Freiwillig.” Sie schnaubte.

“Kaylin, es mag sein, dass ich etwas falsch beurteilt habe. Du hast dafür bezahlen müssen. Erlaube dir dennoch nicht zu viel.”

Noch eine Warnung. Zu viele Warnungen. Sie verstummte. Aber sie ließ sich nicht noch einmal von ihm anfassen, und er versuchte es auch nicht. Sie schwiegen eine ganze Weile.

“Meine Kleider?”, fragte sie schließlich.

“Werden dir gebracht, wenn du die Langen Hallen verlässt. Sie sind hier, wie gesagt, unangebracht.” Er stand auf. “Wir werden dich für den Augenblick zu deinen Falken zurückbringen.”

Sie wartete, bis er an der Tür war, und als er es war, stand sie auf. “Ich will meine Arme bedecken”, sagte sie.

Er sagte nichts, sondern wartete einfach ab. Ihre Beine waren wackelig, und sie kam nur langsam, tollpatschig und ohne jede Anmut auf ihn zu. Als er ihr seinen Arm anbot, schluckte sie ihren gesamten Stolz hinunter und nahm ihn an. Es war entweder das, oder einfach vornüberkippen.

Teela hatte sie, nachdem sie ein Jahr bei den Falken gewesen war, zu einem Besäufnis mitgenommen. Damals war es ihr fast genauso gegangen, nur mit mehr Übelkeit. Allerdings nicht viel mehr.

Als er die Tür öffnete, war der Wald verschwunden.

Und stattdessen? Ein langer Korridor. Schon komisch. Sie spürte Magie, als sie durch die Tür ging, und unterdrückte einen Fluch. Es war ein leontinischer Fluch. Marcus wäre entsetzt gewesen, falls irgendetwas ihn entsetzen konnte.

“Du wirst dich etwa zwei Tage lang schwach fühlen”, sagte er ruhig, “falls es dabei bleibt. Iss, was du essen kannst. Trink, was du trinken kannst. Bleib nicht”, fügte er sanft hinzu, “allein.”

“Warum?”

“Ich verstehe nicht alles, was geschehen ist, Kaylin. Aber ich verstehe zumindest dies … durch deine Anwesenheit allein hast du das Siegel aktiviert. Zu meinen Lebzeiten habe ich es niemals brennen sehen. Und glaube mir, dass ich und die Magier, die mir zur Verfügung stehen, es versucht haben.

Ich spreche allerdings nicht von dem Siegel.”

“Euer Name”, flüsterte sie.

“Genau. Meinen Namen zu schenken fällt mir niemals leicht. Es ist, kurz gesagt, das älteste und das gefährlichste unserer Rituale. Es ist eine Bindung, eine dünne Kette. In manchen Menschen zerstört es den freien Willen und die Geistesgegenwart.”

“Ihr meint –”

“Ich hatte nicht vermutet, dass es den gleichen Effekt auf dich haben würde, aber es war ein Risiko.”

Sie hob ihre Augenbrauen. Er lächelte, aber es war ein scharfes Lächeln. “Geschenke der Barrani”, sagte er leise, “haben Dornen oder scharfe Kanten. Denk immer daran.”

Als könnte sie das vergessen.

“Ich würde dir den Namen wieder nehmen”, fügte er sanft hinzu, “aber ich glaube, das würde mir schwerfallen. Und so schwer, wie es dir fiel, den Namen anzunehmen, so schwer fiel es mir, ihn aufzugeben.” Aus seinem Tonfall wurde deutlich, welches von beidem er für wichtiger hielt.

“Lass meinen Arm nicht los”, sagte er ihr ruhig. “Wir werden einige der Meinen treffen, ehe du die Hallen verlassen kannst, und zwei von ihnen haben die Außenwelt lange ehe du geboren wurdest, zum letzten Mal gesehen. Sie werden sich zu dir hingezogen fühlen.” Seine Lippen verloren die scharfe Kante, die sein Lächeln war. “Sie werden dich nicht berühren, wenn sie das Zeichen sehen – aber es blutet, Kaylin, und du lässt nicht zu, dass ich mich darum kümmere.”

“Ich könnte Euch nicht aufhalten”, sagte sie leise.

“Nein. Aber ich habe mich entschlossen, dir in diesem Fall deinen Willen zu lassen. Es ist eine weitere Lektion.”

Die Halle war, wie der Name schon sagte, lang. Sie war auch hoch, aber nicht so hoch wie die große Halle, die zu den Gesetzeshallen führte. In ihren Höhen flatterten keine Aerianerflügel. Es war dort kalt, ruhig und perfekt. Merkwürdig, wie der Mangel an lebendigen Wesen etwas so perfekt erscheinen lassen konnte.

Sie gingen einige Minuten, vielleicht eine Viertelstunde, an verschlossenen Türen vorbei, und an Wandnischen, in denen Brunnen klares Wasser auf uralte Steine ergossen. Sie fragte nicht, woher das Wasser kam. Sie wollte es gar nicht wissen.

Aber als sie an das Ende des Korridors gelangten, erwarteten sie hohe Türen, und die Türen waren verschlossen. An jeder Seite war eine Nische in die Wand gelassen. Und in jeder stand, wie eine lebendige Statue, ein Barrani.

Auf den ersten Blick konnte sie nicht sagen, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie waren gekrönt von dem gleichen dunklen Haar, das ihre ganze Art auszeichnete, und wie ihre unbewegten Gesichter war es perfekt. Ihre Haut war weiß wie Alabaster, und ihre geschlossenen Lider wurden durch einen Wimpernbogen auf die Haut gezeichnet.

Sie bedachte die Warnung des Koloniallords und hielt sich weiter an seinem Arm fest. Er ging neben ihr, bis die Barrani ihn flankierten. “Die Türen müssen geöffnet werden”, sagte er dann leise.

Lider wurden gehoben. Nichts sonst an den Barrani bewegte sich. Kaylin fand das beunruhigend.

Die Türen begannen sich in einem langsamen, langsamen Bogen nach außen zu öffnen. Sie ging auf sie zu, konnte es kaum abwarten, hindurchzugehen, aber der Koloniallord bewegte sich nicht. Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Blick fiel auf die zwei Barrani an ihren Seiten.

Sie sprachen. Ihre Stimmen waren anders als alle Barrani-Stimmen, die sie bisher gehört hatte, sogar die des Koloniallords: Sie zischten fast. Sie erinnerten Kaylin an Geister. An den Tod, der den Namen Nightshade flüsterte.

Aber als sie ihre Hände ausstreckten, um sie zu berühren, erstarrte sie. Die Toten bewegten sich nicht so. Fließend, anmutig, still. Die betrachteten sie wie … Futter.

“Frieden”, sagte der Koloniallord kalt.

Sie schienen ihn nicht zu hören. Eisige Finger berührten ihre Arme. Eisige Finger, die brannten. Unglücklicherweise tat Kaylin das auch.

Die Hand zuckte zurück.

“Gehört sie Euch?”, sagte einer der zwei. Seine Stimme war jetzt kräftiger, als erinnerte er sich wieder daran, wie man sie benutzte. Seine Worte hatten mehr Ausdruckskraft, als sie je bei einem Barrani erlebt hatte, was merkwürdig war, denn sein Gesicht hatte so viel weniger.

“Sie gehört mir”, sagte Nightshade ruhig.

“Gebt sie uns. Gebt sie uns als Zoll für den Durchgang.”

“Ihr vergesst euch”, antwortete er. Er hob eine Hand, und dünne Schatten flossen aus seinen Fingern. Sie strichen über ihre Schulter und die Rundung ihres Arms, ohne sie zu berühren. Sie erstarrte, wo sie stand, denn sie war sich auf einmal sehr sicher, dass sie von diesen Schatten nicht berührt werden wollte.

“Sie riechen Blut”, sagte er ruhig.

Das ergab keinen Sinn.

“Sie sind alt”, fügte er leise hinzu, “und sie haben sich dazu entschieden, hier im Barrani-Schlaf zu verweilen. Sie sind auch mächtig. Weck sie nicht auf, Kaylin.”

“Ihr regiert hier.”

“Ich regiere”, sagte er leise, “weil ich beschlossen habe, mich ihnen nicht anzuschließen. Sie sind ausgestoßen, und sie sind schon lange nicht mehr Teil dieser Welt.” Er hielt einen Augenblick inne, ehe er ruhig weitersprach. “Sie waren schon auf dem Gebiet der Burg, sogar genauso, wie du sie jetzt siehst, als ich sie endlich erobert hatte. Sie haben gegen mich gekämpft. Sie sind mächtig, doch sie sprechen selten.”

“Jetzt sprechen sie.”

“Ja. Das hatte ich schon erwartet. Du hast das Siegel berührt”, fügte er hinzu.

“Gehen sie jemals fort?”

“Nein. Sie sind an diesen Ort gebunden, aber der Bund ist alt und kaum noch zu verstehen. Blut weckt sie auf. Es ist ihr Ruf zum Leben.”

Das war also die Lektion. Sie bedeckte ihre Wange mit einer Hand.

“Sie trägt die Zeichen”, sagte einer der zwei. Das verwirrte Kaylin, bis sie merkte, dass sie nicht über die merkwürdige Blüte des Koloniallords sprachen, sondern über die Zeichen auf ihren Armen. “Lass sie bei uns. Misch dich nicht in die Angelegenheiten der Alten ein.”

“Sie ist sterblich”, entgegnete der Koloniallord. “Und nicht an die Gesetze der Alten gebunden.”

“Sie trägt die Zeichen”, sagte der Barrani wieder. “Sie trägt die Worte in sich.”

“Das kann sie nicht.”

Dann Stille. Schatten.

“Sie ist fast gebunden”, antwortete eine flache, kalte Stimme schließlich. “Wie wir gebunden sind. Wir gewähren Dir Durchgang, Lord der Langen Hallen.”

Kaylin trat im Schatten des Koloniallords zwischen ihnen hindurch, aber sie spürte, wie ihre Augen ein Loch zwischen ihre Schulterblätter brannten, und sie schwor sich, dass sie nie wieder durch ein Schattentor treten würde, nicht einmal, wenn ihr Leben auf dem Spiel stand. Sie hatte schon Hunger gelitten, aber nie, wie diese beiden es taten, und sie wollte nicht diejenige sein, die diesen Hunger stillte.

“Du wirst hier nicht von ihnen sprechen”, befahl er ihr.

“Ich –”

“Ich verstehe, dass du mit Lord Grammayre sprechen wirst. Ich verstehe auch, dass er die Tha’alani rufen wird, wenn deine Aussage nicht ausreicht.”

Sie schüttelte sich. “Das wird er nicht”, fuhr sie ihn an.

“Du trägst bereits den Duft ihrer Berührung. Es ist … unangenehm.”

“Nur einmal”, flüsterte sie, aber sie erblasste.

“Vertrau Lord Grammayre nicht zu sehr”, sagte er leise.

“Euer Name –”

Er lächelte. “Nicht einmal die Tha’alani können ihn berühren. Kein Sterblicher kann das, wenn er ihnen nicht geschenkt worden ist, und sie haben den Preis nicht gezahlt. Der Name, Kaylin Neya, gehört allein dir. Wenn er dich ausfragt, antworte ihm. Ich gebe dir die Erlaubnis dazu.”

“Warum?”

“Weil der Lord der Falken und der Lord von Nightshade an verschiedene Gesetze gebunden sind. Wir haben verschiedene Informationen, und ich bin neugierig darauf, zu sehen, was er jetzt in dir sieht.”

Er trat durch die Türen, die sich langsam hinter ihm schlossen. Als Kaylin sich umsah, waren an ihrer Stelle nur glatte, leere Wände. Aber an ihren Rändern, oben und unten, entdeckte sie die verschnörkelte Runenschrift, mit der sie mittlerweile vertraut war.

“Nicht einmal ich kann sie befreien”, sagte er leise. “Ich habe es nur ein einziges Mal versucht.”

Sie wollte etwas sagen, doch zu ihrer Beschämung kam ihr der eigene Magen zuvor. Er knurrte.

Seine schön geschwungenen schwarzen Brauen hoben sich überrascht, dann lachte er. Sie wollte das Geräusch hassen. “Du bist sehr menschlich”, sagte er leise. “Und ich sehe so wenige von euch.”

Das erinnerte sie an etwas. “Severn”, sagte sie.

“Ja. Vielleicht der letzte deiner Art, mit dem ich mich länger unterhalten habe.”

“Warum?”

Das Lachen war vergangen, und das Lächeln, das an seine Stelle getreten war, war wie Ebenholz, hart und glatt. “Frag ihn.”

“Er antwortet nicht.”

“Nein. Aber frag ihn trotzdem. Das wird mich amüsieren.”

Als sie die nächste Halle verließen, hörte sie Stimmen.

Eine war besonders laut. Und kam ihr sehr bekannt vor. Sie schloss die Augen, ließ den Arm des Koloniallords los, und stolperte, als sie die schimmernde Seide ihres Kleides in den Fäusten zusammenballte. Sie hob den Rock ihres eleganten Kleides, befreite ihre Füße, und zog nach einem Augenblick des Zögerns auch ihre Schuhe aus. Sie schüttelte sie mit scharfen Tritten in verschiedene Richtungen ab. Der Boden unter ihren Füßen war kalt. Kalt und hart.

Egal.

Sie erkannte sowohl die Stimme als auch den wesentlichen Inhalt, und begann zu rennen. Die taumelnde Bewegung erinnerte sie daran, wie schwach ihre Beine waren. Aber sie waren gerade stark genug. Sie gelangte ans Ende des Korridors und bog um eine scharfe Ecke.

Dort, in einem Raum, der fröhlich war und hell – ganz anders als das, was sie vom Rest der Hallen gesehen hatte – waren Severn, Tiamaris und die zwei Barrani, die Lord Nightshade als Wache begleitet hatten.

Die Wachen hatten ihre Waffen gezogen.

Severn hielt die Glieder einer dünnen Kette in der Hand. Am Ende dieser Kette hing eine flache Klinge. Sie hatte noch nie gesehen, wie er eine Waffe dieser Art benutzte, und wusste, dass es ein Geschenk der Wölfe sein musste.

Und sie wollte nicht sehen, wie er hier davon Gebrauch machte.

“Severn!”, rief sie.

Seine wütende Forderung wurde in der Mitte von ihrer Stimme unterbrochen. Es hätte ihn aufhalten müssen.

Aber er starrte sie bloß an, das Kleid, das sie trug, ihre nackten Schultern und Arme, ihre nackten Füße, das Blut – verdammt sollte der Koloniallord sein, verdammt in welche Hölle auch immer die Barrani gesteckt wurden – auf ihrer Wange, ehe er die Richtung wechselte und begann, die Kette zu schleudern.

Und sie kannte den Ausdruck auf seinem Gesicht. Hatte ihn schon in den Kolonien ein paar Mal gesehen. Es hatte immer mit Toten geendet.

Dieses Mal allerdings glaubte sie, dass der Falsche sterben würde. Sie bewegte sich, ehe sie nachdenken konnte – nachdenken dauerte verdammt noch mal zu lange, – und stellte sich vor ihn, vor ihn, und zwischen Severn und den Koloniallord, der den Raum so leise betreten hatte, als würde er ihm gehören.

Das tat er ja auch.

“Severn!”, rief sie und hob ihre Hände, leere Hände, und an einer klebten noch braune Spuren ihres eigenen Blutes. “Severn, er hat mich nicht angefasst!”

Severn sah ihr in die Augen. Die Kette bewegte sich jetzt so schnell, dass sie eine Wand bildete, eine Wand aus Metall. Er verkürzte seinen Griff, aber er hörte nicht auf, sie zu wirbeln.

“Severn, leg das hin.”

“Wenn er dich nicht angefasst hat, wieso bist du dann so angezogen?”

“Lass die Kette fallen, Severn. Steck sie weg. Du bist als Falke hier. Und der Falkenlord will keinen Konflikt mit dem Koloniallord. Es ist dir nicht gestattet, zu sterben. Nicht hier.”

Wenn er es tat, war sie sich nicht sicher, dass er der einzige Tote bleiben würde. “Fang keinen Krieg mit den Kolonien an”, brüllte sie. Musste sie brüllen. “Er hat mich nicht angefasst. Ich bin nicht verletzt.”

“Du blutest”, sagte er.

“Das Zeichen blutet”, fuhr sie ihn an. “Und ich brauche deinen Schutz nicht, verdammt noch mal – ich bin ein Falke. Ich kann auf mich selbst aufpassen!”

Dann endlich wurde er langsamer. Sie hatte ihn. “Ich brauche keinen Schutz”, sagte sie noch einmal, und dieses Mal lagen in den Worten mehrere Bedeutungen für sie beide, und nur für sie beide.

Sein Gesicht zeigte das erste Gefühl, das nicht Wut war. Und nachdem sie es gesehen hatte, war sie sich nicht sicher, ob ihr Wut nicht besser gefiel.

“Nein”, sagte er schließlich schwerfällig. Die Kette hörte auf zu wirbeln. “Es ist lange her, seit ich das noch konnte. Dich beschützen.”

Tiamaris, aus der Kaste der Drachen, erhob eine Stimme, die die ganze Länge der Langen Hallen entlanggeschallt wäre. “Gut gemacht, Kaylin. Severn, ich glaube, es ist Zeit für den Rückzug.” Sie sah, dass seine Augen rot loderten. Auch er war für einen Kampf bereit gewesen.

“Deinen Begleitern fehlt es an einer gewissen Weisheit”, sagte der Koloniallord nahe an ihrem Ohr.

“Was hast du hier getan, Koloniallord?” Tiamaris’ Stimme war leise. Gefährlich.

“Was du vermutest, Tiamaris.”

“Das war … leichtsinnig.”

“In der Tat.” Er gab es beiläufig zu. “Und ich bin nicht der Einzige, der dafür zahlen wird. Bringt sie nach Hause. Sie wird einige Zeit brauchen, um sich zu erholen.”

Severn wickelte die Kette langsam wieder um seine Hüfte. Er trat vor und fing Kaylin auf, als ihre Knie nachgaben. Sein Griff, eine Hand um jeden ihrer Oberarme, war nicht sanft. Kaylin wehrte sich nicht gegen ihn.

“Die Toten, Koloniallord?”, sagte Tiamaris leise. Oder so leise, wie seine Stimme es zuließ.

“Drei Tage”, sagte der Koloniallord, “zwischen dem ersten und dem zweiten.”

“Und wie lange ist es jetzt her?”

“Ein Tag seit dem letzten Opfer. Wenn es ein Muster gibt, wird es sich beim nächsten zeigen.”

“Warum nennt Ihr sie so?” Kaylin sah auf und blickte zu ihm zurück.

“Weil wir glauben, Kaylin, dass es sich darum handelt. Opfer. Hat der Falkenlord das nicht erwähnt?”

Nein, natürlich nicht, dachte sie, jetzt verbittert. Verbittert und ausgelaugt.

“Du wirst in die Kolonien zurückkehren”, fügte er leise hinzu. “Und in die Langen Hallen.”

“Den Teufel wird sie tun”, sagte Severn.

Sie starrten einander lange an, und dann drehte der Koloniallord sich um und ging davon.

Natürlich war Nacht in den Kolonien.

Und sie spazierten darin herum. Oder vielmehr Severn und Tiamaris, Kaylin stolperte hinter ihnen her. Severn stützte sie, so lange er konnte, aber schließlich knurrte Tiamaris und hob sie einfach hoch. Er war nicht so sanft wie der Koloniallord, weil er ihr nicht so gefährlich nahe kam.

Es war ihr so lieber.

“Kaylin”, sagte Tiamaris leise. “Begreifst du, warum es die Kolonien gibt?”

Sie zuckte mit den Schultern. Oder versuchte es zumindest, es war schwer, wenn man in den Armen eines Drachen lag.

“Hast du dich das je gefragt?”

“Hundert Mal”, sagte sie verbittert. “Tausend Mal. Manchmal an einem einzigen Tag.”

Tiamaris legte die Stirn in steife Falten. “Ich merke schon, Lord Grammayre hatte alle Hände voll zu tun, falls er versucht hat, dir etwas beizubringen.”

“Ich brauche keine Geschichtsstunden. Die helfen mir nicht, zu überleben.” Die Worte hallten durch ihr ganzes Leben wider. Originell waren sie jedenfalls nicht.

“Gesprochen wie ein wahrer Falke”, entgegnete Tiamaris.

Sie zuckte wieder mit den Schultern. Auch wenn er keine Rüstung trug, war seine Brust hart. “Ich glaube”, sagte er leise, “wir überlassen das Lord Grammayre.”

“Nein”, sagte sie, jetzt müde, “ich glaube, ich weiß, was du wissen willst.”

“Oh?”

“Du willst wissen, ob ich mich je gefragt habe, warum die Lords der Gesetze die Koloniallords nicht einfach für immer ausgeschaltet haben.”

“Ganz genau.”

“Teufel, das haben wir uns alle gefragt.”

“Es gibt einen Grund. Ich glaube, du fängst langsam an, ihn zu begreifen. Die Kolonien sind der älteste Teil der Stadt. Sie sind, mit Ausnahme von den Ruinen im Westen und Osten von Elantra, der älteste Teil des Imperiums; sie bestehen seit dem Aufkommen der Kasten.

“Ich … habe einige Zeit in den Kolonien verbracht, habe die alten Schriften studiert und die alte Magie. Ich war dabei nicht allein, aber über die Hälfte der Magier, die mit mir ausgesendet wurden, hat es nicht überlebt. Die alte Magie lebt noch, auch wenn ihre Erschaffer es nicht mehr tun. Es gibt einige Orte in den Kolonien, die nicht erobert werden könnten, ohne die halbe Stadt zu zerstören, falls man sie überhaupt erobern kann. Sie alle tragen gewisse … Zeichen.”

Ihr Kopf tat weh, und sie wollte nicht nachdenken. Aber sie strengte sich an. “Die Tätowierung”, sagte sie schwach.

“Ja. Es ist das einzige Lebendige, das ich – oder jeder von uns – je gesehen habe, das von den Alten spricht. Deshalb hast du uns immer interessiert.”

“Habe ich?”

Darauf sagte er nichts.

Im Dunkel der Straßen der Kolonien bewegten sich Schatten. Sie waren nass und weiß, eine verschwommene Bewegung, die eine Armlänge über dem Boden kauerte. Severn fluchte.

Kaylin trug immer noch die feinen Kleider aus Nightshade, aber sie hatte ihre Dolche wieder. Sie hatte sich nicht umgezogen, weil sie es nicht unbeobachtet tun konnte und sie nicht versessen darauf gewesen war, sich vor allen auszuziehen. Severn hatte ihre Kleider an sich genommen. “Was?”, fragte sie zu scharf.

“Die Wilden”, sagte er.

Sie fluchte richtig. Sie hatte schon immer besser geflucht als Severn.

Im Mondlicht – dem hellen Mondlicht – konnte sie sehen, dass Severn recht hatte. Die Wilden waren zum Spielen herausgekommen. Und wenn die Falken nicht verdammt vorsichtig waren, würde am Morgen ein Kind aus dem Haus kommen – um ebenfalls zu spielen – und entdecken, was die Wilden hinterlassen hatten.

Sie hatte so etwas selbst ein oder zwei Mal gefunden. Ganze Albträume blieben ihr von diesen Erfahrungen.

“Severn?”

Er löste bereits die lange Kette von seiner Hüfte. “Es sind nur zwei”, sagte er leise. Nichts in seiner Stimme verriet seine Angst. Auch nichts in seiner Haltung. Sie fragte sich, ob er sich so sehr verändert hatte, dass er tatsächlich keine spürte.

Sie hatte es nicht.

Tiamaris setzte sie ab. “Beweg dich nicht”, sagte er ihr grimmig. Ihre Hand lag bereits auf einem Wurfmesser, sie hatte es aus dem Gürtel gezogen, und das Mondlicht blitzte auf einer seiner zwei Schneiden. Aber ihre Hand war schwach, und sie wusste, dass sie nicht die Kraft hatte, es richtig zu schleudern. Fragte sich, ob das die Art des Koloniallords war, sie loszuwerden.

Ihre Augen hatten sich bereits an das Mondlicht gewöhnt. Sie konnte den vierbeinigen Gang der Kreaturen erkennen, die in der Nacht die Straßen der Kolonien regierten. Es waren nicht viele, und das mussten es auch nicht sein. Wenn man Glück hatte, schaffte man es durch den Teil der Nacht, den man durchschreiten musste, ohne je eine von ihnen zu erblicken.

Mit weniger Glück? Musste man sie immerhin nur einmal sehen.

Sie hatte diese schrecklichen Wesen als Kind nie sehen müssen. Aber später?

Später, mit Severn an ihrer Seite, hatte sie es getan. Die Erinnerung traf sie ganz plötzlich. Sie sah Severn, wie er jetzt war, und Severn von damals. Die sieben Jahre machten einen Unterschied. Die Waffe, die er trug, machte einen noch größeren.

Mit ihrer Hand auf einem Dolch stand sie zwischen Tiamaris und Severn und wartete ab. Das leise Knurren der jagenden Wilden ließ ihre Haare fast aufrecht stehen. Auf jeden Fall machte es ihre Haut weniger glatt durch die Gänsehaut.

Die Wilden waren nicht so dumm wie Hunde. Sie waren nicht so faul wie Katzen. Sie waren, soweit man das sagen konnte, überhaupt nicht wie Tiere. Aber was sie waren, wusste niemand genau. Nur tödlich. Sie spürte, wie die Anspannung ihren ganzen Körper aufrechter stehen ließ. Sie stemmte ihre Füße fest in den Boden.

Als sie sich den Wilden das letzte Mal gestellt hatte, war sie an Tiamaris’ Stelle gewesen, und zwischen sie und Severn hatte sich ein Kind gekauert. Ein verlorenes Kind. Ein dummes Kind. Aber es war noch am Leben.

Es gefiel ihr nicht, welche Parallelen ihre Erinnerung mit der Situation zog.

Severn wartete, seine Kette eine bewegliche Mauer. Er atmete nicht einmal schwer. Er sprach ihren Namen ein einziges Mal, und sie antwortete mit einem kurzen Knurren. Das reichte.

Die Wilden griffen an.

Sie setzten gemeinsam zum Sprung an, die Kiefer weit aufgesperrt und stumm. Das Mondlicht schien keinen Schatten unter ihren Körpern zu werfen, doch es war dunkel genug, um überall Schatten zu sehen. Severns Kette verkürzte sich, als er sie plötzlich einzog, und verlängerte sich dann, als er losließ.

Wildes Knurren wurde zu einem schmerzerfüllten Heulen, und eine abgetrennte Pranke flog an Kaylins Ohr vorbei.

Tiamaris hatte keine vergleichbare Waffe. Er wartete ab.

Der Wilde, der ihn angegriffen hatte, landete nur ein kurzes Stück vor ihm und knurrte bedrohlich. Tiamaris öffnete den Mund und brüllte.

Das, dachte Kaylin und zuckte zusammen, würde die ganze verdammte Kolonie aufwecken. Aber sie beobachtete, wie der Wilde erstarrte, und sah dann erstaunt, wie er sich mit eingezogenem Schwanz umdrehte. Wie ein Hund. Hatte sie wirklich Angst vor diesen Kreaturen gehabt?

Der, dem Severn gegenüberstand, verlor noch eine Pranke, und dann sein halbes Gesicht. Er brach zusammen.

“Kaylin?”

Sie schüttelte den Kopf.

“Komm”, sagte er leise. “Wo zwei von denen sind, sind wahrscheinlich noch mehr.”

“Nicht heute Nacht”, widersprach Tiamaris leise. Er hob Kaylin wieder hoch, und begann sich zu bewegen.

Sie überquerten die Brücke über den Ablayne im Mondlicht. Die Gesetzeshallen dräuten in der Ferne, wie Schattenlords. “Kaylin”, sagte Tiamaris leise, “der Falkenlord wird auf dich warten.”

“In Ordnung”, sagte sie, das Gesicht an seine Brust gepresst. “Aber er sollte mir lieber Überstunden bezahlen.”

Kaylin mochte schlafen – manchmal tat sie das wirklich – aber die Gesetzeshallen taten es nie. Die Besatzung änderte sich; die Wache änderte sich. Die Büros, die Leitung zwischen einem Labyrinth der Bürokratie und dem nächsten, standen allerdings leer. Dafür war sie dankbar. Severn hatte die Klinge seiner Waffe gereinigt und die Kette wieder um seine Hüfte geschlungen. Aber er wich nicht von ihrer Seite.

Die Wachen am inneren Tor waren Aerianer. Clint war nicht dabei, aber sie erkannte die älteren Männer. Sie waren etwas spießiger als Clint, aber sie mochte sie trotzdem.

“Holder”, sagte sie.

Er hob eine Augenbraue. “Du bist so angezogen auf eine Razzia gegangen?”

“Es war keine Razzia.”

“Oh, noch besser. Sieh dir deine Wange an, sie –” Er runzelte die Stirn.

“Sie hat aufgehört zu bluten”, bot sie ihm an, aber sie war selbst ruhig geworden. In den Kolonien war es ihr schon verstörend vorgekommen, ein Zeichen zu tragen – aber sie hatte es auch auf eine Art selbstverständlich gefunden, die sie jetzt nicht mehr nachvollziehen konnte. Holden kniff seine dunklen Augen zusammen. “Der Falkenlord erwartet dich”, sagte er schließlich und senkte seine Waffe. “Und du solltest lieber eine verdammt gute Erklärung für ihn parat haben.”

Sie nickte und ging durch das Tor. Oder vielmehr, Tiamaris ging und trug sie dabei. Severn schlenderte hinter ihnen her.

Als sie das Hauptbüro erreichte, sah sie überrascht, dass Marcus noch im Dienst war. Er war allerdings nicht überrascht, sie zu sehen, was Kaylin einen Blick voll unverhohlenem Misstrauen zu Tiamaris werfen ließ.

“Ich habe Nachricht geschickt”, sage er ruhig. “Ich habe einen der Spiegel in der Burg benutzt.”

“Aber die Spiegel in der Burg können doch unmöglich auf dich eingestimmt …” Sie sah seinen Blick und hielt schnell den Mund.

“Ihr habt sie da rausgeholt”, sagte Marcus, seine Worte kaum mehr als ein Knurren. Er war müde. Müder Leontiner war besser als wütender Leontiner – aber nur um Schnurrhaarbreite. Seine bebten.

“Kann man so sagen”, antwortete Tiamaris kühl.

Was auch immer zwischen dem Hauptmann und dem Drachen stand, dachte Kaylin, würde immer ein Problem sein. Aber dieses Mal ließ Marcus ihn ohne Kommentar passieren.

Severn allerdings blieb stehen. “Ich gehe nicht nach oben”, sagte er leise. “Ich warte hier auf dich.”

“Das kann dauern”, antwortete sie ohne viel Hoffnung. “Geh nach Hause.”

Er begegnete ihrem Blick und erwiderte ihn. Und sie erinnerte sich, dass sie Severn noch nie hatte sagen können, was er zu tun hatte. Oh, sie hatte ihm immer Befehle erteilt – aber er hatte sich ausgesucht, welche er befolgte, und den Rest ignoriert. Sie hätte ihn darauf angesprochen, aber er war wütend. Ganz verspannt vor Wut, bereit, jederzeit hochzugehen.

“Kaylin”, sagte Marcus.

Sie richtete sich auf, damit sie über Tiamaris’ Schulter sehen konnte.

Der Hauptmann schnaubte. “Du hast in den Kolonien nichts zu suchen. Sag dem alten Bastard, dass ich das gesagt habe.”

“Ja, Sir.”

Der Turm zog unter ihr vorbei. Es war interessant, ihn aus dieser Perspektive zu sehen, interessant und ein bisschen beschämend. “Ich kann gehen”, murmelte sie.

“Das wirst du noch früh genug müssen”, entgegnete Tiamaris. Er erklomm die Treppen, ohne anzuhalten, bis er die Türen erreichte, die, wie immer, bewacht waren. Dort blieb er stehen und setzte Kaylin ab.

Sie erkannte keinen der beiden Aerianer, und das war ungewöhnlich. Aber einer von ihnen, mit einem grimmigen Gesicht, nickte Tiamaris zu. “Der Lord der Falken wartet”, sagte er ruhig. “Er bittet Euch, einzutreten.”

Tiamaris nickte.

Kaylin starrte die beiden einen Augenblick an, ging dann an den Wachen vorbei und verzog das Gesicht, als sie ihre Hand auf das Siegel an der Tür legte. Was für ein toller Abschluss für einen viel zu langen Tag.

Doch der Falkenlord musste sie bereits erwartet haben, denn die Tür öffnete sich, ehe sie sie berührt hatte. Erstaunt sah sie dabei zu, bis sie sich an die zwei Fremden hinter ihrem Rücken erinnerte. Dann drückte sie ihre Schultern durch und betrat den Raum. Lord Grammayre wartete tatsächlich, allerdings nicht in der Mitte des Raumes. Stattdessen stand er vor einem hohen, ovalen Spiegel an der östlichen Seite der gewölbten Wand. Ihre Augen trafen sich im Spiegelbild, seine blickten kühl.

Dann war es schlimm. Es gab Tage, an denen sie ihm tatsächlich ein Lächeln entlocken konnte. Tage, an denen sie ihn zum Lachen brachte, auch wenn sein Lachen kurz und grollend war. Es gab auch Tage, an denen sie ihn dazu brachte, seine Stimme aus Wut gegen sie zu erheben. Alle diese Tage schätzte sie.

Nichts davon würde heute Nacht geschehen.

“Lord Grammayre”, sagte sie und beugte sich steif in der Taille, ehe sie sich auf ein Knie fallen ließ. Sie musste eine Hand auf den Boden stützen, um das Gleichgewicht zu halten, und gab alles in allem eine armselige Vorstellung ab.

Tiamaris, theoretisch auch ein Falke, beugte oder kniete nicht. Er bot dem Falkenlord ein Nicken an, das zwischen Gleichgestellten als höflich angesehen werden würde. “Lord Grammayre”, sagte er ruhig.

“Tiamaris. Du hättest sie fast verloren.”

Tiamaris sagte nichts.

“Kaylin. Erhebe dich.”

Sie stand auf. Sie hasste die Formalitäten im Turm mehr als fast alles andere – weil Formalitäten Distanz bedeuteten, und Distanz es war, was er zwischen ihnen errichtete, wenn etwas Schlimmes bevorstand. Normalerweise ihr.

“Kaylin, ich möchte von dir wissen, was in der Burg Nightshade passiert ist.”

Sie nickte.

“Du wirst in die Mitte des Kreises treten, ehe du antwortest, und dort stehen bleiben, bis ich fertig bin.”

Sie verzog das Gesicht, mehr Widerstand bot sie allerdings nicht.

Tiamaris überraschte sie. “Erlaubt ihr, zu sitzen”, sagte er ruhig. “Wenn sie gezwungen wird zu stehen, glaube ich nicht, dass sie die Befragung übersteht.”

“Sie ist ein Falke”, sagte der Falkenlord kalt. Eine Warnung.

“Sie ist ein Mensch”, antwortete der Drache.

Der Falkenlord hob seine blassen Brauen nur ein kurzes Stück und blickte zu Kaylin. Nach einem Augenblick zuckten seine Flügel. Es war für Aerianer das Gleiche wie ein Schulterzucken.

Sie trat in den Messingkreis vor, der in den Steinboden eingelassen war. Sie wusste, wozu er diente. “Nicht loslegen, ehe ich drin bin”, flüsterte sie.

Falls er sie gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Aber er wartete.

Er ging auf sie zu und blieb dann stehen. Seine Füße berührten den Kreis, als er ihre Wange berührte. “Das ist ein Zeichen der Barrani”, sagte er.

Sie sagte nichts.

“Nightshade.” Das Wort klang wie ein Fluch. Nur kälter. “Warum?”

“Er dachte, es würde mich schützen.”

“Das bezweifle ich, Kaylin”, entgegnete der Falkenlord. “Das bezweifle ich sogar sehr. Tiamaris, kann man es entfernen?”

“Es wird nicht leicht”, antwortete Tiamaris. “Und ohne die Erlaubnis des Lords, der das Zeichen bewirkt hat, überhaupt nicht. Nicht von einem Menschen.”

Kaylin hörte das deutliche der nicht sterben soll, das er nicht aussprach.

“Wie wahrscheinlich ist eine solche Erlaubnis?”

“Meiner Meinung nach? Überhaupt nicht.”

“Wie ich es mir dachte.”

“Ich kann es wahrscheinlich abdecken”, bot sie an. Sie war darin mit den Jahren gut geworden. Blaue Augen und rote Striemen dienten nicht dazu, dass die Büromitarbeiter sich beschützt fühlten.

Tiamaris schüttelte den Kopf. “Grammayre, habt Ihr der Gefreiten so wenig beigebracht?”

“Ich habe sie gelehrt”, antwortete der Falkenlord hörbar verärgert, “was sie lernen wollte.” Er wendete sich an Kaylin. “Das Zeichen kann vor sterblichen Blicken versteckt werden. Die Aerianer werden es vielleicht nicht erkennen. Die meisten Menschen ebenfalls nicht. Aber die Leontiner können es riechen, und die Barrani? Du könntest dir die Wange abschneiden, und sie würden es immer noch wissen. Nicht”, fügte er hinzu, als wäre das nötig, “dass du das versuchst.”

Er senkte seine Hand, trat jedoch nicht zurück, stattdessen hob er ihren Arm, der von der Schiene eingefasst wurde. Er sah sie an und berührte sie dann vorsichtig, und seine Finger glitten in einer Reihenfolge über die Edelsteine, wie ihre es getan hatten.

Sie öffnete sich nicht. Es war eine andere Reihenfolge. Er runzelte die Stirn. Verließ den Kreis. Sie streckte ihre Hand aus ohne nachzudenken und packte seine Hände, sie war so müde. Seine Augenbrauen hoben sich kaum merklich, sie spürte die Zurechtweisung in seinem Gesichtausdruck und zwang sich, ihn loszulassen.

Aber als er den Kreis verließ, wurde sein Gesichtsausdruck ein wenig weicher und erlaubte es, dass sich die kleinste Spur von Müdigkeit in ihm zeigte. “Ich vertraue darauf, dass du mir die Wahrheit sagst, so wie sie sich dir offenbart hat”, sagte er ruhig. “Aber ich vertraue dem Lord Nightshade nicht. Der Zauber ist keine Strafe.”

Er hob seine Hände, und seine Flügel hoben sich mit ihnen, bis sie zur vollen Spannweite ausgebreitet waren. So wie jetzt fand sie den Falkenlord auf eine Art schön, auf die sie nur weniges jemals schön fand. Und er wusste es. Hatte es immer gewusst. Er zeigte so viel Gnade, wie er bereit war zu geben. Es hätte keinen Unterschied machen dürfen, aber das tat es.

Er begann sie auszufragen, und sie antwortete, während sie seine Flügel anstarrte, besonders die langen Flugfedern.

Sie berichtete ihm von den Langen Hallen. Sie berichtete vom Wald. Und dann, stockend, berichtete sie von dem Raum hinter den Bäumen. Der Kreis, der sie einschloss, leuchtete immer, wenn sie zu Ende gesprochen hatte, auf eine besondere Art golden auf.

Aber als sie von der Säule aus blauen Flammen sprach, hob er eine Hand.

“Kaylin”, sagte er leise, “bist du dir sicher?”

Sie nickte.

“Tiamaris?”

“Sie hat gesehen, was keiner der überlebenden kaiserlichen Magier jemals zu Gesicht bekommen hat”, sagte der Drache ruhig, in fehlerfreiem Barrani, das nur von Vorsicht gezeichnet war. “Ihre Worte faszinieren mich, aber ich zweifle nicht an ihnen.”

“Warum?”

“Ihr wisst genau, warum sie diese Zeichen trägt.”

Der Falkenlord nickte grimmig. “Aber was bedeuten sie? Warum ausgerechnet sie?”

“Das ist schon immer die Frage gewesen, Grammayre. Die Antwort interessiert auch den Kaiser.”

“Ich weiß. Kaylin – zeig mir deine Arme.”

Sie hob sie. Sie zitterten.

Tiamaris trat an den Rand des Kreises, doch er betrat ihn nicht. Er zog allerdings die Augenbrauen zusammen. “Ich will die bildlichen Aufzeichnungen sehen”, sagte er, distanziert, die Augen ein blasses Gold.

Der Falkenlord zog seinerseits die Brauen zusammen. Er deutete auf den Spiegel und sprach drei Worte schnell hintereinander. Der Spiegel begann zu glühen. Kaylin hasste Spiegel einfach.

Die Oberfläche dieses Exemplars glimmerte und bewegte sich, und als sie sich wieder klärte, sah sie ihre Arme aus nächster Nähe. Der Falkenlord war nicht klein, und es war sein Spiegel. Tiamaris sah einige Zeit in den Spiegel, dann hinab auf ihre Arme. “Sie haben sich verändert”, sagte er leise.

Der Falkenlord runzelte die Stirn. Er stellte sich neben den Drachen und untersuchte ebenfalls die Symbole, die Kaylins inneren Arm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen bedeckten. “Man sieht es kaum”, sagte er schließlich, “aber du hast recht.” Er sah Kaylin an, die Augen klar, fast grau. Magie.

“Bis auf das Zeichen des Ausgestoßenen sehe ich keinen Unterschied an ihr”, bemerkte er schließlich.

“Entfernt die Armschiene, Grammayre, und seht dann noch einmal nach.”

Der Falkenlord zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. “Noch nicht”, sagte er ruhig. “Kaylin, du hast gute Arbeit geleistet. Geh nach Hause.” Er schwieg einen Augenblick, ehe er noch etwas hinzufügte. “Entferne die Hülle nicht, ehe ich es dir befehle.”