17. KAPITEL
Anscheinend zählte Lord Evarrim wirklich.
Marcus sorgte allerdings dafür, dass die Drachen es nicht an ihr ausließen – jedenfalls nicht sofort. Er blickte zu Severn. “Handred, zu den Sanitätern. Sofort.”
Severns Zögern zeigte sich nicht durch nervöse Bewegungen. Er stand einfach da und wartete ab.
Wartete, wie Kaylin verspätet klar wurde, auf sie. “Ich sorge dafür, dass er sofort hinkommt”, sagte sie, legte eine Hand in sein Kreuz und versuchte, ihn unmerklich anzuschieben. “Und wir bringen Catti zu Marrin zurück.”
“Nein”, sagte Lord Sanabalis, “das werdet ihr nicht.”
Die Haare in Kaylins Nacken stellten sich auf. Es wäre offensichtlicher gewesen, wenn Marcus’ Fell ihr nicht zuvorgekommen wäre. Die weiß-goldene Unterseite des Fells, nahe an seiner Haut, war sichtbar. Genau wie seine Zähne. Seine schwarzen Lippen waren darüber zurückgezogen.
“Wäre der gegenwärtige Kaiser sich seines Amtes nicht so sicher, wäre es sehr wahrscheinlich, dass er den Tod des Kindes befehlen würde.”
“Kaylin”, sagte der Falkenlord, “Hauptmann Kassan.” Er wendete sich an Lord Diarmat. “Ich bitte um Entschuldigung, Lord Diarmat, Lord Sanabalis. Eure Absichten sind nicht ganz nachzuvollziehen, und die beiden sind immer noch Falken.”
“Der Befehl des Kaisers bedarf keiner Erklärung.” Lord Diarmat hatte sich zu voller Größe aufgerichtet, während er die Worte ausspie.
“Nein”, sagte Lord Grammayre, “das nicht. Man muss den kaiserlichen Befehl allerdings auch nicht einfach bereitwillig hinnehmen.”
Sanabalis war es, der einlenkte. Ein wenig. “Das Kind liegt dir am Herzen, Kaylin Neya. Das wird aus deiner und Ybellines Reaktion mehr als deutlich. Deutlich ist auch, dass du ihr ebenfalls am Herzen liegst, und wir vertrauen darauf, dass du ihr beibringen kannst, warum sie – noch – nicht bereit ist, nach Hause zurückzukehren.
Dort ist sie nicht sicher”, fügte er hinzu. “Und solange wir nicht eine ganze Truppe Drachen in die Hallen entsenden, kann sie dort nicht sicher sein, und sollten die Drachen gezwungen werden, zu handeln – wie Tiamaris es getan hat – dann werden es die anderen Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überleben.”
“Aber was wollt Ihr – was habt Ihr –”
“Ich gebe dir mein Wort”, sagte er ernst, und sie wusste, was das einem Drachen bedeutete, “dass ihr kein Leid geschehen wird. Der Schutz, der ihr in den sicheren Mauern der Findelhallen nicht gewährt werden kann, wird ihr im Kaiserpalast verschafft werden.”
“Ihr werdet sie nicht den kaiserlichen Magiern übergeben?”
“Nein. Sie werden sie vielleicht untersuchen, aber ich werde bei allen Untersuchungen anwesend sein, und da wir die Aussage der Tha’alani bereits haben, können sie sowieso nur noch begrenzte weitere Informationen sammeln. Es wird ihnen nicht gestattet, sie mit einem Bann zu belegen.”
“Wir müssen es Marrin erklären”, sagte sie leise.
“Marrin?”
“Ihrer Rudelmutter. Die Leontinerin, die die Findelhallen leitet.”
“Ah. Um diese Aufgabe beneide ich dich nicht. Aber ich vertraue darauf, dass du sie überlebst.”
Der diensthabende Sanitäter war Moran, eine Aerianerin, die wahrscheinlich als Leontinerin glücklicher geworden wäre. Sie hatte ein gutes Auge für Details – zum Beispiel die, die man während der Routineuntersuchung vergaß zu erwähnen – und keine Spur von Geduld für Leute, die lieber die Zähne zusammenbissen, statt sich behandeln zu lassen. Dadurch war sie außergewöhnlich gut für die Falken geeignet, aber sie war auch extrem launisch.
Sie wartete bereits an ihrem Untersuchungstisch, als es Kaylin gelang, Severn durch die Tür zu schieben. Sie schnalzte drei Mal mit der Zunge, was ihren vogelartigen Körperbau, der den meisten Aerianern nicht zu eigen war, unterstrich, streckte ihre Flügel aus, um ihr Missfallen auszudrücken, und nahm ihm Catti aus den Armen.
“Kaylin”, sagte sie, während sie Catti auf ihren Tisch legte. “Du siehst gut aus.” Prellungen bereiteten Moran nur Sorge, wenn sie die falsche Farbe hatten – Kaylin hatte nie gefragt, was genau das bedeuten sollte.
“Du hast sie gefunden”, fügte Moran leise hinzu. “War sie schon wieder bei Bewusstsein?”
“Sie war wach, als wir sie gefunden haben”, antwortete Kaylin. “Aber sie musste von den Tha’alani untersucht werden.”
“Ehe sie hierher gebracht wurde?”
Kaylin zuckte zusammen. “Die Tha’alani hat sie während der ganzen Untersuchung schlafen lassen. Du kannst sie wahrscheinlich aufwecken, wenn du willst.”
Aber Moran schüttelte den Kopf. “Sie ist erschöpft. Sieh dir ihre Augen an.”
Ihre Augen sind geschlossen, dachte Kaylin. Aber sie sah gehorsam dennoch hin.
“Und ihre Lippen sind aufgesprungen. Sie hat wahrscheinlichen in den letzten zwei Tagen nicht viel zu trinken bekommen.” Sie zog die Tunika hoch, runzelte sie Stirn, als sie die flachen Einschnitte in ihrem Bauch sah, und ging dann an die Schränke, in denen sich ihre Heilsalben verbargen. Kaylin bezeichnete sie für sich immer als Gifte. “Sie verheilen gut”, fuhr Moran mit sanfter Stimme fort, “und ich glaube nicht, dass sie sich noch entzünden werden.”
“Und die – die anderen Zeichen?”
“Sie bluten nicht”, sagte Moran, “und sie sind keine Wunden. Ich glaube auch nicht, dass es sich um Tätowierungen handelt – und wenn, wird es wahrscheinlich schmerzhafter, sie loszuwerden, als es war, sie zu stechen.” Sie hielt einen Augenblick inne und starrte Catti mit dem Stolz eines Falken ins Gesicht. “Gute Arbeit”, sagte sie zu ihnen, auch wenn sie den Blick nicht abwendete.
“Du da”, sagte sie dann, an Severn gewandt.
“Severn”, half Kaylin ihr aus.
“Severn, auf den Tisch.” So war sie Moran schon eher gewohnt. Wahrscheinlich hatte sie deshalb keine eigene Praxis. Ihre Flügel bogen sich nach unten.
“Sie meint es ernst”, flüsterte Kaylin ihm zu.
Severn ließ sich schwerfällig nieder.
Moran sorgte dafür, dass er sich freimachte, und bearbeitete ihn dann mit ihrer scharfen Zunge. “So bist du hier herumgelaufen?”
“Offensichtlich.”
“Er war früher ein Wolf”, sagte Kaylin, um sie abzulenken. “Er ist noch nicht lange bei den Falken, also ist er nicht daran gewöhnt –”
“Erspar mir das. Ich habe schon vor Ort mit Wölfen gearbeitet. Und mit Schwertern. Ihr Gesetzeshüter seid alle gleich.” Sie ging zurück zu ihren Schränken, griff nach Verbandszeug und etwas, was verdächtig nach Nadeln aussah, und kam zurück an den Tisch. “Das wird jetzt wahrscheinlich etwas wehtun”, sagte sie. Es klang nicht wie eine Entschuldigung. “Du hast Blut verloren, aber das weißt du wohl mittlerweile. Du hast genug Narben.”
Severn gelang, obwohl er flach auf dem Rücken lag, ein Schulterzucken. “Sie haben mich nicht umgebracht.”
“Das werden die hier auch nicht.”
Weil Kaylin Moran kannte, wusste sie, dass das gut war, auch wenn der Tonfall von Morans Stimme das nicht ganz vermitteln konnte. “Kann ich zusehen?”
Moran zuckte mit den Schultern, was für sie ein deutliches Ja war. Kaylin schnappte sich einen Hocker – Morans Flügel machten Stühle ein wenig unbequem – und zog ihn an Severns Seite. Sie zögerte einen Augenblick und nahm dann seine rechte Hand.
Sein Griff war nicht fest.
Es gab so viel zu sagen. Kaylin, der man oft vorgehalten hatte, sie würde den Klang ihrer eigenen Stimme zu gerne hören, konnte sich nicht vorstellen, wo sie anfangen sollte, und machte sich deshalb gar nicht erst die Mühe. Sie hielt einfach seine Hand, während Moran daran ging, ihn wieder zusammenzuflicken. Seine Muskeln verkrampften sich mehrere Male, er sagte allerdings kein einziges Wort.
Doch er schloss auch nicht oft die Augen. Sein Blick blieb auf Kaylins Gesicht gerichtet.
Als Moran gerade fertig war, entschuldigte Kaylin sich. Severn begann sich aufzusetzen, doch Moran lehnte sich dagegen auf, und Moran gewann, wie so oft in dem Bereich, über den sie regierte.
“Ich gehe nur zu Marrin”, sagte sie ihm leise. “Etwas anderes werde ich nicht tun.”
“Du kannst sie mit dem Spiegel anrufen”, sagte er durch zusammengebissene Zähne. Moran hatte ihn tatsächlich geschlagen.
“Könnte ich. Aber ich möchte lieber persönlich mit ihr sprechen.”
Was so mehr oder weniger stimmte. Mehr, während sie sich in den Gesetzeshallen befand, und weniger – immer weniger – je näher sie den Findelhallen kam. Catti den Drachen zu überlassen hatte eine völlig neue Bedeutung angenommen, und es gefiel ihr überhaupt nicht. Sie fragte sich, ob Marcus schon einmal tatsächlich gesehen hatte, wie Tiamaris wild wurde. Wahrscheinlich nicht, auch wenn das eine Menge erklären würde.
Amos hatte noch Dienst, obwohl es schon spät war. Er kniete vor den Vordertoren und sah aus, als würde er den Riegel reparieren. Als er Kaylin sah, kurz nachdem sie fast über ihn gestolpert war, versteifte er sich und stand auf.
Sie lächelte. “Catti ist in Sicherheit”, sagte sie leise zu ihm.
Alle Spannung verschwand aus seinem Körper. “Ich bin zu alt für so etwas”, murmelte er. Er sagte es oft, aber heute bedeutete es etwas anderes. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
“Es war nicht deine Schuld”, sagte sie leise. “Und du magst die Kinder wenigstens. Das hier soll kein Gefängnis sein, sondern ein Zuhause.”
“Kaylin –”
“Ich hätte hier glücklich sein können. Ich bin hier glücklich”, fügte sie hinzu. “Und ich würde nie eine andere Wache für diese Tore aussuchen. Geht es Marrin gut?”
“Was glaubst du denn?”
“Ich glaube, ich gehe einfach gleich rein und rede sofort mit ihr.”
Marrin stand bereits an der Tür, als Kaylin eintrat.
Kaylin streckte ihre Hände aus, und Marrin durchquerte mit einem einzigen Satz die Eingangshalle. Kein sehr gutes Zeichen. Leontiner konnten verdammt lange kampfbereit bleiben, aber das hatte seinen Preis.
Die Nüstern der Leontinerin blähten sich.
“Ich hätte dir gespiegelt”, sagte Kaylin leise, “aber es gibt Dinge, die ein Spiegel nicht einfangen kann.”
“Du hast sie gefunden.” Sie konnte Catti riechen.
“Sie lebt.”
“Wo?”
“In den Gesetzeshallen. Marrin –”
Marrin war bereits auf dem Weg zur Tür, aber es gelang Kaylin – dank ihrer jahrelangen Ausbildung – schneller zu sein. Nur knapp.
“Sie ist auch mein Junges”, sagte die Falkin. “Aber sie wurde gezeichnet. Wie die anderen Opfer gezeichnet wurden.”
“Ihr ist kein Leid geschehen?”
“Nicht, weil die es nicht versucht hätten.”
“Wer?”
“Wenn es nicht um mein Leben ginge, würde ich es dir sagen.”
Wenn ein Leontiner auf diese besondere Art knurrte, wirkten die verborgenen Drohungen weniger effektiv. Aber nicht viel. Kaylin war ein Falke, und sie hasste die kaiserliche Bürokratie genau wie alle anderen Falken, aber sie spielte – meistens – nach den Regeln.
“Marrin, nur wegen mir wurde Catti überhaupt entführt.”
Marrins Körper spannte sich an. Ihre Zähne standen ein wenig zu deutlich hervor. “Was soll das heißen?”
“Die Heilung”, sagte sie leise. “Sie haben Catti geholt, weil ich sie geheilt habe. Weil die Heilung eine Verbindung zwischen uns geschaffen hat, die ich brauchte, um Catti das Leben zu retten.
Sie ist immer noch da”, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. “Wenn wir Catti hierher zurückbringen, werden die sie einfach wieder holen.”
“Du hast sie nicht umgebracht?”
“Wir haben sie umgebracht.”
“Gut.” Das war es nicht. Marrin wollte sie eigenhändig ausweiden. Aber sie war alt genug, um die praktische Seite zu sehen. Gerade so. “Aber du glaubst nicht, dass sie alle tot sind.”
“Das würde ich gerne”, antwortete Kaylin, “aber die Gesandten des Kaisers glauben nicht daran.”
“Ich will sie sehen.”
“Ich weiß. Aber sie wird von Drachen umgeben sein. Kannst du damit umgehen?”
Das Fauchen war laut und lang. Höher als das von Marcus, aber bedrohlicher. Leontinische Frauen waren immer die größere Gefahr.
“Sie wollen sie in den Palast bringen. Catti würde es dort gefallen, denke ich. Und sie wird den anderen viel erzählen können, wenn sie zurückkommt.”
“Wenn oder falls?”
“Wenn”, sagte Kaylin mit fester Stimme. “Auf jeden Fall wenn. Ich weiß, dass es noch nicht vorbei ist”, fügte sie hinzu, “aber das wird es bald sein.”
“Kaylin. Kätzchen.”
“Ja?”
“Mach keine Dummheiten.” Marrins Fell glättete sich. Ihre Lippen legten sich langsam über die beeindruckenden Reißzähne.
“Ich werde nichts Illegales tun, falls du das meinst.”
“Das meine ich nicht, und das weißt du genau.” Sie streckte die Hand aus. Ihre Pfote war trocken. Kaylin fasste Marrins Hand und drehte sie um. Die Polster waren blassgrau und aufgesprungen.
“Marrin!”
Marrins trockenes Lachen brachte Kaylin fast zum Weinen.
“Du bist ein Falke”, sagte die Mutter der Findelhallen, zog ihre Hand zurück und hob sie, um Kaylin ihr Haar aus der Stirn zu streichen. “Aber du bis immer noch eines von meinen Jungen. Vergiss das nicht. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.”
“Bis auf Marcus?”
Marrin sagte etwas sehr Unhöfliches auf Leontinisch. Das Gegenstück zu Männer, im gleichen Tonfall.
“Ich muss zurück in die Kolonien. Dort haben wir sie gefunden”, erklärte sie. Es war schwer, Marrin weniger als die ganze Wahrheit zu sagen. “Und dort werden wir auch die Antworten finden.”
“Antworten? Auf welche Fragen?”
“Die mich betreffen.”
“Kaylin – hat das irgendetwas mit diesem Zeichen zu tun?”
Kaylin hob verlegen eine Hand, um ihre Wange zu bedecken. “Das ist dir also aufgefallen.”
Marrin schnaubte. “Blumen sind nicht dein Stil.”
“Ja. Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber – ich gehe zurück in die Kolonien. Catti ist gezeichnet. Und bis alles vorbei ist, ist sie nicht in Sicherheit.”
Marrin kniff die Augen zusammen. “Das hat etwas mit deinen Zeichen zu tun?” Sie hatte noch nie danach gefragt.
“Viel”, antwortete Kaylin.
“Wirst du den jungen Mann mitnehmen?”
“Jungen Mann? Meinst du Severn?”
“Den, mit dem du deine … Auseinandersetzung hattest.”
Kaylin lachte. Nur Marrin würde es so ausdrücken. “Ja”, sagte sie leise. “Ohne ihn wäre Catti gestorben.”
“Gibt es etwas, das du mir sagen willst?”
“Marrin, es gibt so viel, was ich dir sagen will –”
Marrin nahm Kaylin in ihre großen behaarten Arme und zog sie fest an sich. An ihr Herz. “Ich sage es den Kindern”, sagte sie leise, und Kaylin konnte ihre Stimme auf ihrem Scheitel spüren. “Du gehst und tust, was auch immer du tun musst.”
“Bin ich nicht mehr suspendiert?” Kaylin stand vor Marcus’ Schreibtisch. Marcus schien zum ersten Mal in seinem Leben den Papierkram darauf interessant zu finden. Entweder das, oder er überlegte sich eine neue Methode, ihn zu zerfetzen.
“Ich habe dich nicht suspendiert. Das musst du mit ganz oben ausmachen.”
“Will er mit mir sprechen?”
Marcus sah ihr in die Augen. Seine Pfoten waren feucht, das wusste sie, weil er ihr eine auf die Hand legte. “Gute Arbeit”, sagte er leise. “Und ja.”
“Die Arkanisten?”
“Anscheinend hat etwas, das in einem Gespräch nur beiläufig erwähnt wurde, ihr Interesse erregt.”
Kaylin zuckte zusammen.
“Du musst endlich lernen, dich von Arroganz nicht provozieren zu lassen.”
“Ja, Sir.”
“Du bist immer noch suspendiert.”
“Ja, Marcus.”
“Gut. Geh schon.” Er hob seine Hand. Sie spürte immer noch, wie sich die Spitzen seiner Krallen in ihre Haut gruben, als sie begann, die Treppe zum Turm zu erklimmen.
Lord Grammayre hatte ihr den Gefallen getan, die Tür offenstehen zu lassen. Als er die Tür mit einer Geste hinter ihr schloss, näherte sie sich ihm mit der kriechenden Zurückhaltung einer Kriminellen und erwartete fast, dass sie wieder in diesem verdammten Kreis enden würde.
“Erhebe dich”, sagte er, auch wenn seine Stimme eher zu einem genervten Steh schon auf passte. Sie ließ es sich nicht zweimal sagen. Andererseits wartete sie normalerweise nicht einmal auf das erste Mal, was oft ein kleines Problem darstellte.
Zu ihrer großen Überraschung befand sich Tiamaris im Turm und wartete. Er war wieder als Falke ausgestattet, die bronzene Rüstung war verschwunden.
“Du solltest doch zum Palast gehen.”
“Bin ich auch.”
“Aber du –”
“Kaylin.”
Sie sah wieder den Falkenlord an.
“Lord Tiamaris’ Geschäfte gehen nur ihn etwas an, und ich glaube, du hast heute genug gelernt, um zu verstehen, warum.”
“Ja, Sir.”
Sein linker Flügel zuckte. “Lord Tiamaris?”
“Ich glaube, dass ihre Anwesenheit bei dieser Untersuchung notwendig ist.”
“Offensichtlich, wenn Ihr sie abberufen habt, während sie suspendiert war.” Falls er verärgert darüber war, dann zu gleichen Teilen auch belustigt. Er konnte die Grenze ohne große Warnung und mit noch weniger Grund übertreten, also beschloss Kaylin, stumm zu bleiben. Er drehte sich zu einem Spiegel. “Archiv.”
Der Spiegel leuchtete auf. Das Licht war ungewöhnlich, selbst für einen Spiegel, und nach einem Augenblick sprach der Falkenlord seinen Namen.
Und dann sah sie Catti, von Männern in Umhängen umgeben. Aus Cattis Blickwinkel. Es war unmöglich für Kaylin, die Hände nicht an ihre Dolche zu legen, sie versuchte es nicht einmal.
“Sind das die Männer, die du gesehen hast?”
Sie nickte grimmig und betrachtete die Bilder.
“Archiv”, sagte Lord Grammayre wieder. Die Szene zersprang und veränderte sich ganz plötzlich. Sie erkannte das Bild, das sich zusammenfügte, auch wenn es so vielleicht nie wieder aussehen würde: Es war Cattis Zimmer, aber es war nicht leer. Männer befanden sich darin, und auch sie trugen Umhänge.
Die Wände begannen sich zu neigen. Catti schrie auf. Ein rotes Licht erfüllte den Raum.
“Magie?”, fragte sie.
“Ja”, antwortete Tiamaris, “Magie. Archiv, Halt.”
Das Bild erstarrte. Die Ecken der Decke befanden sich im völlig falschen Winkel. Der Drache deutete auf etwas, und sie konnte sehen – wenn auch nur knapp –, dass einer der Eindringlinge etwas aus Kristall in der Hand hielt. Die Lichtquelle. “Weiter.” Sie war verschwunden.
Sie fragte sich, wie viele nützliche Informationen sie daraus erhalten konnten. Catti wehrte sich wie wild. Die Gesichter ihrer Angreifer blitzten nur kurz auf der Oberfläche des Spiegels auf. Catti war ein Findelkind, und alle großen Träume beiseite, sie war kein Falke. Sie konnte nicht wie ein Falke sehen, sie konnte nicht erwarten, dass sie überlebte und alles, was sie sah, hinterher noch hilfreich sein konnte.
Das Licht wurde heller. In der Ferne glaubte Kaylin, ein Knurren hören zu können. Marrin.
“Die gleichen Männer?”, fragte sie leise.
“Wahrscheinlich. Es sind weniger.”
“Wenn sie versucht hätten, sie dort umzubringen –”
“Der Zeitpunkt”, sagte Tiamaris, “war falsch. Sie hätten sie nur umbringen können, wenn sie sofort tot gewesen wäre.” Er trat auf den Spiegel zu und legte seine Handfläche dagegen. Wieder veränderte sich das Bild.
“Kannst du sie hören?”
Sie nickte. “Aber ich … verstehe nicht, was sie sagen.”
“Nein. Es ist nicht Barrani.”
Sie runzelte die Stirn. “Es klingt wie –”
“Es ist, soweit ich weiß, ein toter Dialekt. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten. Wenn man die Sprache länger hört, versteht man wahrscheinlich die Hälfte von dem, was gesprochen wird.”
Toter Dialekt von toten Barrani. Kaylin erschien das nur sinnvoll.
“Warum dürfen wir nicht darüber sprechen?”
Der Falkenlord und der Drache sahen sich an.
“Es ist ja nicht so, als hätten wir noch nie mit Leichen gekämpft. Wir hatten schon Zusammenstöße mit ausgestoßenen Magiern, und es wäre nicht das erste Mal, das jemand die Toten für sich benutzt.”
“Schienen sie dir wie gewöhnliche Leichen?”
Da die gewöhnliche Leiche an sich normalerweise, egal was man sagte, auf einer Bahre lag und auf dem Weg zu ihrer Familie oder ins Krematorium war, musste Kaylin den Kopf schütteln.
“Sahen sie tatsächlich tot aus?”
“Bei Barrani ist das schwer zu sagen. Sie sind meistens perfekt. Warum sollte also eine Kleinigkeit wie der Tod ihnen dabei Probleme machen, den Rest von uns vergänglich und hässlich aussehen zu lassen.”
Er lächelte.
Tiamaris nicht. “Woher wusstest du, dass sie tot sind, Kaylin?”
Sie dachte darüber eine Minute nach, vielleicht noch länger. “Sie waren langsam”, sagte sie schließlich.
Tiamaris hob eine Augenbraue. Seine Augen allerdings waren golden.
“Für Barrani waren sie langsam. Sie waren dreizehn. Ich habe das Gefühl, dich hätten auch fünfzig nicht aufgehalten –” Sie sah den Gesichtsaudruck des Falkenlords und wechselte schnell die Richtung. “Aber die vier, die bei Catti geblieben waren, hätten in der Lage sein müssen, sie umzubringen, ehe Severn sie erreicht hatte.”
“Stimmt. Aber ich glaube, das ist nicht die Antwort, die wir suchen.”
“Ich weiß auch nicht”, sagte sie abwehrend. “Ich habe schon früher tote Barrani gesehen – zugegeben, nicht sehr oft – und nein, diese hier sahen nicht wie Leichen aus. Sie sahen nur einfach auch nicht … lebendig aus.”
“Verstehst du, Grammayre? Kaylin”, fügte er hinzu, “hast du je einen Barrani geheilt?”
Sie runzelte die Stirn. “Nein.”
“Ah.”
“Was soll das nun wieder heißen?”
“Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube allerdings, dass ein Teil der Gabe, die du zum Heilen verwendest, dich auf eine Art einfühlsam gemacht hat, die du anderen voraus hast. Wenn ich Severn gefragt hätte, er hätte eine andere Antwort gegeben. Für ihn waren sie vielleicht langsam, aber nicht tot.”
“Aber du wusstest es.”
“Ja”, sagte er leise. Und grimmig. “Ich wusste es.”
“Das muss doch besser sein als lebendige Barrani. Schon, weil wir alle hätten sterben müssen, wenn sie am Leben gewesen wären.”
“Es ist nicht besser”, entgegnete Lord Grammayre.
“Das habe ich mir schon gedacht. Ich weiß nur nicht, warum.”
“Ich bin mir selbst nicht sicher. Elantra ist nur wenige Jahrhunderte alt, und natürlich ist die Geschichte aus der Zeit vor ihrem Aufstieg absichtlich ins Dunkel gerückt worden.”
“Tiamaris?”
“Die Barrani können sterben”, sagte er ruhig. “An Altersschwäche. Das passiert, aber nur sehr selten. Ihr Alter findet in ihren Körpern keinen Ausdruck – der Tod kann an allen außer den Barrani selbst unbemerkt vorübergehen. Aber wenn es passiert – und mir fällt in den letzten dreihundert Jahren kein solcher Fall ein – dann wird der Körper von seinen Angehörigen zerstört.”
“Also … du willst sagen, sie haben keine Seele?”
Er verzog das Gesicht. “Ich werde dich jetzt nicht fragen ob du während deiner Ausbildung etwas über die Religionen gelernt hast.”
“Ich habe alle praktischen Sachen gelernt.”
“Deine Definition von praktisch bedarf offensichtlich einer Überholung.”
Sie zuckte mit den Schultern. Er hatte natürlich recht, und auch ihre Streitlust reichte nicht ewig weit.
“Nur ein solcher Toter gäbe den Barrani schon Anlass zu großer Sorge.”
“Warum? Ist das so eine Seuche oder was?”
“Genau das ist es tatsächlich.”
Ihr offener Mund blieb so stehen. Ihr fehlten buchstäblich die Worte.
“Allerdings noch heimtückischer. Bei den Menschen gibt es Legenden von Kreaturen, die zwar äußerlich jeden Anschein erwecken, tot zu sein, selbst aber noch mehr Tote schaffen. Archiv?”
“Vampir”, antwortete der Spiegel knapp und unbetont.
“Ah. Ja, das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Anders als die unter uns wandelnden – oder strauchelnden – Leichen, können die Vampire selbst denken.”
“Und sie sind stark und schnell und können sich in Fledermäuse oder Wölfe oder Ratten verwandeln”, schnaubte Kaylin verächtlich.
“Die toten Barrani sind dem nicht unähnlich. Wir glauben zwar nicht, dass sie sich in eine andere Form wandeln können, aber sie behalten ihre Erinnerungen, und sie bieten den Lebenden etwas im Tausch für ihren Tod.”
“Was? Was könnten sie jemandem zu bieten haben, der sowieso ewig lebt?”
“Das, Kaylin, wissen wir nicht. Und es gibt keinen einzigen Barrani, der diese Frage willentlich beantworten wird. Wegen deines impertinenten Kommentars weiß Lord Evarrim, dass wenigstens eine solche Kreatur existiert. Es wäre kein großer Sprung anzunehmen, dass es noch mehr gibt.”
“Es gab noch mehr.”
“Und sie könnten tatsächlich sehr alt sein, wenn sie sich mit der Magie der Alten auskennen.”
Sie schwieg und sprach erst nach einem Augenblick weiter. “Du verschweigst mir doch irgendetwas.”
“Sie war keine gute Schülerin”, sagte der Falkenlord trocken, “aber es gab einen Grund, warum wir sie trotzdem ihren Abschluss haben machen lassen.”
“Ja”, sagte Tiamaris, ohne den Falkenlord zu beachten. “Ich verschweige dir etwas.”
Sollte heißen, dabei blieb es auch. Sie verdrehte die Augen, schob ihre Hände in die Taschen und sah die beiden Männer an. “Wir gehen zurück nach Nightshade”, sagte sie zu ihnen.
“Da du während deiner Suspendierung so viel Erfolg hattest”, entgegnete der Falkenlord, “bin ich geneigt, dich zurück in den Dienst zu erheben. Ja”, fügte er leise hinzu, “wenn es Antworten gibt, dann nur in Nightshade.
Ehe ihr geht”, fuhr Lord Grammayre fort, “möchte ich euch beide allerdings noch etwas fragen.”
Kaylin sah auf. Sah auf alles, was nicht der Kreis in der Mitte des Turmes war.
“Lord Grammayre?”
“Die Lesung der Tha’alani wurde selbstverständlich gut gehandhabt. Wir haben durch sie Details erfahren, die uns andererseits nicht zugekommen wären – besonders, wie die Zeichen aufgebracht werden – und wie die Angreifer der Findelhalle entkommen sind.”
“Keine gute Art zu reisen, wenn man das Feuer betrachtet, das die hinterlassen haben, Grammayre.”
“Nein, das ist es wirklich nicht. Das ist auch nicht die Frage. Catti wusste, dass ihr gekommen seid, weil ihr eine Menge … Lärm gemacht habt.”
Tiamaris nickte.
“Sie konnte allerdings nicht sagen, wie ihr angekommen seid.”
“Nein.”
“Kaylin, die Lords der Gesetze haben den Wachturm versiegelt, und er wird gerade von den Gesandten des Kaisers untersucht. Es scheint, als wäre ein großes Loch in die äußere tragende Mauer gerissen worden.”
Sie krümmte sich.
“Du hattest einen Befehl. Wo ist die Armschiene?”
“Ich bin mir nicht sicher.”
“Verstehe.”
“Lord Grammayre, ich übernehme die volle Verantwortung für mein Einmischen. Sie konnte Catti nicht lokalisieren, solange sie die Schiene trug.”
“Sie hätte auch die Außenwand nicht zerstören können.”
Schweigen. Kaylin sah in das vollkommen unbewegte Gesicht des Drachen und war überrascht. Tiamaris hatte die Zerstörung der Mauer nicht erwähnt.
Aber Lord Grammayre war eben der Falkenlord. “Kaylin.”
“Es geht mir gut.”
“Das allein ist schon Grund zur Sorge. Ich habe die Mauer gesehen”, fügte er leise hinzu, “und nur sehr, sehr wenige haben die Macht, eine solche Wand zu zerstören.”
Sie sagte nichts. Aber sie hatte schon immer jeden Schweigewettbewerb verloren. “Ich war nicht außer Kontrolle.”
“Nein.” Er zögerte. “Aber selbst wenn, noch vor einem Jahr hättest du die Auswirkungen gespürt.”
“Ich spüre sie ja, ich will nur nicht –”
Er hob eine Hand. “In dir liegt große Macht”, sagte er, “und sie wächst ständig. Nimm dich in Acht, Kaylin. Wenn du die Armschiene findest, leg sie an. Deine Gefühle sind zu sehr in die Sache verstrickt.” Er streckte seine Flügel aus. “Wenn die Zeit nicht so knapp wäre, würde ich dich hierbehalten. Aber das käme uns, denke ich, teuer zu stehen. Geh. Nimm Severn mit, falls du Moran dazu bringen kannst, ihn zu entlassen.”
Sie zögerte. Etwas, das Tiamaris gesagt hatte, hatte sich erst nach einigen Minuten in ihr Bewusstsein gedrängt. “Tiamaris?”
Sein Blick war verhängt und undurchsichtig.
“Du hast gesagt, sie konnten sie nicht umbringen, weil der Zeitpunkt nicht stimmte?”
Er schwieg.
“Und der richtige Zeitpunkt ist heute.”
Es war der Falkenlord, der daraufhin nickte. In seinen dunklen Augen lag so etwas wie Mitgefühl. Und Wut. “Flieg”, sagte er leise zu ihr.