9
Verschlungen
Noch tiefer in die Dunkelheit, tiefer und tiefer unter selbst die letzte Erinnerung an Licht …
Jacen taumelte keuchend aus einem Treppenhaus auf einen vergessenen Laufgang hinaus. War er stundenlang gerannt? Tagelang? Seine Beine weigerten sich, auch nur noch einen einzigen Schritt zu machen, und es gab keinen Grund, sie zu zwingen.
Ganz gleich, wie weit oder wie schnell er floh, er würde nie vor sich selbst davonlaufen können.
Der uralte Durabetonboden des Laufgangs, bröckelig durch Alter und Vernachlässigung, brach unter ihm zusammen Ein hektischer Griff nach einem mit Flechten überzogenen Stück Geländer bewahrte Jacen vor dem Sturz in einen hundert Meter tiefen Abgrund. Dieser Schacht war vielleicht einmal ein Schrottplatz für heruntergekommene Lufttaxis gewesen: Verzogenes, rostzerfressenes Metall klumpte sich dort drunten, ein Haufen gebogener Messerschneiden und aufragender Spitzen.
Er blieb einen Augenblick hängen, stellte sich einen langen, langen Fall vor, einen alles zerreißenden Aufprall, ein Aufblitzen farblosen Lichts …
Vielleicht sollte er einfach nur loslassen. Vielleicht war dies die einzige Antwort auf die Dunkelheit in ihm. Vielleicht würde er auf dem Weg nach unten nicht einmal schreien.
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Sein Griff lockerte sich.
»Jacen! Heh, Jacen! Hier drüben!« Er kannte diese Stimme. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals nicht gekannt zu haben; sie war ihm so vertraut wie seine eigene. Die Stimme war ein Trick; er wusste, dass sie ein Trick war, das musste so sein; man hatte schon öfter versucht, ihn auf diese Weise zu betrügen − aber er konnte sich nicht überwinden, sie zu ignorieren. Mit der entschlossenen Vorsicht eines erfahrenen Bergsteigers griff er nach oben und packte das Geländer mit der freien Hand, damit er genug Halt hatte, während er den Kopf drehte, um in die Richtung zu schauen, aus der die Stimme gekommen war.
Auf einem rauchgeschwärzten Balkon, der direkt unter dem anderen Ende des Laufgangs vorragte, stand Anakin.
»Du bist nicht wirklich«, murmelte Jacen.
»Komm schon, Jacen!« Anakin winkte. »Hier entlang! Komm schon! Hier wirst du sicher sein!«
Jacen schloss die Augen. So etwas wie Sicherheit gab es nicht. »Du bist nicht wirklich.«
Als er die Augen wieder öffnete, war Anakin immer noch dort und winkte immer noch. Er trug eine bequem weite Tunika und eine Hose im corellianischen Stil, und das Lichtschwert hing locker an seinem Gürtel. Er winkte Jacen, sich zu beeilen. »Jacen, komm schon! Was ist los mit dir? Lass uns gehen, großer Bruder, lass uns gehen!«
»Ich habe gesehen, wie du gestorben bist«, sagte Jacen. Er öffnete sich dem Pulsieren der Macht, das ihn umgab; die rote Flut schwoll in seiner Brust, aber er schob sie weg, konzentrierte sich, streckte seine Wahrnehmung aus …
Onkel Luke hatte ihm erzählt, dass er manchmal seinem toten Meister, dem legendären Obi-Wan Kenobi, begegnet war. Er hatte erzählt, dass er seinen Meister gesehen, seine Stimme gehört, ihn in der Macht gespürt hatte, lange nach Kenobis Tod …
Jacen konnte Anakin sehen. Er konnte seine Stimme hören. Aber als er versuchte, seinen Bruder durch die Macht wahrzunehmen, spürte er nichts. Überhaupt nichts.
Die rote Flut toste in seinen Ohren. Er biss die Zähne noch fester zusammen, um seine Stimme tief in seiner Kehle einzuschließen. »Du bist ein Vong.«
»Jacen! Worauf wartest du? Komm endlich!«
Er konnte viel ertragen. Hatte viel ertragen müssen. Mehr, als irgendwer ertragen sollte. Aber dass sich ein Yuuzhan Vong als Anakin maskierte … Die rote Flut sammelte sich zu einer Welle der Macht, die ihn in einem mühelosen Purzelbaum nach oben brachte und hoch über den eingestürzten Laufgang fliegen ließ. Er landete vollkommen im Gleichgewicht auf dem seildünnen Geländer, seine Füße sicher, die Arme locker und ruhig an seinen Seiten. Er würde nicht fallen.
Der Schattenwurm in seiner Brust schrie nach Blut.
»Also gut«, krächzte der Schattenwurm durch Jacens Mund. »Warte. Ich komme.«
Er rannte rasch über das Geländer, den Trommelwirbel der Mordgier in seinem Herzen, der jeden Gedanken an den tiefen Fall übertönte. Er hatte das Ende des Laufgangs innerhalb von Sekunden erreicht, aber Anakin war bereits durch die Balkontür wieder in das Gebäude geeilt. Jacen breitete die Arme aus und ließ sich von seinem Zorn aufrecht halten, als er nach vorn fiel, sich an dem Geländer abstieß und über die hundert Meter tiefe Schlucht auf den Balkon sprang.
Er landete geduckt und rutschend; seine linke Hand glitt über eine kalte, glatte Schleimschicht, die den Balkon überzog. Falkenfledermäuse flatterten kreischend auf, eine wirbelnde Wolke aus Leder, Fell und Klauen.
Jacen ballte die Faust: Sofort heulte ein Sturmwind auf und ließ die Falkenfledermäuse hilflos in die Dunkelheit trudeln. Jacen sprang vorwärts, fraß Boden wie ein Sandpanter, der eine Paralope verfolgt, raste durch das tintenschwarze Innere des Gebäudes, und die Macht führte ihn um Hindernisse herum oder darüber hinweg. Kurz waren bestiefelte Füße zu sehen, die dann durch eine Tür in einem von Kugeln beleuchteten Flur verschwanden. Er erreichte die Tür mit einem einzigen langen, von der Macht verstärkten Sprung.
So unmöglich das schien, Anakin war bereits hundert Meter entfernt, am anderen Ende des Flurs, und nun schaute er über die Schulter zurück. »Komm schon, Jacen! Du musst dich beeilen! Folge mir!«
»Darauf kannst du dich verlassen.« Jacen begann zu laufen, und die Macht verlieh ihm Flügel, trieb ihn unmenschlich schnell weiter und schneller und immer noch schneller. Er legte die hundert Meter in einem Herzschlag zurück und erkannte, dass Anakin immer noch weit vor ihm war, immer noch zurückblickte, winkte, ihn weiterdrängte.
Jacen lief.
Die Verfolgung wurde zu einem Traum vom Fliegen, von anstrengungslosen Sprüngen, bei denen die Füße den Boden nur streiften. Die Macht durchströmte ihn, ein karminroter Fluss trug ihn weiter, über den sterilen Bereich unter dem Krater hinaus. Der Fluss verlieh ihm nicht nur Kraft, er bildete die Struktur des Gebäudes, durch das er rannte, direkt in seinem Kopf ab: Er konnte Ecken, Abzweigungen und Eingänge vor und hinter sich spüren, konnte spüren, wo Geröll ein Hindernis bildete oder wo der Boden vielleicht sein Gewicht nicht tragen würde. Er flüsterte ihm Balken und Träger zu, Transparistahl und Durabeton unter den Vong-Pflanzen, die um ihn herum dichter wurden, Vong-Pflanzen, die sich in einen Aufruhr von Farben und Formen verwandelten, faserig und fleischig, sich an Wänden und Decken klammerten und von Böden wuchsen, Vong-Pflanzen, die er sehen und riechen und berühren konnte, aber das war immer noch nicht wirklich, konnte nicht wirklich sein, nicht für Jacen, nicht jetzt, denn es berührte das Strömen des karminroten Flusses nicht. Es existierte nicht in der Macht, und daher existierte es auch für Jacen überhaupt nicht.
Bis er in einen Flur rannte, der hinter ihm zuschnappte wie das Maul einer Raumschnecke.
Er kam rutschend zum Stehen. Der Boden und die Wände waren warm wie von Körpertemperatur und umgeben von knorpeligen Ringen, die in einem kränklichen biolumineszenten Grün schimmerten. Das Ende des Flurs fühlte sich offen an − in der Macht gab es rings um ihn her nichts als weit offenen Raum −, aber für seine Augen war der Flur an beiden Enden von Klappen aus gestreiftem Fleisch verschlossen, von muskulösen Ventilen.
Anakin war nirgendwo zu sehen.
Jacen keuchte vor Zorn und wandte die Konzentration dieser Leere in der Mitte seiner Brust zu, wo sich einmal der Sklavensamen befunden hatte. Die Macht verblasste in seinem Bewusstsein, die Struktur der Gebäuderuinen rings um ihn her verblasste zu der gleichen Nichtexistenz, aus der jetzt Vong-Flora und -Fauna auftauchten. Aber obwohl nun das Wesen dieses Flurs in seinen Geist eindrang, konnte er Anakin immer noch nicht spüren.
Vielleicht war es nicht nur die Macht, in der er nicht existierte, dachte Jacen.
Falkenfledermäuse waren in Panik aufgeflattert, als er auf den Balkon gesprungen war … warum hatten sie nicht auf Anakin reagiert? In dem kalten, glatten Schleim auf der Oberfläche des Balkons hatte er keine Fußabdrücke gesehen.
Reingefallen.
Er hatte zugelassen, dass sein Hirn in der roten Flut ersoff.
Man hat mich reingelegt.
Mit einem Knistern sich verformender Knorpel zog sich der Ring zusammen, der dem Maul des Flurs am nächsten war, dann der nächste und der nächste und der nächste. Jacen betrachtete das stirnrunzelnd und versuchte, es mit dem zu verbinden, was er durch die Überreste des Sklavensamennetzes spürte: keine Böswilligkeit, keine Blutgier, überhaupt nichts Aggressives, nur eine Art angenehmer Zufriedenheit, ein Gefühl frohen Genusses umgab ihn − und dann erreichte ihn die Kontraktion der Ringe, riss ihn um und schob ihn den Flur entlang wie einen Batzen Vegitein in einer Null-G-Lebensmittelpaste-Tube, und er verstand.
Die Kontraktion der Ringe war kein Angriff, es war eine peristaltische Bewegung. Das hier war kein Flur.
Es war ein Hals.
Jacen kniete schaudernd nieder, die Augen fest zugedrückt, die Hände auf dem fleischwarmen Boden. Nachdem das Ventil am Ende des Korridors sich geöffnet hatte, um ihn durchzulassen, hatte es sich hinter ihm wieder mit einem feuchten, fleischigen Klatschen geschlossen. Er versuchte, die Schreie nicht zu hören.
− bitte hört mich denn keiner HILFE HILFE − Diese Schreie waren ein weiterer Trick.
Das nahm er jedenfalls an.
− bitte OO BITTE helft mir ich will das nicht tun ich will es nicht hört mich denn niemand HILFE HILFE −
Es musste ein Trick sein.
Der Boden hatte die körnige Glätte von Kalkstein, der von Wasser geschliffen war, und seine Farben waren Grau- und Brauntöne, mit den kleinen Narben und anderen Unregelmäßigkeiten von Mineraleinlagen, die sich in Flüssigkeiten aufgelöst hatten, die von an der Decke hängenden unregelmäßigen Kegelwarzen wie von Stalaktiten trieften. Einige hatten das irisierende Schimmern von Travertin. Verstreute Flecke biolumineszenter Gewächse sonderten ein sanftes gelbgrünes Leuchten ab − das hätte eine Art Höhlenmoos sein können, oder ein phosphoreszierender Pilz. Für das Auge war dieser Ort eine typische Höhle aus porösem Kalkstein, geschaffen durch die Erosionskraft eines verschwundenen unterirdischen Flusses.
Deshalb hatte Jacen die Augen geschlossen. Weil er wusste, dass es nicht so war.
Es war ein Magen.
Es war der Bauch des riesigen Tiers, das ihn verschlungen hatte.
Wenn er die Augen öffnete, stürzte die Dissonanz zwischen dem, was er sah, und dem, was er fühlte, ihn in schwindlige, würgende Übelkeit; selbst mit geschlossenen Augen, selbst wenn er sein Bewusstsein in die leere Mitte seiner Brust trieb, stülpte ihm dieser schimmernde Missklang den Geist um.
Er konnte das Tier spüren, als wäre er selbst das Tier − Hals und Magen und kalte, halb bewusste Zufriedenheit darüber, ein weiteres Opfer angelockt zu haben −, aber er spürte auch immer noch seinen eigenen Körper, spürte immer noch die Prellungen, die die Knorpelringe des Halses ihm verursacht hatten, das Brennen eines Ellbogens, den er sich beim Rutschen durch das Magenventil des Tiers aufgeschürft hatte, die Schmerzen in seinem anschwellenden Knie, das er sich offenbar − ohne es zu bemerken − verrenkt hatte, als er den Phantom-Anakin jagte, das heiße Keuchen seines eigenen Atmens und das kalte, gleichzeitig leere und volle Gefühl seines Magens, der sich gleichzeitig im Bauch des Tiers befand und der Bauch des Tiers war, denn das Tier und er waren eins.
Er hatte sich selbst verschlungen.
− bitte o BITTE warum warum WARUM bitte ich will nicht so sterben jemand muss mir helfen HILFE HIIIILFEEEE −
Die Stimme klang menschlich. Weiblich. Wund, heiser, schluchzend vor Erschöpfung und Entsetzen. Sie klang vollkommen echt.
So echt, wie Anakin ausgesehen hatte.
Er würde nicht wieder darauf hereinfallen.
Viele Vong-Lebewesen benutzten so etwas wie Telepathie, von Yammosks bis zu Villips − selbst Korallenskipper verfügten angeblich über eine geistige Verbindung zu ihren Piloten. Es war Jacen nun vollkommen klar: Dieses große Höhlentier war ein Raubtier, das eine besondere Variante von Telepathie entwickelt hatte, um Opfer in sein Maul zu locken. Die Halluzination von Anakin war nur eine Nebenwirkung: Jedes Opfer würde jemanden oder etwas sehen, dem sie instinktiv vertrauten, von dem sie glaubten, dass er oder es sie in die Sicherheit führen würde. Sie würden blind und vertrauensvoll folgen und verschlungen werden.
Die Ironie war bitter: Der Schattenwurm, der sich in seiner Brust wand, hatte ihn vor diesem falschen Vertrauen bewahrt, aber der Zorn, der den Wurm nährte, hatte dafür gesorgt, dass er dennoch Hals über Kopf ins Maul des Tiers gerannt war.
Das hier, dachte Jacen bei seinem ersten klaren Gedanken, seit er ins Dunkel gefallen war, wird ein sehr unangenehmer Tod werden.
Aber das war in Ordnung. Sterben war in Ordnung; er hatte nichts dagegen. Lieber sterben als mit dieser Dunkelheit in ihm weiterleben. Zumindest wäre es dann vorbei. Er konnte einfach nur hier knien und auf den Tod warten.
Wenn es nur ruhig wäre.
− bitte hilf mir doch einer aaaAAAAH −
Der Wechsel von Schrecken zu roher Qual bewirkte, dass Jacen die Augen aufriss, und er sprang auf. Er konnte sich das nicht länger anhören, Trick oder nicht. Er wusste zu viel über Schmerzen.
»Sei still«, knurrte er tief in der Kehle. »Sei still sei still sei still.«
Die Schreie hallten durch eine runzlige Öffnung, die ein paar Meter von ihm entfernt klaffte: Ein Gang dahinter führte abwärts in gelbgrüne Düsternis. Jacen stolperte wie betrunken den abschüssigen Weg entlang. Die Schreie gingen weiter: wortlos nun, trostlos, tierisch und voller Verzweiflung.
Der Gang führte tiefer und tiefer, drehte sich in einer lang gezogenen, lockeren Spirale und öffnete sich schließlich zu einer weiteren Höhle, erheblich größer als die erste, eine feuchtkalte, trübe Höhle; die Biolumineszenz, die den Hals und die Kammer darüber beleuchtet hatte, schimmerte nur schwach durch die Öffnungen anderer Gänge, die sich an den Wänden öffneten. Weißer Nebel wirbelte durch die Luft − nein, kein Nebel, bemerkte Jacen, als er die Höhle betrat, sondern Rauch: in den Augen brennend, zum Husten reizend, nach Säure schmeckend. Der Boden dieser Höhle war rau und uneben und krümmte sich stellenweise, als bildete er nur eine dünne Haut über Becken, die groß genug waren, um darin zu schwimmen; die Becken verengten sich steil nach unten und endeten in glatten Wölbungen aus steinhartem Fleisch wie Lippen von riesigen Mäulern.
Er hustete, wedelte den Rauch weg und taumelte auf die Schreie zu, folgte einem gewundenen Kurs über die dünnen, gekrümmten, aneinander stoßenden Beckenränder.
Tief in der Höhle hatte eines der Mäuler sich um ein Mädchen geschlossen.
Jacen blieb über ihr stehen und balancierte auf dem Beckenrand aus warmem Stein. Sie sah ebenso wirklich aus, wie Anakin ausgesehen hatte, von dem wirren, verfilzten Haar bis zum Schmutz auf ihrem Gesicht, der von Tränen verwischt wurde. Nur ihr Kopf und ein Arm reichten noch aus den fest geschlossenen Lippen, die sie hielten, und als sie Jacen über sich sah, streckte sie den Arm nach ihm aus, und ihre Finger reckten sich hilflos. In ihren Augen standen Schmerzen und Angst.
»Bitte, wer immer du sein magst BITTE du musst mir HELFEN bitte es FRISST mich, es, es, es frisst mich BEI LEBENDIGEM LEIB …«
Er wusste nun, was diese runzligen Lippen waren. Die Höhle droben stellte nur eine Art Kropf dar; die echten Mägen befanden sich hinter diesen Mäulern am Boden der Becken. Deshalb zeigte ihm das Höhlentier ein Mädchen dort unten.
Sie war ein Köder.
»Sei still«, flüsterte Jacen. »Es gibt dich nicht wirklich. Sei still.«
Er wollte nur einen ruhigen Ort, an dem er sterben konnte. War das zu viel verlangt? Hatte er das nicht verdient? Warum musste alles so scheußlich sein, so widerwärtig, warum war alles immer so gemein? Konnte er nicht einmal in Frieden sterben?
Hasste ihn denn das ganze Universum?
Es gibt nur eine Antwort, wenn das Universum dich hasst, flüsterte der Schattenwurm von der Basis seines Schädels aus. Erwidere den Hass.
Also tat er das.
Es war einfach.
Er hasste das Universum. Hasste alles daran: all dieses sinnlose Leiden, die nutzlosen Tode und all die dummen, geistlosen mechanischen Gesetze und die sich windenden, blutverschmierten ignoranten Lebensformen; er hasste das Steinfleisch unter seinen Füßen und die Luft, die er atmete, hasste sich selbst, hasste selbst den Hass, den er empfand, und plötzlich war er nicht mehr müde, er war nicht mehr verwirrt, alles war einfach, alles war leicht, alles war sinnvoll, denn Hass war alles, und alles war Hass, und er wollte nicht mehr sterben.
Er wollte jemandem wehtun.
Er schaute hinab zu dem schreienden Mädchen. Er hasste sie.
Sie war nicht einmal echt. Wie ein Traum. Er konnte tun, was er wollte. Alles. Sein Herz dröhnte, und sein Atem ging stoßweise und heiß.
Alles.
Er fühlte sich so mächtig, als wäre ein Damm in seiner Brust gebrochen. Er lächelte, streckte die Hand aus und ballte die Faust.
Die Macht erstickte die Schreie zu einem erschrockenen Würgen. Durch die Macht konnte er das Entsetzen der jungen Frau spüren, das heftige Brennen der Verdauungssäuren, die langsam ihre Haut auflösten; in der Macht konnte er sich selbst mächtig fühlen, wirklich mächtig, mächtig genug, um ihren Schädel zu knacken wie ein Pterosaurus-Ei, mächtig genug, um …
Warte, sagte eine letzte Faser von Verstand. Warte …
Er konnte sie spüren − in der Macht?
»Oh …«, flüsterte er. Seine Knie gaben nach. »O nein, nein, o bitte nicht …«
Sein Hass und seine Kraft vergingen gemeinsam. Er fiel nach vorn, seine Stiefel verloren den Halt auf dem Rand, und er stürzte in das Becken, um wie knochenlos neben das Magenmaul zu fallen. Er hätte einfach nur liegen bleiben können, hätte einfach zulassen können, dass er das Bewusstsein verlor, und schlafen, bis das Maul neben ihm sich wieder öffnete, um sich um ihn zu schließen, aber stattdessen klammerte sich eine Hand, eine Mädchenhand, eine wirkliche Hand, die einem wirklichen Mädchen gehörte, verzweifelt an seine Gewandhaut, rüttelte ihn wach, und ihr Kreischen versengte seine Ohren. »HILF mir du musst mir helfen HILF MIR …«
»Tut mir Leid«, murmelte Jacen, blinzelte mehrmals und strengte sich an, den Blick zu konzentrieren. Er versuchte aufzustehen. »Es tut mir Leid, es tut mir so Leid, ich wusste nicht …«
Nun sah er besser, und er sah sie, sah sie zum ersten Mal wirklich. Er sah, dass ihr Haar, das nun von einer fettigen Dreckschicht überzogen war, einmal lang, weich und goldblond gewesen war; er sah, dass ihre Augen blau waren, ihr Gesicht ein zartes Oval; er sah, dass …
Sie ist nicht einmal so alt wie ich.
Und wenn ich nicht SOFORT etwas tue, wird sie nicht viel älter werden.
Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass seine Beine ihn trugen; er schwang sich herum, um die Füße gegen die Wölbung der Magenlippen zu stützen, und nahm ihr Handgelenk in beide Hände. Er zog fest, so fest er konnte, fest genug, dass ihr Flehen zu einem schmerzerfüllten Schrei wurde …
»Du brichst mir den ARM bitte du musst hochklettern du musst mich hochziehen …«
Hochklettern? Er hatte nicht die Kraft zu stehen. Er hatte nicht die Kraft, sie zu retten. Er hatte nur noch die Kraft, ihr noch mehr wehzutun.
Und sie in ihren letzten Minuten mit leerer Hoffnung zu foltern.
Er konnte sich kaum vorstellen, was sie durchgemacht haben musste … Wahrscheinlich war sie bei der Evakuierung von Coruscant zurückgelassen worden, hatte die Bombardierung, die Invasion durch die Yuuzhan Vong und die erschütternde Veränderung ihrer Welt in die der Vong überlebt: das Herausreißen eines gesamten Planeten aus seiner Umlaufbahn. Sie musste sich all diese Wochen und Monate im Schatten der unteren Ebenen verzweifelt versteckt haben, den Eroberern aus dem Weg gegangen sein. Und als das Höhlentier sie in seine Kehle lockte …
Ihr Herz musste vor Erleichterung und Freude schier geborsten sein. Sie hatte eine Zuflucht gefunden.
Und dann hatte sie feststellen müssen, dass die einzige wahre Zuflucht der Tod war.
Und was für eine Art zu sterben: bei lebendigem Leib verschlungen zu werden, verdaut, während sie noch bei Bewusstsein war.
Und als sie aufgeblickt und ihn auf dem Rand über sich gesehen hatte, diese Explosion plötzlicher Hoffnung …
Denn sie konnte schließlich nicht wissen, dass der Mann, der zu ihrer Rettung gekommen war, ein gebrochener Ex-Jedi war, besudelt von Dunkelheit, halb verrückt vor selbstmörderischer Verzweiflung.
Wie hatte er so nutzlos werden können?
Die schlichte Ungerechtigkeit machte ihn zornig.
Warum sollte er derjenige sein, der zusehen musste, wie dieses Mädchen starb? Er hatte nie darum gebeten, ein Held zu sein. Er hatte nie darum gebeten, mächtig zu sein. Von dem Tag an, als er zur Welt gekommen war, hatte die gesamte Galaxis ihn beobachtet, hatte darauf gewartet, dass er etwas Großes tat, dass er der Legende seiner berühmten Eltern, seines legendären Onkels gerecht wurde.
Er konnte nicht einmal seiner eigenen Legende gerecht werden, was für eine das auch sein mochte.
Und es hatte viele gegeben, denen das gefiel. Es hatte viele gegeben, die sich ein dreckiges leises Lachen nicht verkneifen konnten, die ihn hinter seinem Rücken einen Feigling nannten. Und nicht einer dieser widerlichen, boshaften, spottenden Idioten hatte jemals spüren müssen, wie es war, in der Umarmung des Todes zu hängen oder sich hoffnungslos anzustrengen, um ein paar Leben in der Zuchtstation zu retten, oder gezwungen zu sein, dieser Gleichgültigkeit mit ihrem schwarzen Herzen gegenüberzustehen, der tatsächlichen Wahrheit hinter dem Universum …
Zorn stieg in ihm auf, wuchs und riss ihn in die vertraute rote Flut, aber diesmal kämpfte er nicht dagegen an, wehrte sich nicht, schlug nicht um sich, ertränkte sich nicht in der Strömung. Er begrüßte sie.
In der roten steigenden Flut fand er alle Kraft, die er brauchte.