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Mulcahy nickte dem Wachmann, der die eisenbeschlagene Tür hinter ihm schloss, zum Abschied kameradschaftlich zu, trat ins Sonnenlicht und zog die Zigarettenschachtel heraus, die er schon seit über einer Stunde in der Jackentasche umklammerte. Er zündete sich eine Zigarette an, saugte den Rauch tief in seine Lungen und atmete mit einem von Herzen kommenden Seufzer der Erleichterung wieder aus. Dabei versuchte er, die in aller Höflichkeit vorgebrachte Abfuhr zu vergessen, die der spanische Botschafter und Ibañez ihm erteilt hatten.

»Meine Regierung erwartet, dass die Garda Síochána diesen Fall mit der Dringlichkeit behandelt, die dem Status der beteiligten Personen entspricht, Inspector«, hatte Botschafter Escriva betont. Der große, blonde Mann, dessen Manieren noch untadeliger waren als sein Anzug, gab insgesamt eine imposantere Figur ab als sein kleiner Botschaftssekretär.

»Ich kann Ihnen versichern, dass der Fall mit absoluter Priorität behandelt wird, Herr Botschafter«, hatte Mulcahy erwidert und wiederholte das dann noch in hundert Variationen, weil der Diplomat immer wieder darauf zu sprechen kam.

Auf dem Weg zu seinem Wagen drehte Mulcahy sich noch einmal um. Er konnte der Pracht des Hauses im Kolonialstil mit dem üppigen, gepflegten Garten nicht widerstehen. Wie die meisten alten diplomatischen Vertretungen in Irland befand sich auch die spanische Botschaft in einer der großen Villen im Dubliner Postleitzahlbezirk 4. Ob durch Zufall, raffinierte Spekulation oder den Glanz, den ein diplomatischer Posten mitbrachte, war dies eines der wenigen Viertel in der Stadt, das vom katastrophalen Absturz der Grundstückspreise nicht betroffen war. Snobismus schien selbst eine Rezession nichts anhaben zu können.

Plötzlich zerstörte sein Handy die Ruhe um ihn herum. Er sah aufs Display, erkannte die Telefonnummer von Javier Martinez und meldete sich unwirsch.

»Herrgott noch mal, das ging jetzt aber wirklich fix«, sagte Mulcahy.

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein verwirrtes, Scooby-Doo-artiges Grunzen. »Was willst du mir damit sagen, Mike?«

»Ich stehe vor der Botschaft, Jav. Ich hab die hier gerade erst auf den neuesten Stand …«

»Darüber weiß ich nichts«, unterbrach Martinez ihn etwas distanziert. »Eigentlich rufe ich an, weil ich dich auf den neuesten Stand bei uns bringen wollte. Nach unserem letzten Telefonat habe ich ein Investigationsteam gebeten, die aktuelleren Drohungen gegen Don Alfonso neu zu bewerten.«

»Und?«

»Sie meinen, etwas gefunden zu haben, was für deinen Fall bedeutsam sein könnte.«

»Wirklich?« Mulcahy gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen.

»Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht«, antwortete Martinez. »Immerhin handelt es sich nicht um eine anonyme Drohung, sondern sie stammt von einer ETA-Zelle, die gesagt hat, sie würde Don Alfonso oder die Mitglieder seiner Familie bei jeder sich bietenden Gelegenheit umbringen, auch dort, wo sie am wenigsten damit rechneten, sowohl in Spanien als auch im Ausland

Mulcahy seufzte tief. »Na ja, sehr konkret ist das aber nicht, Jav. Glaubst du wirklich …«

»Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll«, unterbrach Martinez ihn wieder. »Meine Leute glauben, dass die ETA historisch gesehen Verbindungen zur Provisional IRA hat und Irland daher … Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber der Mann, den ihr da in Gewahrsam habt, hat keine Verbindungen zur IRA, oder?«

»Scully?«, schnappte Mulcahy. »Nein, hat er nicht. Also, wir wissen jedenfalls nichts davon. Und nach allem, was ich bisher gehört habe, kann ich es mir auch nicht vorstellen. Ich werde das natürlich überprüfen.«

»Gut«, sagte Martinez. »Gib mir Bescheid, wenn du etwas rauskriegst.«

Mulcahy beendete das Gespräch und schüttelte ungläubig den Kopf. Eine ETA-IRA-Verbindung? Herrje, die Sache wurde von Minute zu Minute verrückter. Irgendetwas Sinnvolles musste er doch jetzt tun können. Als er den Autoschlüssel aus der Tasche zog, berührte sein Finger den Zettel, auf den er Grainne Mullins’ Adresse geschrieben hatte. Das war die einzige Spur, auf die er bisher gestoßen war. Er sah sich die Adresse noch einmal an. Sie war keine zwei Kilometer entfernt. Er wendete und fuhr in Richtung Irishtown.

Er war zwar nur anderthalb Kilometer gefahren, doch die Straße, in der Grainne Mullins wohnte, schien Lichtjahre von den ruhigen Alleen des Botschaftsviertels entfernt zu sein. Die Sozialwohnsiedlung war auf einer ehemaligen Mülldeponie erbaut worden und lag im Schatten des Pigeon-House-Kraftwerks. Sie war umschlossen von den Abfällen der südlichen Flussdocks und drei belebten Hauptverkehrsstraßen. Ein paar hagere Jugendliche mit Bürstenschnitt, Baseballkappen und alten Turnschuhen starrten ihn verdrießlich an, als er vorbeifuhr. Sie hatten ihn instinktiv als Polizisten erkannt. Er parkte vor dem Haus Nummer 18, dem letzten in der Straße, schloss den Wagen ab, ging zur Tür und klingelte, während er die Blicke der Jugendlichen in seinem Rücken spürte und die Verzückung in ihren höhnischen Bemerkungen hörte. Einer rief lauter als die anderen: »Gehst ’ne Nummer schieben, wa, Bulle?«

Er beachtete sie nicht, nahm vielmehr die dünne, windzerzauste Hecke in Augenschein, die sich ums Haus zog. Dahinter hatte laut Bericht der Überfall stattgefunden. Er bezweifelte, dass hier irgendjemand auf Hilferufe reagiert hätte, selbst wenn die Frau nicht geknebelt gewesen wäre.

Der Geruch von saurer Milch und Schimmel erreichte ihn schon, bevor sie die Tür so weit geöffnet hatte, dass er sie sehen konnte. Sie war klein, unter eins sechzig, trug ein weites, rosafarbenes Top mit U-Ausschnitt und hellblaue Jeans. Dicke blondierte Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Es musste vor nicht allzu langer Zeit hübsch gewesen sein, jetzt aber war es eingefallen und vom Leben gezeichnet.

»Grainne Mullins?«

»Ja, was ist los?«

Sie beäugte ihn misstrauisch, legte einen Arm über die Brust und zupfte mit der anderen Hand unsicher an ihrem Pony herum. Mulcahy erstarrte. Unter ihren Haaren hatte sie eine helle Narbe auf der Stirn. Er konnte den Blick nicht abwenden. Niemand hätte behaupten können, dass das kein Kreuz wäre. Wieso war das im Bericht nicht erwähnt worden?

»Gibt’s was Bestimmtes, oder wollen Sie mich einfach nur anstarren?«

»Entschuldigung«, sagte er. »Ich bin von der Polizei.«

»Ja, das seh ich, aber was wollen Sie? Mein Baby hat Hunger.«

Wie aufs Stichwort fing im Haus ein Baby an zu schreien. Mulcahy sah an der Frau vorbei ins Haus, wo die Tapeten sich im Flur von den Wänden lösten. Die Treppe war mit schmutzigem, rosa Teppichboden belegt, und hinter einer der Wohnungstüren war eine Küche zu erkennen. Sie ähnelte einem Sumpf.

»Ich würde mit Ihnen gern kurz über den Überfall vor einem Jahr sprechen«, sagte Mulcahy.

Ihre Reaktion traf ihn völlig unvorbereitet.

»Sie ticken ja wohl nicht ganz richtig, was?«, fauchte sie mit wütender Miene und wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Er bekam gerade noch den Fuß dazwischen.

»Nein, bitte warten Sie, Grainne«, flehte er.

»Sie können mich mal.« Sie stemmte ihr geringes Gewicht von innen gegen die Tür. »Euer Verein ist einfach unglaublich. Warum könnt ihr nicht einfach bezahlen wie alle anderen auch.«

»Ich will nur mit Ihnen reden.«

»Ja, aber klar doch. Genau wie der andere Wichser, oder was?«

»Hören Sie, ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden, Grainne, aber ich schwöre Ihnen, dass es wichtig ist. Ich glaube, der Kerl, der Sie überfallen hat, hat wieder zugeschlagen. Dieses Mal sogar noch schlimmer. Ich brauche Ihre Hilfe – um ihn aufzuhalten.«

Er spürte, wie der Druck auf seinen Fuß nachließ, sah, wie der Schatten ihrer Figur sich von der Scheibe in der Tür entfernte. Ihr Gesicht erschien im Türspalt – er konnte den Blick nicht von den Augen und der vernarbten Stirn abwenden.

»War es wieder eine, die anschaffen geht?«, fragte sie. »Ich dachte, das würde ich mitkriegen.«

»Nein, ein Mädchen.« Schon während er das sagte, wurde ihm bewusst, welche Ironie in den Worten lag, da die Frau vor ihm nur gut vier Jahre älter war als Jesica Salazar.

»Na, dann kommen Sie lieber rein.«

Mulcahy merkte schnell, warum in dem Fall nie richtig ermittelt worden war. Prostituierte wurden von niemandem fair behandelt und von der Garda Síochána schon gar nicht. Grainne Mullins sagte es zwar nicht direkt, aber Branigan, der Detective, der für ihren Fall zuständig gewesen war, hatte die Hilfe, die er ihr gewähren konnte, offenbar gegen sexuelle Gefälligkeiten eingetauscht, und als sie nach ein paar Terminen nicht mehr mitspielte, hatte er den Fall in der Versenkung verschwinden lassen – zu seinem eigenen Besten. Grainne Mullins hatte sich damit abgefunden und ihr Leben weitergelebt, ohne zu wissen, dass Branigan versetzt worden war. Sie war davon ausgegangen, dass er versuchen würde, das alte Arrangement fortzusetzen, wenn sie versuchte, die Ermittlungen weiterzuverfolgen.

»Kommt mir vor, als ob das schon eine Ewigkeit her ist«, sagte sie und deutete auf das Baby in der Wiege neben sich. »Hab den Kleinen hier inzwischen dazugekriegt. Ich hatte die Wohnung grad erst neu angemietet, weil ich ja schon die beiden anderen hatte.«

Das Baby schlief mit einem Schnuller im Mund. Von den anderen beiden Kindern war nichts zu sehen. Sie führte Mulcahy ins winzige, spärlich möblierte Wohnzimmer. Ein blaues Schaumstoffsofa, ein Sessel und ein kleiner Fernseher auf einer umgedrehten Plastikbox standen zwischen den Babysachen und dem Spielzeug, das über den ganzen Fußboden verteilt war. Alles war billig, dreckig und kaputt. Wieder sah er die Narbe auf ihrer Stirn an und erschauerte bei dem Gedanken, wie ihre anderen Wunden aussehen mussten. Wie hatte sie es überhaupt geschafft, weiter im Geschäft zu bleiben?

Sie las seine Gedanken.

»Sie können sich nicht vorstellen, was manche Typen anmacht. Von ein paar von denen kann ich einen Zuschlag dafür nehmen, dass ich vor ihnen das Oberteil auszieh.« Sie schnaubte über die Dummheit der Männer. »Die meisten anderen sind meistens so zugedröhnt, wenn sie zu mir kommen, dass sie das überhaupt nicht mitkriegen.«

»Was war mit dem Mann, der Sie angegriffen hat?«, fragte Mulcahy.

»Das soll wohl ein Witz sein«, johlte sie. »Das Schwein wollte überhaupt nichts von mir. Der hat bloß ein bisschen blöd an sich rumgefummelt und mich dann zerschnitzt.«

»Hat er Ihnen die Wunden zugefügt, weil er wütend war, dass er es nicht tun konnte?«

»Woher soll ich das wissen?«, sagte sie. »Ich hatte jedenfalls mehr Angst vor seinem Messer als sonst irgendwas. Nachdem er mich zu Boden geworfen und mir die Hände gefesselt hat, hat er mich nicht mehr angerührt. War ziemlich seltsam. Er hat mir dann den BH abgeschnitten und auch ein bisschen an sich rumgefummelt. Ich hab aber gleich gemerkt, dass er nicht richtig bei der Sache war. Erst danach, als er dann an mir rumgeschnippelt hat, haben seine Augen so richtig geleuchtet. Ich hatte solche Angst, dass ich gar nichts gespürt hab. Ich hab bloß gesehen, wie das Blut da rausgequollen ist. Dann war ich völlig weggetreten. Kann mich an kaum noch was erinnern, außer dass ich schreien wollte, was ich aber nicht konnte, weil er mir einen Lappen in den Mund gestopft hatte.«

»Was ist mit diesem Lappen passiert?«, fragte Mulcahy.

Sie sah ihn an, als hätte er zwei Köpfe.

»Das ist ein Beweisstück. Vielleicht finden wir daran Spuren«, sagte er. »Also, ist hinterher denn jemand hier gewesen und hat den Tatort untersucht oder Beweise gesammelt?«

Der höhnische Blick in ihrem Gesicht verstärkte sich. »Herrgott, Sie haben ja echt keinen Schimmer, wie das hier abgeht, was? Also, der Einzige, der hier gewesen ist, war dieser Bulle, wie hieß der noch?«

»Branigan.«

»Genau. Und der hat sich, wie ich schon sagte, nur für die Schutzgebühr interessiert, die er in Naturalien kassiert hat. Als er erfahren hat, dass ich eine Professionelle bin, war die Sache gelaufen. Freiwild hat er mich genannt. Das ist immer die gleiche Scheiße.«

»Können Sie mir sagen, was Sie direkt vor dem Überfall gemacht haben?«, fragte Mulcahy, der beschlossen hatte, das Thema Branigan einen Moment zu umgehen.

»Was soll das bringen – Sie werden ihn jetzt sowieso nicht mehr schnappen, was? Und woher wollen Sie überhaupt wissen, dass es derselbe Typ war?«

»Ich weiß es nicht, allerdings wäre es mir lieber, wenn hier nur ein Verrückter rumläuft, der solche Nummern abzieht.«

»Also gut. Ich war grad nach Hause gekommen und hab meine Schlüssel gesucht. Ich kam von einem Hausbesuch in Glasthule. Von einem Stammkunden – der zahlt mir immer das Taxi nach Haus.«

»Könnte der Taxifahrer etwas gesehen haben? Hat er Sie nicht vor der Tür abgesetzt?«

»Na ja, ich bin eben ein echter Glückspilz, was? Der Fahrer sagte, dass er kaum noch Benzin im Tank hat, und darum hat er mich gefragt, ob er mich unten an der Straße absetzen und direkt zur Tankstelle an der Bath Street weiterfahren kann. Mir war das egal. Ich dachte, da spar ich noch das Trinkgeld. Aber das musste natürlich ausgerechnet an dem Abend passieren, wo ein Perverser unterwegs war.«

»Hatten Sie den Angreifer vorher gesehen? Ist er Ihnen die Straße entlang gefolgt?«

»Keine Ahnung. Er kam von hinten, als ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt habe. Es war, als ob er direkt in mich reingerannt wäre oder so. Ich bin mit dem Kopf gegen die Tür geknallt und wäre fast k.o. gegangen. Meine Schlüssel und alles sind runtergefallen. Dann weiß ich nur noch, dass ich auf dem Boden lag, die Hände hinter dem Rücken gefesselt waren und merk, wie er mir den Lappen in die Fresse stopft. Ich dachte, ich muss kotzen, aber als ich das Messer gesehen hab, konnte ich mich vor Angst nicht rühren.«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

»Was glauben Sie, verdammte Scheiße noch mal? Er hatte mir gerade einen über die Birne gegeben. Ich hab nur noch Sterne gesehen.«

»Aber Sie müssen doch irgendeinen Eindruck von ihm bekommen haben?«

»Eigentlich nicht.«

»Was ist mit seinem Alter? War er jung oder alt?«

»Herrgott, woher soll ich denn das wissen? Ich war doch völlig fertig und hab nur das Messer angestarrt.«

»Tja, und wenn Sie es einfach schätzen müssten?«

Sie zuckte die Achseln. Offensichtlich hatte man ihr diese Frage noch nicht gestellt.

»Na ja, er war wohl kein Jugendlicher. Aber auch nicht zu alt. Auch ziemlich groß und kräftig, allerdings kein Riese oder so.«

»Im Bericht steht, Sie kannten den Mann nicht. Warum waren Sie sich da so sicher? Hat er etwas gesagt? Kannten Sie die Stimme nicht?«

»Wollen Sie mich verarschen? Verdammt, die Stimme erkennt man sofort wieder, wenn man sie einmal gehört hat. Ganz leise und sanft. Und ziemlich gebildet, wenn ich jetzt so drüber nachdenke. Der kam bestimmt nicht hier aus dem Viertel. Und er hat die ganze Zeit vor sich hin gebrabbelt. Besonders nachdem er an mir rumgeschnippelt hat. Das hat er immer weiter gemacht, ganz leise, aber nicht aufgeregt, sondern vollkommen abgedreht. Er hat die ganze Zeit vor sich hin geschimpft und gemurmelt, als ob er irgendwie seine Gebete spricht oder so ’n Scheiß.«

»Gebete?«

»Ach, ich weiß auch nicht.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich hab die ganze Zeit nur Bahnhof verstanden. Ich weiß nur, dass er ein irres Arschloch war und mich böse geschlitzt hat.«

»Aber er hat nicht versucht, Ihnen irgendwelche Brandwunden zuzufügen?«

»Scheiße«, keuchte sie. »Was wollen Sie? Reicht Ihnen das nicht, was der mir angetan hat, oder was?«

»Entschuldigung, ich musste nur nachfragen.« Mulcahy lächelte zaghaft, das Lächeln wurde jedoch nicht erwidert. »Ich sollte wohl lieber gehen. Damit Sie sich hier wieder um alles kümmern können.«

An der Tür blieb er kurz stehen und fragte: »Hat er irgendetwas mitgenommen?«

»Was meinen Sie?«

»Irgendetwas Persönliches? Ein Schmuckstück oder so was, vielleicht eine Kette oder …«

»Meinen Sie mein Versace-Teil?« Sie hatte fast ein Lachen in den Augen, als sie ihn anstarrte.

»Ihr was?«

»Ach, vergessen Sie’s«, sagte sie. »Die anderen Mädchen haben sich deswegen immer über mich lustig gemacht. Es war eins von diesen großen Versace-Kreuzen, die vor ein paar Jahren modern waren. Kennen Sie die?«

Mulcahy sagte nichts, hatte Angst, ihren Redefluss zu unterbrechen.

»Es war ein großes, goldenes Kreuz mit jeder Menge falschen Edelsteinen und Glasperlen und so was. So ähnlich wie die, die Rapper oft haben.«

»Und das haben Sie damals getragen?«

»Ja. Also, es war ja nicht echt oder so, nur ein billiges Teil, das ich auf der Henry Street für ’n Appel und ’n Ei gekriegt habe. Die Leute haben sich aber immer den Mund darüber zerrissen … na ja, wegen der Branche, in der ich arbeite und so.«

»Und das hat er mitgenommen? Im Bericht stand nichts davon.«

»Ja, also … Ich glaub schon, dass ich das damals mal erwähnt habe. Vielleicht hab ich aber auch nicht dran gedacht. Es war ja bloß alter Plunder. Er hatte mich mit dem Messer aufgeschlitzt, verdammt noch mal.«

»Aber er hat es mitgenommen. Da sind Sie sicher?«

Sie nickte und seufzte.

»Ja, absolut. Gleich als ich vor ihm auf dem Rücken lag, hat er daran gezogen, als ob er mich erwürgen wollte. Das war aber nur billiger Schrott, darum ist sofort die Kette gerissen. Darüber hat er sich geärgert – er hat wohl gedacht, dass es wertvoll ist. Und dann hat er mit seinen Gebeten angefangen und gezetert, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist und so weiter.« Sie schwieg einen Moment lang, dann mischte sich ein schmerzlicher Unterton in die wütende Stimme. »Was zum Teufel versteht der schon davon, hä? Hat mich mit ’nem Messer aufgeritzt und dabei über Jesus geschwafelt, der am Kreuz gestorben ist.«

»Wie ein Priester«, sagte Mulcahy mehr zu sich selbst.

»So einem Priester bin ich noch nie begegnet«, sagte sie. »Wobei ich mit denen hier nicht so viel zu tun habe. Die meisten machen lieber an kleinen Jungs rum.«

Sie wartete die Begrüßung auf Mulcahys Anrufbeantworter ab, dann ertönte der Piepton.

»Hey, Inspector, hier ist die Chefreporterin. Tut mir leid, dass ich heute Morgen nicht zum Frühstück bleiben konnte, aber ich musste ein paar dringende Anrufe erledigen und früh am Schreibtisch sein. Ich hab auch versucht, dich zu wecken, du hast allerdings noch tief geträumt. Na ja, jedenfalls wollte ich mich nur kurz, du weißt schon, für letzte Nacht bedanken und hoffe, dass dein Kopf dir nicht zu sehr zu schaffen macht. Ich freu mich schon darauf, wenn wir uns das nächste Mal bei unseren Untersuchungen zur Hand gehen können.«

Siobhan unterbrach die Verbindung, legte das Handy zur Seite und lächelte seit ein paar Stunden zum ersten Mal. Der größte Teil des Tages war schon vorbei, bis sie zu dem gekommen war, was sie am dringendsten wollte. Erst hatte sie den halben Vormittag damit verbracht, die Sache mit der absurden E-Mail aus der Welt zu schaffen. Bei ihrem Anruf war Bishop extrem zurückhaltend gewesen und hatte sich entschuldigt. Auf eine ziemlich jämmerliche Art, indem er behauptete, dass sein Name gar nicht auf der Buchung hätte stehen sollen. Der Urlaub wäre nur für sie – »wenn Sie das so wollen«. Was für ein Widerling! Als ob sie es je in Erwägung gezogen hätte. Allein bei dem Gedanken, dass diese feuchte Haut auch nur irgendwo in ihre Nähe kam, fing sie fast an zu würgen. Aber aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich die letzten Überreste von Eigeninteresse –, nachdem er versprochen hatte, die ganze Sache abzublasen, hatte sie sich dann wieder beruhigt und ihm erlaubt, das Gespräch auf ein neues Gerüchtehäppchen über Marty Lenihan zu bringen, das er aufgeschnappt hatte, und schließlich hatten sie sich halbwegs freundlich voneinander verabschiedet.

Tief im Innersten wusste sie, dass das nicht so bleiben würde. Selbst wenn Bishop es für unschuldige, kleine Gefälligkeiten hielt, gruselte sie sich doch von Tag zu Tag mehr davor. Und diesen Stress waren auch noch so viele gute Storys nicht wert. Wenn es ihr nicht endlich gelang, deutlich mehr Abstand zwischen sich und Bishop zu bringen, konnte es nur noch bergab gehen. Wie sie das machen sollte, wusste sie allerdings immer noch nicht. Schließlich wollte sie ihn sich nicht zum Feind machen. Aber sie war auch nicht dazu gekommen, in Ruhe darüber nachzudenken. Als sie mit dem Kaffee in die Redaktion zurückkam, musste sie mit Paddy schon zur dienstäglichen Manöverkritik in Harry Heffernans Büro, in der sich der Chef über jedes falsche Komma, jeden falsch geschriebenen Namen, jede verhunzte Bildunterschrift und jede Lücke in der Schlagzeile aus der letzten Ausgabe ausließ – bis zum Erbrechen.

Als sie da endlich wieder herauskam, war Mittagszeit, und die war natürlich auch verplant – sie war draußen, in Dun Laoghaire mit einem Stadtrat der Fianna Fail zum Essen verabredet, der ihr bei Nachforschungen für einen Artikel über die Finanzierung der örtlichen Parteien half. Als sie zurückkam, war es schon nach drei, sie dachte an Mulcahy und beschloss, ihn anzurufen. Im Grunde war sie froh, nur seinen Anrufbeantworter zu erreichen. Sie hatte noch so viel anderes zu erledigen. Aber schon der Gedanke an ihn hatte etwas Angenehmes.

Sie nahm einen Bleistift, zog einen Spiralblock zu sich heran und blätterte ein paar Seiten zurück. Sie klopfte sich mit dem Bleistift gegen die Zähne, dann kreiste sie einen Namen auf der Seite vor sich ein. Eine kurze Berührung der Maus erweckte den Computermonitor vor ihr zum Leben. Sie tippte ein Passwort ein, klickte auf einen Ordner mit der Bezeichnung Laufende Recherchen und wählte darin einen Unterordner namens JMS aus. Die Anzahl der Dateien darin nahm zu. Mit einer Taste rief sie Google auf und tippte »spanische Politiker« ins Suchfeld. Sie erhielt eine sehr lange Liste, die meisten mit neueren Storys, nach kurzer Zeit hatte sie die Suche allerdings so weit eingekreist, dass sie die aktuellen Mitglieder des Cortes vor sich hatte. Ein paar Sekunden später stand ihr Atem still, als ihre Augen den Namen vom Schreibblock in der Liste entdeckten.

»Verdammt«, sagte sie und sah sich um, ob Paddy Griffin irgendwo in der Nähe war.

Dieses eine Mal war er es jedoch nicht.

Drüben am Harcourt Square hatten sich Mulcahys Hoffnungen auf schnelle Fortschritte nicht erfüllt. Brogan und Cassidy hatten den Großteil des Tages im Vernehmungsraum verbracht und versucht, Scully weichzukochen. Mulcahy hatte sie in einer kurzen Notiz über das informiert, was er über Grainne Mullins erfahren hatte, und einem schwer begeisterten Hanlon den Auftrag gegeben festzustellen, ob Scully möglicherweise irgendwelche Verbindungen zur IRA hatte. Auf beides war bisher keine Reaktion erfolgt. In der Zwischenzeit hatte er sich etwas mit Detective Branigan beschäftigt und schließlich herausgefunden, dass er in einer Spezialeinheit für die Bearbeitung bewaffneter Überfälle in Dublin West arbeitete. Seine Bemühungen, mit ihm in Kontakt zu treten, waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt, da Branigan bis morgen freihatte und er es dann noch einmal versuchen sollte. Nachdem er beim Durchsehen der restlichen Antworten auf seine Anfrage in den Revieren nichts weiter Interessantes gefunden hatte, rief er Javier Martinez in Madrid an, um sich zu erkundigen, ob sich aus der ETA-Spur etwas ergeben hatte. Das hatte es nicht.

Als Brogan und Cassidy zum abendlichen Meeting wieder zurück waren, erwies sich das als eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Sie berichteten, der Verdächtige wäre zwar die ganze Zeit »hilfsbereit« und auf seine großspurige Art höflich gewesen, hätte sich aber hartnäckig geweigert, die Aussage zu ändern, dass er sich am Stillorgan Shopping Centre von Jesica getrennt hätte und direkt nach Hause gegangen wäre. Außerdem hatte er vehement abgestritten, dass die Drogen, die sie in seinem Schlafzimmer gefunden hatten, ihm gehörten. Tatsächlich hatte er für die Tonaufnahme nicht weniger als fünfundzwanzigmal erklärt, dass sie ihm von Mitgliedern des Durchsuchungsteams der Garda untergeschoben worden sein müssten. Derweil waren sie auch nicht mit Ergebnissen der Labortests aus dem Lieferwagen erschlagen worden, und die wenigen, die hereinkamen, enthielten keine konkreten Anhaltspunkte. Niederschmetternd war vor allem, dass die Blutproben aus dem Innenraum definitiv nicht von Jesica stammten, obwohl es sich eindeutig um menschliches Blut handelte. Jetzt musste es mit Scullys und dem seines Vaters verglichen werden, die sich jedoch beide geweigert hatten, eine Blutprobe abzugeben. Insgesamt ließ sich nicht bestreiten, dass die Ermittlungen gegen Scully ins Stocken gerieten. Brogan beschloss, ihn über Nacht in Gewahrsam zu behalten, und teilte ihm mit, dass sie ihn am nächsten Tag wegen Drogenbesitzes dem Haftrichter vorführen lassen würde und er sich bis dahin einen Anwalt besorgen sollte.

»Und jetzt raten Sie mal, wessen Telefonnummer er dem Sergeant daraufhin gegeben hat?«, spottete Cassidy. »Die von dem verdammten Dermot Kennedy.«

Ein wissendes Stöhnen ertönte im Raum. Jeder Polizist in Dublin kannte Kennedy als einen der dienstältesten, verschlagensten und unangenehmsten Anwälte der Stadt. Sie konnten sicher sein, dass er Brogan das Leben so schwer wie nur möglich machen würde, obwohl sie davon überzeugt waren, dass sie Scully wegen der Drogen weiterhin in Gewahrsam behalten konnten.

»Das beweist eins«, merkte Whelan an. »Wenn Scully sich Kennedys Honorar leisten kann, ist er kein richtiger Student.«

»Das stimmt, ich glaube aber nicht, dass die Geschworenen das auch so sehen«, sagte Brogan. Darauf wandte sie sich an Mulcahy und sagte in freundlicherem Tonfall: »Der Inspector scheint der Einzige zu sein, der heute irgendwelche echten Fortschritte gemacht hat. Würden Sie uns mitteilen, was Sie über das mögliche vorherige Opfer herausbekommen haben, Mike?«

Die kurze Unruhe, die entstand, als ein paar Leute sich umdrehten oder die Stühle zurechtrückten, konnte den leisen Seufzer aus einem Munde nicht ganz übertönen: »Herrgott, hoffentlich fängt er nicht wieder mit dem verdammten Priester an.«

»Sergeant«, sagte Mulcahy, starrte Cassidy an und wartete, bis es wieder ruhig geworden war, »wenn Sie keine eigenen Ideen hervorbringen, würde ich Ihnen raten, den Mund zu halten.«

Cassidy musterte ihn finster und murmelte etwas, das klang wie: »Von dem Wichser nehm ich keine Ratschläge entgegen.«

»Was war das?« Mulcahy erstarrte.

»Äh, wenn Sie meinen, Sir«, sagte Cassidy und sah sich albern grinsend um, was bei einigen ein leises Kichern erzeugte.

»Okay, das reicht jetzt«, unterbrach Brogan. »Inspector Mulcahy hat recht, wir brauchen neue Ideen, egal, woher sie kommen. Also seid ruhig und hört zu, was er zu sagen hat. Vielleicht lernt ihr ja etwas.«

Mulcahy gab einen kurzen Abriss seines Besuchs bei Grainne Mullins und stellte befriedigt fest, dass alle im Raum, einschließlich Cassidy, die Bedeutsamkeit zu erkennen schienen.

»Danke, Mike«, sagte Brogan, als er fertig war. »Wirklich gute Arbeit. Ich glaube, wir sind uns einig, dass das eine sehr interessante Entwicklung ist.«

Sie stand auf, ging wieder nach vorn und wandte sich an die kleine Gruppe. »Okay, Leute, wie es aussieht, hat Scully oder wer auch immer das schon einmal gemacht. Donagh und Brian, ihr unterhaltet euch morgen als Erstes mit diesem Branigan – lasst euch von Inspector Mulcahy Adresse und Telefonnummer geben. Stellt fest, was mit den Akten der ursprünglichen Ermittlung passiert ist.«

Die beiden Detectives stöhnten, als sie hörten, dass sie mit einem Kollegen über einen verpatzten oder sogar absichtlich versenkten Fall reden sollten, und Hanlon grunzte noch, dass er dann ja gleich zur Innenrevision gehen könnte.

»Damit hat das absolut nichts zu tun«, fauchte Brogan ihn an. »Wenn überhaupt, tun wir ihm einen Gefallen, weil wir es nicht direkt dahin weiterleiten. Also fangt nicht an, ihn irgendwie zu beschuldigen. Wenn er euch angreift, macht ihm klar, dass ihm jemand eine Rakete in den Hintern stecken wird, wenn etwas von dem, was diese Mullins gesagt hat, einer Prüfung standhält. Und weist ihn darauf hin, dass jede Unterstützung, die er uns zukommen lässt, genau den Unterschied zwischen einem Klaps auf die Finger und einer eingehenden Ermittlung mit allem Drum und Dran ausmachen kann. Ich nehme an, wir werden feststellen müssen, dass sämtliche Originalaufzeichnungen aus dem Fall verschwunden sind, aber versucht trotzdem, alles einzusammeln, was noch zu finden ist. Und dann holt ihr Grainne Mullins ins Revier, damit sie eine offizielle Aussage zum eigentlichen Überfall macht. Und außerdem müssen ihre Beschuldigungen gegen Branigan aufgenommen werden.«

Die beiden Detectives sahen kein Stück glücklicher aus, erklärten aber murmelnd ihr Einverständnis.

»Und achten Sie darauf, dass es zwei verschiedene Aussagen sind«, fügte Mulcahy hinzu. »Ihre Aussage über Branigan darf nicht mit der über den Angriff auf sie vermengt werden – weil wir jetzt hauptsächlich daran interessiert sind.«

»Wie es aussieht, hat Inspector Mulcahy schon gründliche Arbeit geleistet«, fuhr Brogan fort, »aber man kann nie wissen, ob ihr nicht doch noch ein paar Details einfallen, in denen auch ein Hinweis auf Scully enthalten sein könnte. Also fragt noch einmal ganz genau nach. Okay, ich glaube, das war’s für heute. Hoffen wir, dass die Spurensicherung im Lauf der Nacht noch etwas Nützliches findet und wir morgen früh ein paar konkrete Beweise gegen Scully haben. Hat sonst noch jemand etwas?«

Ein leises, verneinendes Murmeln erhob sich, dann klapperten Stühle, als alle aufstanden und gingen. Brogan erteilte Cassidy leise irgendeinen Auftrag und wandte sich, als der den Raum verließ, Mulcahy zu.

»Nochmals danke dafür, Mike. Das stärkt unsere Position gegen Scully ganz erheblich, wenn da jetzt noch irgendwas rauskommt.«

Mulcahy war sich nicht sicher. »Meinen Sie nicht, dass wir das Raster in diesem Stadium etwas weiter ausdehnen und uns auch andere Verdächtige ansehen sollten?«

»Mir war nicht bewusst, dass wir noch andere Verdächtige haben.«

»Ach, kommen Sie, Claire. Sie wissen, was ich meine. Wir sollten versuchen, nicht alles auf eine Karte zu setzen. Wenn da draußen ein Serientäter rumläuft, wäre es dann nicht besser, auf Nummer sicher zu gehen? Sie wissen schon, die Medien einzubeziehen und ein paar von den üblichen Verdächtigen zu vernehmen?«

»Was haben wir denn Ihrer Ansicht nach in den letzten paar Tagen getan?«

»Schon klar, aber finden Sie nicht, dass wir sie uns angesichts dieser neuen Information noch einmal genauer ansehen sollten?«

Brogan blieb im Flur stehen und ließ Mulcahy in den Genuss eines ihrer durchdringendsten Blicke kommen.

»Hören Sie, Mike, ich meine das, was ich gesagt habe. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie losgezogen sind und diese Spur aufgetan haben. Aber denken Sie daran, dass es nicht mehr als das ist – eine Spur. Eine konkrete Verbindung zu Jesica haben wir noch nicht. Also sollten wir im Moment nicht zu weit vorgreifen. Ich habe einen Verdächtigen in Gewahrsam, den ich immer noch für den Täter halte. Daher sehe ich keinen Sinn darin, weiter im Gebüsch herumzuwühlen, wenn ich den gesuchten Vogel schon in der Hand habe. Wie Sie sehen, stehen mir nur sehr wenige Leute zu Verfügung. Ich möchte sie so effektiv wie möglich einsetzen, um Scully richtig in die Mangel zu nehmen. Wenn mir das nicht gelingt, werde ich ihnen natürlich andere Aufträge erteilen. Aber erst dann, okay?«

Mulcahy musste ihr recht geben. Dass sie nicht genug Leute hatten, war bei jedem Meeting nicht zu übersehen.

»Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es besser sein könnte, einen gewissen Vorsprung herauszuarbeiten, damit Sie nicht mit leeren Händen dastehen, wenn sich herausstellt, dass Scully unschuldig ist.«

»Und ich habe Ihnen gerade gesagt, dass ich nicht die Leute habe, um zwei Spuren zu verfolgen. Daher ist das Beste, was ich tun kann, mich auf diese eine zu konzentrieren.«

»Warum überlassen Sie mir das dann nicht? Dann geh ich der allein weiter nach.«

Der Vorschlag schien Brogan zu überraschen, als wäre sie niemals darauf gekommen, ihn wirklich zu machen. Im Endeffekt lag dann jedoch mehr Verärgerung als Begeisterung in ihrer Antwort.

»Also gut, Mike, warum nicht? Sie schauen sich um, wo Sie es für richtig halten, und wenn Sie etwas finden, sagen Sie mir Bescheid. Aber bis dahin lassen Sie mich meine Ermittlungen auf meine Art fortsetzen, okay?«

»Das ist mir recht.«

Sie schob sich die Haare hinter die Ohren und drehte sie zu einem lockeren Zopf hinter der rechten Schulter. Unter anderen Umständen hätte das selbstvergessen oder sogar kokett aussehen können, das stahlharte Funkeln in ihren Augen verhinderte es jedoch.

»Nur eins noch, ja?«

»Ja?«

»Trotz Healys eindringlicher Warnung, nichts rauszulassen, bin ich ziemlich überrascht, dass die Presse bisher noch keinen Wind von der Sache bekommen hat. Sie haben nicht zufällig irgendetwas gehört?«

Mulcahy sah Brogan an, seine Gedanken waren jedoch bei Siobhan. Er überlegte einen Moment und kam zu dem Schluss, dass es nichts brachte, Brogan oder Healy von Siobhans Entdeckung zu erzählen. Das würde die Sache für ihn nur verkomplizieren, und obwohl er sicher war, dass sie sich tiefer in die Sache einarbeiten und bald wissen würde, was ablief, war er doch überzeugt, dass sie seinen Namen aus der Sache heraushielt.

»Nein, nichts«, sagte Mulcahy achselzuckend.

»Es ist echt erstaunlich«, fuhr Brogan fort. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich, dass Sie recht gehabt haben mit dem, was Sie letztens gesagt haben – so etwas lässt sich nicht geheim halten, auch wenn Healy das möchte. Insbesondere mit den politischen Implikationen. Unglaublich, dass niemand etwas davon mitbekommen hat. Man hätte denken sollen, dass zumindest die spanische Presse ein ziemliches Tamtam darum macht.«

»Die Ruhe bei den Spaniern ist leicht zu erklären«, sagte Mulcahy. »Der Botschafter ist heute Morgen ausführlich darauf eingegangen. Er sagte, Salazar wäre bereit, so viele einstweilige Verfügungen zu erwirken wie nötig, um die Sache da drüben aus den Medien rauszuhalten. Dem Mädchen zuliebe. Die Persönlichkeitsrechte in Spanien sind eine ganze Ecke strenger als hier, besonders wenn es um Minderjährige geht.«

»Wenn etwas durchsickert, kommt es also von uns.«

»Oder aus dem Krankenhaus. Wie ich schon sagte, wahrscheinlich müssen wir nur abwarten, was passiert. Fahren Sie jetzt nach Hause? Sie sehen aus, als ob Sie eine Pause brauchen könnten.«

Brogan schüttelte den Kopf. »Ich komm hier heute nicht so bald raus. Gerade hab ich erfahren, dass Scullys Anwalt heute Abend noch herkommt, um mit seinem Mandanten zu sprechen. Er will auch mit dem Polizisten reden, der ihn festgenommen hat.«

»Und wo liegt das Problem?«

»Mir ist keins bekannt«, sagte Brogan. »Aber Sie wissen doch, was Kennedy für ein schleimiger Wicht ist. Er muss irgendein Ass im Ärmel haben. Wir müssen einfach abwarten und gucken, was für eine Scheiße er uns jetzt wieder unterjubeln will.«

»Soll ich irgendwo in der Nähe bleiben?«

Brogan lächelte. »Danke, Mike. Ich denke, wir kommen schon mit ihm klar.«

Doch im Laufe des Abends ging es für Brogan immer weiter bergab. Sie hatte es gerade noch geschafft, Hanlons Fehler hinsichtlich des Lieferwagenbesitzers bei Superintendent Healy wieder zurechtzurücken – da gab es wenigstens jemanden, dem sie die Schuld geben konnte. Als Dermot Kennedy dann aber arrogant und hämisch grinsend in seinem Louis-Copeland-Anzug hereinstolzierte und mit einer Kopie des Durchsuchungsbeschlusses herumwedelte – Gott allein wusste, wie er da rangekommen war –, hätte sie fast der Schlag getroffen. Er behauptete, das Dokument sei wertlos, weil Cassidy, der darauf als zuständiger Einsatzleiter aufgeführt wurde, sich nicht vor Ort befunden habe, als die Drogen beschlagnahmt wurden.

Es war nur eine Kleinigkeit, ein Punkt, der den meisten Richtern nicht ausreichen würde, um einen Durchsuchungsbeschluss für ungültig zu erklären. Zumindest dann nicht, wenn es der einzige war. Wenn man jedoch das Durcheinander mit dem Besitzer des Lieferwagens dazunahm, könnte es bedeuten, dass die ganze Durchsuchung – und die dabei erfolgte Sicherstellung der Drogen – womöglich nicht verwendbar wären. Und obwohl Kennedy die Sache mit dem falschen Besitzer des Lieferwagens offensichtlich noch nicht entdeckt hatte, durfte sie das Risiko nicht eingehen, ihn zu einer weiteren eingehenden Prüfung des Durchsuchungsbeschlusses zu provozieren. Also musste sie die Kröte schlucken und Kennedys Forderung nachgeben, seinen Mandanten über Nacht unter der Bedingung nach Hause zu entlassen, dass er am nächsten Morgen um zehn zu einer Vernehmung erschien, bei der er offiziell zum Vorwurf des Besitzes illegaler Drogen Stellung nehmen sollte. Als sie Healy davon in Kenntnis setzte, reagierte der nicht sehr freundlich darauf, dass man sie auf dem falschen Fuß erwischt hatte – er war vielmehr ziemlich ungehalten.

Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie erschrak, als es an der Tür klopfte. Wer um alles in der Welt konnte das jetzt noch sein?

»Herein«, rief sie etwas harsch.

»Chefin?« Ein Kopf spähte behutsam durch die Tür. »Störe ich?«

»Maura, was gibt’s? Du bist vorhin gar nicht beim Meeting gewesen, oder? Ich dachte, du bist längst weg. Du musst erschöpft sein.«

McHugh schüttelte den Kopf, watschelte zum Schreibtisch und stellte sich dann etwas seitwärts davor. Ihr Bauch wurde jeden Tag größer.

»Sie haben mir doch den Auftrag gegeben, zum University College Dublin zu gehen und festzustellen, was die da von Scully halten«, sagte sie.

Maura berichtete dann, dass sie am Telefon nichts erreicht hatte und daraufhin persönlich zur Universität gefahren war und dort das Glück gehabt hatte, die Sekretärin des Historischen Instituts zu treffen, die sich gerade auf den Heimweg machen wollte. Das Beste daran wäre allerdings gewesen, dass sie sich auf Anhieb ausgezeichnet mit ihr verstanden hatte.

»Sie hatte gerade erfahren, dass sie schwanger ist, und hat mich nur einmal angeguckt, und … na ja, Sie wissen ja, wie das ist«, fuhr sie fort. »Jedenfalls stellte sich schnell heraus, dass sie unseren Scully nicht besonders mag. Sie findet ihn viel zu eingebildet. Ich nehme an, die beiden sind mal wegen irgendwas aneinandergeraten. Was zur Folge hatte, dass sie mir alle Gerüchte über ihn auf dem Silbertablett serviert hat.«

»Gute Arbeit«, sagte Brogan lächelnd. Maura war so geschwätzig, sie konnte eine Auster überreden, aus ihrer Schale zu kommen.

»Also, er macht definitiv seinen Doktor – wobei die Frau sagte, dass er sich etwas mehr Zeit nimmt als die meisten anderen. Er ist schon seit drei Jahren dabei oder so. Ich hab sie dann gefragt, was Scully eigentlich studiert, und sie sagte, soweit sie weiß, ist sein Spezialgebiet das Christentum im Mittelalter.«

»Religion?«, sagte Brogan und dachte sofort an das, was Mulcahy am frühen Abend erzählt hatte. Als sie Scully bei der Vernehmung nach seinem Studium gefragt hatte, war er ziemlich kurz angebunden gewesen, hatte nur etwas von Geschichte des Mittelalters gesagt und durchblicken lassen, dass es für sie sowieso zu kompliziert wäre. Von Religion hatte er kein Wort gesagt. Herrje, warum hatte sie das nicht weiterverfolgt?

»Er sieht gar nicht danach aus, oder?«, sagte sie mehr zu sich selbst.

Maura hatte keine Antwort darauf. »Ich weiß nicht. Ich dachte immer, Studenten sind arm. Ein paar von denen, die da heute an der Uni herumgelaufen sind, sahen aus, als ob sie direkt vom Laufsteg kommen.«

Brogan sagte nichts, war immer noch sauer auf sich selbst, weil sie das Thema nicht vertieft hatte. Scully war ein hinterhältiges, arrogantes Arschloch. Wie hatte er es bloß geschafft, sie davon abzulenken?

»Jedenfalls«, fuhr Maura fort, »hab ich dann weiter nachgehakt, worauf sie in seiner Akte nachgeguckt und mir das Thema seiner Doktorarbeit genannt hat. Sie werden’s kaum glauben, aber das Thema ist Irlands Inquisition: Der Einfluss Bernardo Guis auf die irischen Annalen

Sie verhaspelte sich etwas, aber Brogan verstand, was gemeint war. »Die Inquisition?«

»Ich weiß, das hab ich auch gleich gedacht«, sagte Maura mit strahlendem Gesicht. »Da wurden doch Menschen auf Scheiterhaufen verbrannt, oder? Ich musste gleich an die junge Jesica denken.«

»Tja«, meinte Brogan nur, die dagegen kämpfte, sich von ihren wild rotierenden Gedanken überwältigen zu lassen. Sie versuchte, ruhig zu bleiben und zu überlegen. Natürlich hatte sich bei der Inquisition alles um Religion gedreht, so weit erinnerte sie sich noch an das, was sie in der Schule gelernt hatte. Aber das war doch in Spanien gewesen, nicht in Irland, oder? Herrje, Spanien? Gab es da womöglich irgendwelche Verbindungen?

»Hat sie sonst noch etwas darüber gesagt?«

»Nein, mehr wusste sie nicht, aber sie hat mir die Telefonnummer von Scullys Doktorvater gegeben oder wie das bei einer Frau dann heißt.« Maura sah wieder in ihre Notizen. »Das ist eine Dr. Aoife McAuliffe, Dozentin für Mittelalterliche Geschichte. Die hab ich dann auch noch angerufen. Sie scheint wohl so um die fünfzig zu sein, der Stimme nach zu urteilen, und ist ziemlich hochnäsig. Erst wollte sie mit gar nichts rausrücken. Ich hatte den Eindruck, dass Scully ihr Liebling ist und sie ihn für ihren Starstudenten hält oder so was.«

»Also hat sie nichts Schlechtes über ihn gesagt?«

»Kein Wort«, sagte Maura. »Sie hat die ganze Zeit gefragt, warum und weshalb er vernommen worden ist. Und ob Scullys Rechte womöglich verletzt werden. Statt mir irgendwas zu erzählen.«

»Dann haben Sie von ihr nichts erfahren?« Brogan wollte endlich weiterkommen. Sie atmete flacher und schneller, weil sich ihr Brustkorb vor Angst zusammenzog.

»Tja, genau das ist es ja. Ich hab ihr natürlich nicht gesagt, weshalb wir ihn festgenommen haben. Und das war auch gut so, weil sie mir sonst bestimmt nicht alles erzählt hätte, als sie hinterher doch noch ein bisschen auftaute.«

»Und was war das?«

»Eigentlich bloß, dass er sich im Rahmen seiner Studien mit der Verfolgung von Ketzern und Hexen im Mittelalter auch hier in Irland beschäftigt hat. Weil es ihm um die Verbindung zur, äh, größeren Inquisition auf dem Kontinent ging. Aber echt, Chefin, ich hab höchstens die Hälfte von dem verstanden, was die mir da erzählt hat. Meistens ging es um Dame Alice Kettle oder Kittler oder so, die bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde oder werden sollte … Das hab ich nicht verstanden. Die Sache ist die, dass ich sie dann irgendwann unterbrochen und nach diesem Bernardo Wasweißich gefragt habe, der im Titel von der Doktorarbeit vorkommt.«

»Gui«, sagte Brogan und fragte sich, warum sie sich an den Namen erinnerte. Hatte sie den vorher schon mal irgendwo gehört? »Bernardo Gui.«

»Ja, der«, sagte Maura. »Also, Sie werden’s nicht glauben, aber nach Frau Dr. McAuliffe ist das derjenige, der damals bei der Inquisition in Spanien die Regeln aufgestellt hat, wie man Leute foltern soll, damit sie ein Geständnis ablegen.«

»Ach, verdammt noch mal.« Brogan sprang auf und zog die Jacke von der Stuhllehne.

»Was ist, Chefin?«

»Wir haben denen unten gerade gesagt, sie sollen Scully nach Hause schicken.«

In dem Moment, als Siobhan die Tür aufmachte, hörte sie ihn – den tiefen Piepton des Anrufbeantworters. Ohne nachzudenken, folgte sie seinem Ruf, zog den Schlüssel aus der Tür, ging direkt ins Wohnzimmer, ohne das Licht anzuschalten, und drückte die Play-Taste. Sie zuckte sofort zurück, als ein voller Gitarrenakkord aus dem Lautsprecher klang und die hohe Männerstimme einsetzte: wieder Roy Orbison und unheimlicher denn je zuvor.

Nach kurzem Zögern wollte sie auf die Stopp-Taste schlagen, um den Anrufbeantworter auszustellen, in ihrer Hektik warf sie ihn jedoch zu Boden. Als sie sich hinkniete, um ihn zwischen Papierkorb und Tisch hervorzukramen, lief der Song weiter und verseuchte die Dunkelheit um sie herum.

Das Tempo war jetzt etwas flotter, und ein paar Streicher begleiteten die Gitarre, trotzdem nahm die Melodie ihr fast den Atem. Jetzt erkannte sie den Song: My Prayer, den sie eigentlich besser in einer Version der Platters kannte, weil ihre Eltern ihn früher zu Hause andauernd gehört hatten. Das war lange her. Sie kam sich vor, als wäre sie all die Jahre heimlich von einem Gespenst verfolgt worden, und Orbisons erstickte Töne verwandelten den kurzen Song über eine eingebildete Liebe in die Drohung eines Geistesgestörten.

Schließlich fand sie den Anrufbeantworter und drückte die Stopp-Taste. Als sie das Klicken unter dem Finger spürte, schien sich der Druck in ihrem Kopf zu lösen, und die Stille, die sie umgab, kam ihr noch lauter vor als das gerade unterbrochene Musikstück. Sie hörte, wie die Luft in ihre Lungen hinein- und herausrauschte, das Rascheln ihrer Hose auf dem Teppich, als sie die Beine ausstreckte, sich zurücklehnte und spürte, wie die Erschöpfung sie übermannte.

»Dieser Wichser«, sagte sie in die Dunkelheit und starrte die Lichter der Stadt an, die sich im Fenster brachen und wie messerscharfe, orange Flammen aussahen. »Der Wichser soll bloß nicht glauben, dass er mich mit seinen schäbigen, alten Platten beeindrucken kann.«