12
In einer kräftigen Brise glitt er mit geblähtem Segel über ruhiges, flaches Wasser auf den hellblauen Horizont zu, als der Klingelton seines Handys ihn aus dem Traum riss. Er öffnete ein Auge und sah auf das Uhrenradio neben dem Bett. Wieso riefen die schon um Viertel vor acht an? Er musste doch erst um elf zum Dienst erscheinen.
»Hallo«, sagte er und rieb sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
»Haben Sie die Zeitungen gelesen?« Es war eine Frauenstimme, und im ersten Moment dachte er, es müsste Siobhan sein. Aber sie war es natürlich nicht.
»Was für Zeitungen? Nein, hab ich nicht. Herrje, ich hab noch geschlafen.«
»Tja, dann nehmen Sie sich lieber ein paar Minuten Zeit dafür, bevor Sie hierherkommen. Am interessantesten ist der Sunday Herald.«
Mit diesen Worten legte Brogan auf und ließ Mulcahy auf dem Bettrand sitzend zurück, wo er mit verschwommenem Blick die wirbelnden Spiralgalaxien des Schlafzimmerteppichs anstarrte und den Kopf in beide Hände stützte, als fürchtete er, er würde ihm von den Schultern kullern. Warum hatte sie das getan? Am Vorabend hatten sie noch mehrere Stunden lang gemeinsam mit Healy einen Medienplan erarbeitet und diskutiert, was und wie viel man bekannt geben sollte und welche Details man auf jeden Fall geheim halten musste. Sie waren dann zu dem Schluss gekommen, dass ihre einzige Chance im Umgang mit dem Herald darin bestand, eine Pressekonferenz zu geben, in der sie das Versäumnis, das Siobhan Fallon ihnen vorgeworfen hatte, dadurch wiedergutmachten, dass sie die Öffentlichkeit jetzt ganz dezidiert warnten. So hatte Mulcahy das zumindest intern verkauft.
Es war weniger eine politische Entscheidung als vielmehr eine pragmatische. Mit dem zweiten Überfall war es unvermeidbar geworden, dass etwas an die Presse durchsickerte. Schließlich handelte es sich um ein Mädchen aus Dublin, das schwer verletzt an einer öffentlichen Straße gefunden worden war. Dazu kam, dass die Familie außer sich war und dies auch kundtat. Es stellte sich heraus, dass Siobhan Fallon nicht die erste Reporterin war, die im Laufe des Tages bei der Pressestelle der Garda angerufen hatte. Sie war allerdings die erste gewesen, die sich nicht mit den paar unwichtigen Informationen hatte abspeisen lassen. Doch jetzt, wo sie gewissermaßen den Stift aus der Handgranate gezogen und diese auf sie geworfen hatte, konnte man nur noch mit offenen Karten spielen. Oder eben so offen, dass sich nicht jeder Irre, Kranke oder Perverse eingeladen fühlte, so etwas auch einmal auszuprobieren.
Brogan hatte mehrmals sehr energisch auf diesen Aspekt hingewiesen. »Mike hat vielleicht inzwischen vergessen, wie unverantwortlich die Ganoven von der Presse in diesem Land bei so einer Geschichte oft vorgehen, Sir«, hatte sie Healy vorgehalten. »Besonders die Boulevardpresse, die unter Garantie die grausigsten Details herausgreifen und bis zur Unkenntlichkeit aufbauschen wird. Das würde dazu führen, dass ein Teil der Öffentlichkeit total in Panik gerät. Außerdem besteht die Gefahr, dass Nachahmungstäter auf den Plan gerufen werden. Wir haben so schon zu wenig Leute und können uns nicht auch noch damit beschäftigen.«
Das war ein gutes Argument. Sie hatten ein paar Punkte besprochen, die sie auf jeden Fall geheim halten wollten, worauf Healy und Brogan nach unten gegangen waren und um 20.30 Uhr eine hastig einberufene Pressekonferenz gegeben hatten. Um die Uhrzeit waren natürlich nur die Spätausgaben noch nicht im Druck, aber genau das war einer der Gründe für dieses Vorgehen. Niemand könnte behaupten, dass sie nicht reagiert hatten. Es wäre interessant zu sehen, wer das Thema aufgriff. Mulcahy, der direkt nach der Pressekonferenz nach Hause gegangen war, hatte sich dort noch die Hauptnachrichtensendung auf RTE angesehen, in der nicht darüber berichtet wurde. Ein gutes Zeichen, hatte er noch gedacht, bevor er erschöpft ins Bett gefallen war.
Jetzt zog er sich einen grauen Baumwollpullover, Jeans und Turnschuhe an und wappnete sich für das Schlimmste – schließlich hatte Brogan sich extra die Mühe gemacht, ihn vorzuwarnen. Die Straßen waren menschenleer, und er wusste, dass die Läden, in denen er sich normalerweise die Irish Times und die Sunday Tribune kaufte, noch nicht geöffnet hatten. Die Tage, wo die Zeitungen nach dem Gottesdienst vor der Kirche verkauft wurden, waren zwar längst vorbei, trotzdem ging er in die Richtung, an dem imposanten, grauen Steingebäude mit einem Turm vorbei, aus dem schon das Murmeln eines Psalms durch die kühle Morgenluft drang. Und richtig, gegenüber der Kirche, gleich neben dem verrammelten Pub, war ein Zeitungsladen, der ihm noch nie aufgefallen war und der wundersamerweise zu dieser frühen Stunde schon offen zu sein schien. Drinnen wurde er von einem Jugendlichen in T-Shirt und weiten Surfer-Shorts freundlich begrüßt, der Zeitungsbündel vor die Regale mit Magazinen zog, die sich über die ganze Wand erstreckten.
»Hallo, wunderbarer Morgen«, sagte der Junge, ohne aufzublicken.
Mulcahy grunzte nur kurz, hätte sich dann aber fast verschluckt, als sein Blick auf die vor ihm ausgelegten Zeitungen fiel. Fast alle hatten die Story auf der Titelseite, wobei es aussah, als hätten sie sie in aller Eile noch in die Spätausgabe eingeschoben. Nur auf dem Sunday Herald prangte direkt unter dem Logo die riesige Schlagzeile: DER PRIESTER. Sie donnerte quer über die ganze Seite, wodurch der Untertitel, IRRER RELIGIÖSER VERGEWALTIGER MISSHANDELT MÄDCHEN, fast bescheiden wirkte. Etwas weiter unten befand sich noch die kleinere Schlagzeile SPANISCHES MILITÄR IN DUBLIN über einem kleineren Artikel mit zwei grobkörnigen Fotos von Jesica und Alfonso Mellado Salazar.
Verdammte Scheiße.
Siobhan war fast überall als Autorin angegeben, manchmal zusammen mit einem Paddy Griffin, dem Chef des Nachrichtenressorts. Der »exklusive« Aufmacher war jedoch von ihr allein. Er beschäftigte sich vorwiegend mit dem Überfall auf Jesica Salazar, hatte aber als Einleitung einen sehr plastischen Bericht vom zweiten Überfall auf Catriona Plunkett. Als Mulcahy die Zeitung durchblätterte, sah er, dass dieses Thema noch auf fünf oder sechs weiteren Seiten behandelt wurde. Auf einer sah er sogar Fotos von Catriona Plunkett und ihrer Familie sowie von den Salazars und dazu Skizzen und Illustrationen der beiden Tatorte.
Woher um alles in der Welt hatte Siobhan diese Informationen? In der kurzen Zeit? Man konnte schon nicht mehr davon reden, dass ein bisschen was durchgesickert wäre – jetzt waren alle Dämme gebrochen.
Als er weiterlas, staunte Mulcahy über die sehr überzeugend und glaubhaft klingende Mischung aus sorgfältiger Recherche und wilden Spekulationen in Siobhans Artikel – sie garnierte schauerliche Details aus den beiden Überfällen mit grausigen Mutmaßungen, die in der schockierenden Erkenntnis mündeten, dass »ein Verrückter mitten unter uns« lebte. Es war genau so, wie Brogan es prophezeit hatte. Siobhan war sogar an ein paar Zitate der Ärzte herangekommen, die die beiden Mädchen behandelt hatten. Schlimmer war jedoch die Heftigkeit, mit der sie den Justizminister und den Garda Commissioner aufs Korn nahm und ihnen Inkompetenz und Untätigkeit vorwarf. Die armen Kollegen in der Pressestelle der Garda waren offensichtlich vollkommen überrumpelt worden – in der Zeitung wurde nur eins von Healys Statements erwähnt, und zwar das erste. Da stand es, Wort für Wort und aus dem Zusammenhang gerissen. Als es dann um den zeitlichen Abstand zwischen beiden Überfällen ging, wurde die Kritik geschmacklos. Die Bildunterschrift unter einem mehrere Jahre alten Foto von Brendan Healy lautete: »Hätte er mehr unternehmen können?«
Als ob das nicht gereicht hätte, wurde auf der folgenden Seite eine weitere bösartige Kampagne gestartet, dieses Mal gegen den Außenminister, der das Land beschämt hätte, indem er Soldaten einer fremden Nation – wenn auch einer befreundeten – erlaubt hatte, ein irisches Krankenhaus zu stürmen und eine Patientin mitzunehmen. Brächten die anderen EU-Länder unserem Gesundheits- und Rechtssystem so wenig Wertschätzung entgegen, dass sie uns ihre Bürger nicht anvertrauen wollten? Der Minister solle sein Amt unverzüglich zur Verfügung stellen.
Mulcahy wusste, dass das Politikgerede nur heiße Luft war. Das bedeutete allerdings nicht, dass nicht doch womöglich jemand dafür bezahlen musste. Er konnte sich die Folgen nur zu gut ausmalen: Jetzt waren zwei Minister und ein Polizeipräsident auf dem Kriegspfad, und Hunderte Untergebene strampelten verzweifelt, um aus der Schusslinie zu kommen. Alle suchten hektisch nach Antworten auf das unvermeidliche Fragenbombardement, dem sie sich im Dáil Éireann, dem Unterhaus des irischen Parlaments, ausgesetzt sehen würden. Außerdem brauchte man natürlich einen Sündenbock, den man den geifernden Medien zum Fraß vorwerfen konnte.
Und hinter dieser ganzen Sache steckte ausgerechnet die Frau, mit der er am Mittwoch das Bett geteilt hatte. Wie in Gottes Namen hatte das passieren können?
Die Frage beschäftigte ihn noch immer, als er um elf am Harcourt Square ankam. Brogans Bürotür in der vierten Etage war geschlossen, durch die getönte Scheibe sah er jedoch, dass Licht brannte, also steckte er den Kopf hinein. Brogan saß am Schreibtisch und sah fix und fertig aus. Er hatte nie gesehen, dass sie auch nur einen Blick in eine Zeitung geworfen hätte, doch jetzt lag ein ganzer Haufen auf dem Boden um sie herum neben den Aktenkartons.
»Wie geht’s?«
»Ich stecke gerade mitten im größten Schlamassel, den ich je erlebt habe. Was denken Sie also, wie es mir da gehen könnte?«, sagte sie und blickte von ihrer Akte auf. »Veranlassen Sie dies, prüfen Sie das, checken Sie nochmals den verdammten Mist. Deshalb …«, sie deutete auf die Aktenkartons, »… musste ich die wieder aus Ihrem Büro holen.«
Er zuckte die Achseln. »Auch das noch. Ziemlich übel, was?«
»Tödlich.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein«, sagte sie und senkte den Kopf. Dann, fast beiläufig: »Healy sagte, Sie sollten sofort zu ihm raufkommen.«
»Nach oben?« Healy bestellte fast nie jemanden in sein Büro im sechsten Stock, er tauchte lieber von Zeit zu Zeit unten auf und steckte seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten. »Haben Sie eine Ahnung, was er von mir will?«
Brogan schüttelte den Kopf. »Ich hab selbst genug Scheiße am Hacken, da kann ich mich nicht auch noch um Ihren Kram kümmern.«
Er ging zurück zum Fahrstuhl und fuhr nach oben. Schon der Flur war besser und geschmackvoller eingerichtet, der höherwertige Teppichboden auf den ersten Blick erkennbar. Kaum war er aus dem Fahrstuhl getreten, versanken seine Schuhe auch schon im Garda-blauen Flor. Im Sechsten gab es keine Großraumbüros, sondern Flure mit Türen zu Einzelbüros. Vor einigen dieser Büros befanden sich noch kleine Nischen mit Schreibtischen und Computern, an denen die Sekretärinnen saßen. Die meisten davon waren heute, am Sonntag, verwaist. Nur Healys dauergewellte Sekretärin saß im Kostüm vor dem Büro und tippte.
»Sie können gleich hineingehen, Inspector«, sagte sie.
Abgesehen von der Standard-Schreibtischlampe hatte Healys Büro nichts mit Brogans gemein. Es war etwa viermal so groß und mit einem großen Eichenschreibtisch, Chefsessel und drei Monitoren ausgestattet. Auf der einen Seite des Raums standen eine Sitzgruppe sowie verschiedene Aktenschränke und Bücherregale. Vor allem war es jedoch makellos sauber.
»Kommen Sie rein, Mike«, sagte Healy und stand auf. Mulcahy fiel auf, wie müde er aussah, als er die dunklen Halbkreise unter seinen Augen erblickte. Healy streckte die Hand aus, nicht um Mulcahy zu begrüßen, sondern um auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch zu deuten. »Nehmen Sie da Platz. Soll Noreen Ihnen einen Kaffee bringen?«
Mulcahy lehnte dankend ab.
»Gut«, sagte Healy und setzte sich wieder. »Die Zeitungen haben Sie ja bestimmt gesehen. Herrgott, da haben wir aber Prügel bezogen. Der verdammte Minister und der Commissioner haben mir seit sechs Uhr morgens abwechselnd die Leviten gelesen. Eins kann ich Ihnen sagen, wenn ich diese Reporterin, diese Fallon, in die Finger gekriegt hätte, ich wüsste, wo ich den Rest meiner Tage verbringen würde. Ich würde sie draußen im Gefängnis in Mountjoy absitzen, weil ich sie glatt erwürgt hätte.«
Mulcahy lächelte, so höflich wie er konnte.
»Die Sache ist die, Mike, wir können es uns nicht leisten, dass so etwas durchsickert. Ich hab gestern zu Claire gesagt, wenn sich das hier beruhigt hat, werde ich Sie bitten, sich die Sache genauer anzusehen, um den faulen Apfel hier ausfindig zu machen. Ihr Auftreten gestern Abend hat mich schwer beeindruckt, das muss ich schon sagen, daher war ich mehr als überrascht, als Claire mir erzählte, dass Sie Fallon kennen. Dann haben Sie so direkt geantwortet, als ich Sie danach fragte, und ich hab mir gedacht, kein Problem, wir kennen alle irgendwelche Schreiberlinge. Und dann, Scheiße noch mal, finde ich doch dies heute Morgen in meinem E-Mail-Eingang. Ich möchte, dass Sie mir sagen, was Sie davon halten, Mike.«
Healy drehte den Computermonitor um, so dass Mulcahy sehen konnte, wie er auf eine E-Mail, dann auf den Anhang dieser Mail klickte. Er hatte gerade noch Zeit, den nur aus einem Wort bestehenden Text »Angepisst« zu lesen, bevor ein schwarzer Bildschirm sich öffnete, einen Moment stehen blieb und dann in ordentlicher Qualität ein Film von einer Überwachungskamera ablief, in dem ein Mann und eine Frau auf der Straße aufeinander zugingen, stehen blieben, sich kurz unterhielten und dann in ein offenes, rotes Cabrio stiegen.
Oh Scheiße!
»Sie habe ich sofort erkannt, Mike.« In Healys Stimme lag jetzt ein Hauch von Ungläubigkeit. »Aber, ob Sie es glauben oder nicht, ich musste eine Kollegin fragen, wer die Frau ist. Sie sagte, vermutlich wäre das Siobhan Fallon vom Sunday Herald. Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist, Mike.«
Mulcahy schluckte überrascht. Das Video stammte eindeutig von einer der Kameras am Tor vor dem Harcourt Square, und die eingeblendete Uhr zeigte, dass es von letztem Mittwoch war. Das ließ sich nicht abstreiten. Aber wie zum Teufel hatte das jemand in die Finger gekriegt? Oder genauer – wer hatte diese Mail geschickt? Sofort fielen ihm die Blicke ein, die Healy und Brogan sich am Abend zuvor immer wieder zugeworfen hatten, als sie ihre Pressestrategie besprochen hatten.
Er richtete sich auf und sah Healy in die Augen.
»Ich habe Ihnen gestern Abend gesagt, dass ich die Frau kenne, Brendan. Und ich habe Ihnen ebenfalls gesagt, dass sie von mir nichts über die Ermittlung erfahren hat.«
Healy schnaubte. »Klar haben Sie gesagt, dass Sie sie kennen. Aber offenbar hielten Sie es in einer Situation wie der gestern Abend nicht für erwähnenswert, dass Sie drei Tage vorher mit ihr in ihrem Wagen eine Spritztour gemacht haben. Das ist schon eine massive Auslassung, Mike. Wissen Sie, wie das aussieht?«
Mulcahy fing an, sich zu ärgern.
»Natürlich weiß ich, wie das aussieht. Es sieht aus, als ob mir jemand am Zeug flicken will.«
»Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie behaupten, dieses Treffen hätte nie stattgefunden?« Healy stieß mit dem Finger in Richtung Monitor.
»Nein, offensichtlich hat es das. Ich würde aber gern wissen, wer Ihnen diese Aufnahme geschickt hat. Es steckt eindeutig eine böse Absicht dahinter. Haben Sie nicht darüber nachgedacht, warum jemand so etwas tut?«
»Natürlich habe ich das. Also sage ich Ihnen, wer mir das geschickt hat. ›Ein Freund‹, steht hier. Lässt sich natürlich nicht zurückverfolgen, doch wissen Sie was? Im Moment glaube ich, dass der Absender womöglich wirklich ein Freund von mir ist. Zumindest ein sehr viel besserer, als Sie es waren.«
Mulcahy beschloss, diesem Schlag lieber auszuweichen. »Brendan, ich wiederhole noch einmal, ich war nicht die Quelle dieses Lecks.«
»Dann war es also reiner Zufall, dass Sie sich ausgerechnet nach der Einsatzbesprechung für diesen Fall mit Siobhan Fallon getroffen haben? Und sicherlich haben Sie beide nicht ein einziges Mal über das Thema Jesica Salazar oder den Priester gesprochen?«
»Nein, nicht direkt.«
Am einfachsten wäre es gewesen zu lügen, aber das konnte er nicht. Wenn das je herauskam, würde der Schuss nur noch mehr nach hinten losgehen. Und natürlich stürzte Healy sich darauf wie eine verhungernde Katze.
»Und was zum Teufel soll ›nicht direkt‹ jetzt heißen?«
Mulcahy konnte nur noch eine Antwort geben: »Es heißt, dass sie mich gefragt hat, ob ich etwas über die junge Spanierin weiß, die überfallen wurde, und ich es abgelehnt habe, darüber in irgendeiner Art und Weise mit ihr zu sprechen.«
»Herrgott noch mal!«, zischte Healy ihn an. »Das hat sie Sie am Mittwochabend gefragt, und Sie hielten es nicht für nötig, es Claire oder mir gegenüber zur Sprache zu bringen?«
»Nein. Woher hätte ich denn wissen sollen, was Fallon vorhat? Genau wie Sie gestern, dachte ich, sie fischt nur im Trüben. Ich hielt es nicht für relevant.«
Healy stand auf. Er kochte vor Wut, seine Stimme überschlug sich, er hatte sich kaum noch unter Kontrolle.
»Relevant? Ich sag Ihnen, was relevant ist, verdammt noch mal. Irgendjemand hat diesem Miststück in dieser Woche alles haarklein erzählt, was dazu geführt hat, dass mir der Arsch aufgerissen wurde und meine Chancen auf eine Beförderung für wer weiß wie lange zum Teufel sind. Und Sie kriegen es nicht einmal hin, uns vorher zu warnen? Ich kann es nicht glauben, Mike, dass Sie, ausgerechnet Sie, wo ich Sie seit Monaten hier durchschleppe, Ihnen das Leben so leicht wie möglich mache und nur darauf warte, Sie wieder in Ihre ach so geliebte Drogenfahndung zu bugsieren, dass ausgerechnet Sie gestern Abend hier reinspazieren, sehen, wie ich am Ertrinken bin, und dann offenbar einfach keinen Bock darauf haben, mir einen Rettungsring zuzuwerfen.«
Jetzt reichte es. Mulcahy konnte nicht einfach dasitzen und sich das anhören. »Mit Verlaub, Brendan, das ist Quatsch. Ich hab mir gestern fast den ganzen Abend den Kopf über eine intelligente Antwort auf die Vorwürfe der Presse zerbrochen, eine, bei der wir so gut wie irgend möglich dastehen. Und jetzt komme ich hier rein und stelle fest, dass Sie lieber so einer anonymen Dreckschleuder glauben …«
»Blödsinn«, unterbrach Healy ihn wieder mit hochgestrecktem Zeigefinger. »Hier geht’s um Loyalität, Vertrauen und Anstand. Und Ihr Verhalten entspricht ganz gewiss nicht meiner Vorstellung davon. Und es ist auch keine angemessene Reaktion auf die Gefallen, die ich Ihnen getan habe. Also merken Sie es sich, Mike. Was mich betrifft, können Sie sich herzlich ins Knie ficken. Kommen Sie bitte nicht wieder angekrochen und erwarten Sie, dass ich Ihnen noch einmal einen Gefallen tue. Das wird einfach nicht wieder vorkommen.«
Im Endeffekt hatte Healy nicht genug Leute, um Mulcahy ganz aus dem Ermittlungsteam herauszuwerfen. Er rief nachmittags an und teilte Mulcahy mit, dass er die Verantwortung für die Zusammenarbeit mit den Spaniern wieder ans Ministerium zurückgeben werde. Darüber hinaus gab es – außer einem entschieden frostigeren Ton bei ihren täglichen Begegnungen – für Mulcahy keine Veränderungen. Die langen Dienste vergingen in hektischer Plackerei, verschärft durch jede Menge eingestreuter Meetings, Briefings und Ähnliches. Healy mochte sich als Leiter der Ermittlung sehen, als seine wichtigste irdische Repräsentantin war Brogan jedoch weiterhin noch für die meisten Entscheidungen zuständig. Zur allgemeinen Erleichterung erwiesen sich Gerüchte, dass sie durch eine große Nummer ersetzt werden sollte, als unwahr, weil Healys Rückzugsgefechte, die er im Großen und Ganzen aus reinem Selbsterhaltungstrieb führte, sich als sehr viel effektiver erwiesen, als die meisten angenommen hatten.
Obwohl sich also der Druck auf alle um ein Vielfaches erhöhte, war der augenfälligste Effekt ein stetiger Zufluss weiterer Mitarbeiter und Gelder. Die Leute ganz unten hatten den Eindruck, dass der Sturm langsam weiterzog und eine andere, höhere Ebene erreichte, wo zwischen der Presse und den Politikern ein Krieg der Worte tobte. Unten machte sich eine Art Bunkermentalität breit, was dazu führte, dass die Leute die Zähne zusammenbissen, die Schultern hochzogen und die Mitglieder des Teams sich nur auf eins konzentrierten – endlich ein Ergebnis vorweisen zu können.
Draußen schienen irgendwie alle übergeschnappt zu sein. Nicht nur die Bewohner von Dublin, ganz Irland war wegen des Priesters in Panik. Seit jenem Sonntagmittag hatte der ganze Medienapparat mit Tunnelblick auf Hyperantrieb geschaltet. Jede Titelseite, jedes Fernsehmagazin begann mit dieser Story. Die Talkshows stürzten sich mit voyeuristischer Lust darauf, luden jeden noch so schlecht informierten Experten, meinungsstarken Akademiker und den an Verbaldurchfall leidenden Teil der Öffentlichkeit ein, um die Sache zum x-ten Mal durchzukauen, die Gefahr zu verzerren und maßlos zu überhöhen. Wilde Fantasien und wirre Gefühle wurden miteinander vermengt und dabei unablässig die Unfähigkeit der Polizei und der Regierung beklagt und nach Sündenböcken gesucht.
Mulcahy überstand das alles, indem er eine ähnliche Haltung wie die anderen annahm. Es gab zwar Gerede über eine interne Untersuchung zur Erforschung des Lecks, aber das war auch nichts weiter als Gerede. Mulcahy hatte einen ganz eigenen Verdacht – wie hätte es auch anders sein können? –, in Ermangelung jedweder Beweise und der Zeit, danach zu suchen, wollte er die Dinge vorerst allerdings ruhen lassen. Seine Hauptsorge bestand nicht darin, dass er sich von dem Verdacht befreien musste, vielmehr fürchtete er, dass eine ehrgeizige Ratte aus der Internen Revision, die ein schnelles Ergebnis wollte, ihm die Sache anhängen könnte. Da Healy ihm die Aufgabe zugeteilt hatte, den Fall gegen Scully zu überprüfen, verbrachte er unzählige Stunden vor dem Computermonitor, wo er immer wieder die Protokolle der bisherigen Vernehmungen las, über negativen gerichtsmedizinischen Gutachten brütete und, gemeinsam mit einem Detective aus der IT-Abteilung, die Daten auf Scullys beschlagnahmtem PC auswertete. Darauf war jedoch nichts Interessantes zu finden. Weder versteckte Dateien noch sadistische Pornos oder passwortgeschützte Portale zu Internetseiten, auf denen Folter und Verstümmelung junger spanischer oder irischer Frauen propagiert wurde.
Er las sogar in Scullys Notizen zu seiner Dissertation über die sogenannte Irische Inquisition, deren Titel Brogan verständlicherweise fast einen Herzinfarkt beschert hatte. Es war jedoch nichts weiter als eine langweilige geschichtliche Darstellung der Verfolgung einer jungen irischen Adligen aus Kilkenny, die im frühen vierzehnten Jahrhundert wegen Hexerei verurteilt worden war. Scully hatte offensichtlich versucht, einen Schocker daraus zu machen, was der Stoff aber im Prinzip nicht hergab. Wie alle anderen Spuren führte auch diese in eine Sackgasse und brachte Mulcahy wieder an den Punkt zurück, an dem er schon einmal gewesen war. Scully war zweifelsohne eine etwas zwielichtige Gestalt, und er konnte auch nachvollziehen, wie Brogan zu der Überzeugung gekommen war, dass er Dreck am Stecken haben musste. Er war ein Drogendealer, und weil er fürchtete, man würde ihm etwas anhängen, was er nicht getan hatte, war er geflohen. Aber zumindest bisher hatte Mulcahy keine weitere Verbindung zwischen Scully und dem Überfall auf Jesica Salazar gefunden.
Nachdem er Healy über seine Schlussfolgerung informiert hatte, überreichte dieser Mulcahy gleich den nächsten Schierlingsbecher, indem er ihm die Leitung des Teams übergab, das Hinweisen aus der Bevölkerung nachgehen sollte. Hier herrschte komplettes Chaos nach der von den Medien geschürten Hysterie. Sechs Beamte waren allein dafür abgestellt, die Flut der Anrufe, Briefe und E-Mails aus der Öffentlichkeit zu bearbeiten und zu beantworten.
Sie mussten allen Hinweisen nachgehen, so vage sie auch sein mochten: Jeder verdächtige Nachbar wurde überprüft, jeder Idiot, der mit jemandem ein Hühnchen zu rupfen hatte oder einfach nur über seine Angst, Vorurteile oder morbiden Fantasien reden wollte, wurde angehört. Die Angst vor weiteren öffentlichen Demütigungen, weil sie eine entscheidende Information übersehen hatten, besonders eine, die ihnen von einem rechtschaffenden Bürger auf dem Silbertablett serviert wurde, war einfach zu groß. Mulcahy wurde der Filter. Seine Aufgabe bestand darin, alles einzuschätzen, Prioritäten zu setzen und alles Wichtige an Brogan weiterzuleiten, deren Team dann die Ermittlungen aufnahm. Es war anstrengende Arbeit, die viel Konzentration erforderte. Sie beanspruchte den ganzen Tag, und abends, wenn er nach Hause kam, war er so müde, dass er sich mit nichts anderem beschäftigen konnte. Nicht einmal mit Siobhan, die immer, wenn er an sie dachte, einen Mahlstrom widersprüchlicher Gefühle in ihm auslöste.
Als Siobhan Fallon an diesem Mittwochmorgen aus Harry Heffernans Büro kam, strahlte sie so fröhlich, dass selbst die abgebrühten Korrektoren aufblickten und sie ansahen. Alle Leute schenkten ihr sehr viel mehr Beachtung. Sie war noch nie so beschäftigt und so bedeutend gewesen wie in den letzten Tagen. Per Telefon war sie in Radiodiskussionen zugeschaltet worden, und diverse Fernsehsender hatten sie vor dem Sunday-Herald-Schild am Haupteingang interviewt – einmal sogar, zum Leidwesen aller Neider im Haus, direkt oben in der Nachrichtenredaktion. Es hatte viel missbilligendes Kopfschütteln gegeben, als das Kamerateam die Lichter aufgebaut hatte. Siobhan hatte die ganze Zeit überlegt, ob es wohl daran lag, dass alle anderen dann im Schatten waren.
Und jetzt hatte Heffernan ihr endlich die einzige Anerkennung zukommen lassen, die für ihn wirklich Bedeutung hatte – und für alle anderen auch, wenn man es genau nahm. Er hatte sie in sein Büro bestellt und verkündet, dass er mit dem Geschäftsführer über die Gehaltserhöhung reden würde, um die sie gebeten hatte. Zwanzig Prozent Minimum, hatte er gesagt. Das war auch das Mindeste. Alan Hanley, der Nachrichtenchef der Irish Times, hatte sich zwischendurch kurz bei ihr gemeldet. Und auch eine Kollegin von der Sunday Tribune hatte gesagt, dass ihr Name gefallen sei, als es um mögliche Abwerbungen von Konkurrenten ging. Wenn es für sie weiter so gut lief, konnte sie sich am nächsten Wochenende den meistbietenden Arbeitgeber aussuchen.
Allein bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie, sie fing sich aber wieder und sah sich nach Paddy Griffin um. Er saß mit verschränkten Armen auf dem Schreibtisch des Sportredakteurs Brian Meany, hörte ihm mit einem Ohr zu, ließ sie aber keinen Moment aus dem Auge, als sie aus der Höhle des Löwen herauskam. Sie hob kurz beide Daumen und lächelte noch breiter. Er grinste und quittierte es mit einer kurzen Handbewegung. Mehr Lob, als er ihr diese Woche gezollt hatte, konnte man in so kurzer Zeit von ihm nicht erwarten. Gestern Abend hatte er ihr sogar angeboten, sie zum Abendessen in ein schickes Restaurant einzuladen. Sie musste allerdings ablehnen, weil sie zu Questions and Answers musste, der politischen Diskussionsrunde von RTE. So hochwertige Fernsehtermine hatte sie noch nie gehabt. Und sie hatte stürmischen Beifall geerntet. Das Studiopublikum hatte bei jedem ihrer Worte applaudiert. Außerdem hatte es den Staatssekretär ausgebuht, der das Justizministerium repräsentiert hatte. Selbst John Bowman, der Moderator, hatte sich beeindruckt gezeigt und sie nach der Sendung herzlich beglückwünscht. »Wir würden Sie auf jeden Fall wieder einladen«, hatte er gesagt. Jammerschade, dass die Sendung jetzt eingestellt wurde, wo Siobhan gerade einen Fuß in der Tür hatte.
Trotzdem fühlte es sich nicht so gut an, eine große Nummer zu sein, wie sie erwartet hatte.
Selbst Siobhan war verblüfft vom Ausmaß der öffentlichen Reaktion. Es waren nicht nur die Interviews und Telefonschaltungen in praktisch jede Talkshow bei RTE – und damit konnte man sich weiß Gott zwei Leben lang beschäftigen –, inzwischen war die Geschichte über Irland hinaus in die Welt vorgedrungen. Sky News hatten darüber berichtet und auch die BBC. Sie war sogar von einem spanischen Radiosender interviewt worden, von dem sie noch nie gehört hatte. Aus Erfahrung wusste sie, dass manche Storys ein Eigenleben entwickelten und ihnen Flügel wuchsen. Das passierte immer wieder, wenn ein Kind vermisst wurde oder ein Politiker mit der Hand in der Hose eines Strichjungen erwischt wurde. Aber man konnte nie genau sagen, welche Story wirklich Feuer fing, die Titelseiten eroberte und tage-, wenn nicht wochenlang die Nachrichtensendungen dominierte.
Bei dem Priester hatte sie zwar so ein Gefühl im Bauch gehabt, aber so etwas hatte sie nicht einmal im Ansatz erwartet. Jede Frau in Dublin, egal ob jung oder alt, schien in Panik zu sein, sah sich immer wieder um aus Furcht vor Gott, dem Teufel oder was auch sonst in ihren verdrängten Ängsten und Sehnsüchten lauern mochte. Alle anderen Journalisten in der Stadt, vom bescheidensten Lokalreporter bis zum hochtrabendsten Kulturkommentator, schienen alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Sache noch weiter hochzupuschen. Haustüren wurden zusätzlich gesichert, so dass sämtliche Schlösser in den Baumärkten ausverkauft waren, und in den Anrufsendungen im Radio meldeten sich viele junge Frauen, die erzählten, dass sie vor Angst kaum schlafen konnten. Siobhan selbst äußerte sich in der Sache eher zurückhaltend. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, wies sie darauf hin, dass der Täter nur zwei Mal zugeschlagen und nie jemanden zu Hause angegriffen hatte – soweit es bekannt war. Das nützte jedoch alles nichts. In der Stadt war Hysterie ausgebrochen, und es gab kein Anzeichen dafür, dass die bald wieder abflauen würde. Was sollte sie da machen? Sie konnte nur auf der Welle mitschwimmen.
Der Erfolg hatte auch seine Schattenseite. So aufregend und schmeichelhaft die ganze Aufmerksamkeit auch war – die Tatsache, dass alle Welt sich an Siobhan Fallon wandte, wenn sie irgendetwas über den Priester wissen wollte, brachte ein ganz eigenes Problem mit sich: Sie wusste nichts Neues mehr zu sagen. Und immer wieder die gleichen Dinge zu wiederholen, war einfach langweilig. Glücklicherweise konnte sie jede Menge Munition daraus gewinnen, dass sie immer wieder die schrecklich hohe Zahl nicht angezeigter Sexualverbrechen in Irland anprangerte und die schändliche Unterfinanzierung dieses höchst sensiblen Bereichs der Verbrechensbekämpfung kritisierte.
Jedes dieser Worte kam aus dem Herzen. Wenn man die Fakten aufdeckte, sprachen sie für sich. Und sie verbrachte jede freie Minute damit, mehr zu erfahren, ging Statistiken und Regierungsberichte durch, sammelte Informationen von jedem Missbrauchszentrum im Land und parierte die Anrufe von Experten und Wissenschaftlern, die sich förmlich darum rissen, in einem ihrer Artikel namentlich erwähnt zu werden. Manche waren auch durch und durch bösartig, warfen ihr Ignoranz und Niedertracht vor. Na ja, diese Reaktion kannte sie schon von anderen Artikeln. Und sie wollte schließlich nicht das Sprachrohr für jede Frau im Land sein. Das sollten lieber die Sozialwissenschaftler und Dozenten draußen in Belfield machen. Nein, diese Sache war ihr aufgebürdet worden. Durch Zufall war sie an etwas Größeres als eine einfache Story geraten. Und sie würde so lange bohren, bis sie die Sache bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht hatte.
Es war aber verdammt anstrengend, und in den letzten beiden Tagen war sie kaum zum Nachdenken gekommen. Jetzt, auf dem Rückweg von Heffernans Büro zu ihrem Schreibtisch, war ihr Kopf wieder randvoll mit Dingen, die sie erledigen musste. Doch zuerst würde sie sich eine private Genugtuung verschaffen und Vincent Bishop eine E-Mail schicken, in der sie ihm mitteilte, wohin er sich seine dämliche Plattenspielernadel stecken konnte. Seit Sonntag hatte er diverse Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, etliche SMS und E-Mails geschickt. Erst Glückwünsche, dann quengelnde, kurze Texte, warum sie sich nicht meldete – als ob das nicht offensichtlich wäre. Nicht zuletzt, weil sie keine Zeit mehr für alles andere außer der Arbeit hatte. Und dann, gestern Abend, als sie nach dem Questions and Answers-Triumph bei RTE nach Hause gekommen war, hatte ihr Telefon geklingelt, sie war rangegangen, weil sie – naiv und dumm wie sie war – erwartet hatte, dass ihr jemand gratulieren wollte, und hatte es wieder gehört, das Kratzen und Rauschen der Schallplatte, worauf der verfickte Roy Orbison begann, ihr dieses Mal Love Hurts ins Ohr zu jaulen.
»Oh, es wird verdammt wehtun, wenn Sie nicht endlich damit aufhören«, hatte sie in den Hörer gebrüllt – die Drinks, die sie nach der Sendung im Green Room von RTE getrunken hatte, hatten offensichtlich nicht zu größerer Gelassenheit beigetragen. Doch Roy hatte einfach weitergesungen, bis sie den Hörer auf die Gabel geknallt hatte. Das war das Eigenartige daran: Es schien vollkommen egal zu sein, ob sie ans Telefon ging oder nicht. Die Platte lief einfach weiter. War überhaupt jemand am anderen Ende der Leitung? Sie drückte auf Rückruf, aber natürlich war die Nummer unterdrückt. Weil sie sich dreckig und erschöpft fühlte, hatte sie sich dann ein Bad einlaufen lassen, sich in der Wanne die Spätnachrichten im Radio angehört und den Anruf fast vergessen.
Jetzt jedoch, mit der Gehaltserhöhung in der Tasche und ihrem Selbstbewusstsein auf einem absoluten Rekordhoch, war es an der Zeit, die Sache ein für alle Mal zu beenden, dachte sie. Bei der Publicity, die sie gerade bekam, war sie für gute Storys nicht mehr auf Bishop und seinesgleichen angewiesen. Die würden von selbst kommen. Sie drückte die Leertaste und wollte gerade schon die ersten Worte schreiben. Dann dachte sie, scheiß drauf, und zog ihr Handy aus der Tasche. So eine Nachricht überbrachte man am besten persönlich.
»Da will jemand den Chef sprechen«, rief einer vom Hinweis-Team Mulcahy durch den Raum zu und streckte ein imaginäres Telefon aus Daumen und kleinem Finger als Ersatz für das Headset auf seinem Kopf in die Luft.
»Wieso?«, fragte Mulcahy, der sich ärgerte, weil er beim Erstellen der Prioritätenliste an seinem Computer gestört wurde.
»Ein pensionierter Cop will nicht mit einem Normalsterblichen wie mir sprechen«, sagte der Beamte spöttisch.
»Okay, stellen Sie ihn durch.«
Der Mann sprach leise, aber mit angenehmer Stimme. Dem Akzent nach stammte er irgendwo aus dem Südwesten. »Sind Sie für den Priester-Fall zuständig?«
»Ja, ich bin Inspector Mulcahy. Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Oh nein, den Sir können Sie sich sparen. Ich habe es bis zur Pensionierung nur bis zum Sergeant geschafft.«
Instinktiv ließ Mulcahy die hochgezogene Deckung etwas sinken. »Sie waren bei der Polizei?«
»Das war ich, ja«, sagte der Mann, und das klang so, als wäre er es gerne immer noch. »Sergeant Pat Brennan. Im Ruhestand. Und das auch schon ein paar Jährchen. Aber ich bin erst gegangen, als sie mich rausgeworfen haben.«
»Gut für Sie. Mein alter Herr hat auch bis zum Schluss durchgehalten. Dem hat es das Herz gebrochen, als er dann gehen musste, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht kannten Sie ihn, Inspector John Mulcahy.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte nachdenkliches Schweigen, während im Kopf vermutlich die Rolldatei mit möglichen Bekannten durchgegangen wurde, bis: »Ach, aber doch nicht Johnny Mulcahy aus Dun Laoghaire! Sie sind sein Junge?«
Mulcahy gab der Woge aus Nostalgie bereitwillig nach, die ihm aus dem Telefon entgegenschlug. Er hörte gern Geschichten über seinen Vater, seine Kollegen und ihre Zeit. Er war damit aufgewachsen. Sie klangen unweigerlich so, als stammten sie aus einem goldenen Zeitalter, bevor Drogen, das organisierte Verbrechen und Serienvergewaltiger sich auf der heiligen irischen Insel breitgemacht hatten. Der Mann war etwas jünger, trotzdem hatte er fast sein ganzes Berufsleben an diesem einen Ort verbracht, der Rathgar Garda Station in Dublin. So etwas gab es fast gar nicht mehr, weil Streifenpolizisten regelmäßig versetzt wurden.
»Die Sache ist die, wenn man so lange an einem Ort ist, sieht und hört man Dinge, die man sonst gar nicht mitkriegen würde. Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl für die Leute, wissen Sie?«
»Ja, ich weiß«, sagte Mulcahy. »Also, was haben Sie für uns?«
»Na ja, das ist jetzt schon ein paar Jahre her, aber kennen Sie Palmerston Park?«
»Natürlich, ich bin in Milltown aufgewachsen.« Auf dem Nachhauseweg von der Schule war Mulcahy häufig an dem eleganten Halbkreis aus viktorianischen Villen vorbeigegangen.
»Gut, wie schon gesagt, ist das alles schon ein paar Jährchen her, aber damals hat da ein junger Bursche gewohnt. Sean Rinn hieß er. Kam aus einer sehr guten Familie.«
Der Name kam Mulcahy entfernt bekannt vor.
»Sein Großvater war Richter am High Court«, fuhr der Sergeant fort. »Aber mit dem Jungen haben die mächtig Probleme gehabt. Ich hatte auch ein paarmal mit ihm zu tun, aber natürlich war Oberrichter Rinn immer zur Stelle und hat bei irgendeinem hohen Tier ein gutes Wort für ihn eingelegt.«
Ein Anflug weinerlichen Ressentiments hatte sich in die Stimme des alten Mannes geschlichen, ganz ähnlich wie bei vielen Anrufen, die das Hinweis-Team erhielt. Mulcahy war sofort geneigt, die Deckung wieder hochzunehmen.
»Und was genau hat das mit dem Fall zu tun, wegen dem Sie mich anrufen?«
Es musste etwas hart geklungen haben, denn der alte Mann fing sofort an, sich zu entschuldigen. »Ach, meine Frau hat mir schon gesagt, dass ich Sie nicht mit alten Geschichten behelligen soll. Klar, was soll der Name Ihnen schon sagen? Ich habe es nie geschafft, ihn wegen irgendwas dranzukriegen. Es ist bloß, als ich diese Sachen in der Zeitung über den Priester gesehen hab, musste ich an Rinn denken und dachte mir, da ruf ich Sie mal an. Nur für den Fall der Fälle.«
Mulcahy verspürte einen Anflug von Schuld. Schließlich tat der Mann nur seine Pflicht. »Gut, dann erzählen Sie mir, was Sie haben, dann werden wir uns die Sache mal angucken.«
Aber der Sergeant hatte nur ein paar vage, verschlungene Geschichten über diverse, gewaltsame Übergriffe von einem »Sexmonster«, wie er es nannte, das Mitte bis Ende der Achtziger in der Umgebung von Palmerston Park sein Unwesen getrieben hatte. Er war noch immer überzeugt, dass dieser Rinn dafür verantwortlich war, hatte ihm aber nie etwas nachweisen können.
»Wegen seines Großvaters haben sich die von der Kripo geweigert, ihn genauer in Augenschein zu nehmen«, sagte Brennan. Mulcahy wusste, dass so was früher öfters vorgekommen war, in erster Linie hatte sie jedoch vermutlich der Mangel an irgendwelchen Beweisen abgeschreckt.
»Oder er war es nicht«, warf Mulcahy ein.
»Doch, doch, er war’s. Ein Mädchen hat ihn gesehen und uns eine Beschreibung gegeben, die mich überzeugt hat. Aber weitere Beweise hatte ich nicht. So wie der Richter uns damals auf die Finger geguckt hat, war da nichts zu machen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Na ja, das war’s schon fast, außer dass die Übergriffe ein paar Monate später einfach aufhörten – ganz plötzlich, einfach so. Und raten Sie mal, wer genau zu diesem Zeitpunkt weggeschickt worden war?«
»Weggeschickt im Sinne von ins Gefängnis geschickt?«
»Leider nicht«, sagte der Sergeant bitter. »Nein, weggeschickt in dem Sinne, dass seine Großeltern ihn aus der Schusslinie genommen haben. Sie haben ihn ins All Hallows College geschickt, wo er eine Ausbildung zum Priester machen sollte.«
»Zum Priester?« Jetzt spitzte Mulcahy wieder die Ohren.
»Genau.«
»Und wie lange ist das jetzt her, Sergeant?«
»Achtundachtzig oder neunundachtzig muss das gewesen sein. Später auf keinen Fall.«
»Und was war danach? Gab es weitere Angriffe?«
In der Leitung wurde es einen Moment lang still. »Nein, sie haben aufgehört.« Der alte Sergeant klang jetzt sehr unsicher. »Aber genau darauf will ich ja hinaus.«
»Und das ist alles? Das ist die Verbindung, die Sie zum Priester hergestellt haben?« Mulcahy drehte die Augen nach oben.
»Ja, aber …«
Mulcahys Handy klingelte. Er nahm es vom Schreibtisch und sah, dass Brogan dran war.
»Tut mir leid, Sergeant. Hier kommt noch ein Anruf rein. Geben Sie mir Ihre Nummer, dann rufen wir Sie zurück.«
Er bat Brogan zu warten, während er die Nummer aufschrieb, und versprach dem alten Mann, dass ihn jemand wegen der Details anrufen würde.
»Claire, was kann ich für Sie tun?«
»Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass es langsam etwas ruhiger wird?«
Es rauschte im Hintergrund, was Mulcahy zu der Vermutung brachte, dass sie aus dem Auto anrief.
»Sie belieben zu scherzen, was?«
»Schön wär’s. Die Leute in der Pressestelle fangen an durchzudrehen. Das muss das reinste Irrenhaus sein. Sie brauchen ein paar Leute für die Bearbeitung der Medienanfragen. Ich dachte, Sie hätten vielleicht ein paar Leute über?«
»Keine Chance. Die Telefone klingeln hier ununterbrochen.«
»Herrje, was für ein Durcheinander. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass das passieren wird.«
»Ja, das haben Sie«, sagte er.
»Wovon, in Gottes Namen, reden Sie, Siobhan?«
Entweder war Vincent Bishop der beste Schauspieler, mit dem sie je zu tun gehabt hatte, oder er hatte wirklich und wahrhaftig keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Hören Sie, jetzt setzen Sie sich mal hin. Oder beruhigen Sie sich wenigstens, okay? Das ist ja lächerlich. Was ist los? Und was um alles in der Welt hat Roy Orbison damit zu tun?«
Er hielt ihr die CD-Hülle vors Gesicht, deren Folienverpackung im Licht des Restaurants glänzte. Dabei schüttelte er den langen, schmalen Kopf mit den strähnigen Haaren, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst – was ja gewissermaßen auch der Fall war. Auf dem Weg hierher hatte sie es für eine gute Idee gehalten: Die diebische Vorfreude, als sie in den HMV-Laden gegangen war und das Album Roy Orbison’s Greatest Hits gekauft hatte. Die Befriedigung, die sie verspürt hatte, als sie ihm die CD vor die Nase gehalten und gezischt hatte: »Besorgen Sie sich einen CD-Player, Vincent. Sie können ihn sich leisten.«
Offenbar war es wohl doch keine so gute Idee gewesen. In all den Jahren, in denen sie Leute bei ihrer Arbeit auf der Türschwelle überraschte, hatte sie mehr als genug verblüffte und schockierte Mienen gesehen. Die ganze Skala. Sowohl echte als auch gespielte. Aber das nackte Unverständnis, das aus Vincent Bishops Gesicht sprach, als der sie mit offenem Mund anstarrte, war ihr neu. Das konnte er nicht spielen. Ausgeschlossen.
Eigentlich wollte sie dann sofort wieder gehen. Doch sie stand wie angewurzelt da, als ob ihre Schuhe ausgerechnet mitten im rappelvollen Marco Pierre White’s am Boden klebten. Die Hälfte der Gäste, die sie von allen Seiten anstarrten und sich verstohlen flüsternd über ihrem Mittagessen anstießen, waren Journalistenkollegen, verdammt noch mal. Was in Gottes Namen hatte sie geritten, das ausgerechnet hier zu machen?
»Hören Sie, Siobhan. Das geht wirklich nicht. Das ganze Restaurant sieht uns an wie ein paar Volltrottel. Oder noch schlimmer. Ich denke, Sie sind mir hier und jetzt eine Erklärung schuldig.«
Oh mein Gott …
Erst ein paar Stunden später kam Mulcahy darauf.
Er war sich sein Mittagessen holen gegangen, kam mit einem Caffè Latte in der einen und einem Sandwich in der anderen Hand wieder zurück und brütete darüber, wie er am Vorabend bei Siobhan angerufen hatte, um ihr zu erzählen, was er von ihr hielt. Erschöpft und mit zu viel Wein nach einem weiteren Takeaway-Abendessen war er von ihrer Mailbox begrüßt worden. Erst hatte er keinen Ton herausgebracht und aufgelegt. Ich denke, wir sollten uns nicht wieder treffen, hatte er ihr stattdessen als SMS geschickt. Und diese Handlung beschämte ihn jetzt jedes Mal, sobald er daran dachte. Das war nicht nur feige gewesen, sondern auch noch verdammt großkotzig.
Das war Mulcahy im Kopf herumgegangen, als ihm aus dem Nichts heraus etwas einfiel. Vollkommen unerwartet. Es ging um das, was dieser alte Sergeant, Brennan, ihm vorhin am Telefon erzählt hatte. Über einen jungen Burschen namens Rinn. Er war sicher gewesen, dass er den Namen Rinn vorher schon einmal irgendwo gesehen hatte. Er hatte ihn gelesen. Er hatte sich das Hirn zermartert, war aber nicht draufgekommen.
Als er zum Harcourt Square zurückkam, ging er zuerst in Brogans Büro. Sie war nicht da, doch die Kartons mit den Akten standen noch da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Allerdings stand auch ein Bote daneben, der sie gerade auf einen Rollwagen packen wollte. Er war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mittfünfziger, der seine Glatze mit ölglänzenden Strähnen zu verdecken versuchte.
»Das sind doch die Kartons, die zurück ins Archiv sollen, oder?«, fragte er Mulcahy mit einem so breiten Dubliner Akzent, dass man ihn unter Denkmalschutz stellen müsste.
»Wenn Ihnen das so gesagt wurde«, antwortete Mulcahy. »Aber einen Moment noch. Ich muss da eben noch etwas nachgucken.«
Der Bote schnalzte missbilligend und verzog das Gesicht. Inzwischen hatte Mulcahy ein Drittel der Akten aus einem Karton auf dem Boden ausgebreitet. »Hören Sie, kann ich die jetzt mitnehmen oder nicht?«
»Es dauert nur eine Minute«, beteuerte Mulcahy. »Ich weiß, was ich suche, sobald ich es sehe. Warum rauchen Sie nicht eine oder so was, während Sie warten.«
»Ach, ich weiß nicht so recht.«
Mulcahy steckte schnell die Hand in die Tasche und zog seine Packung und das Feuerzeug heraus.
»Hier, gehen Sie rüber ans Fenster. Das wird niemand erfahren.«
Der Mann nickte, sah sich zur Sicherheit noch einmal um, nahm dann die Zigaretten und stellte sich vor das offene Fenster. Mulcahy hob den letzten Aktenstapel heraus und hatte sie endlich in der Hand. Er erkannte sie sofort: eine ockerfarbene Mappe mit Notizen der vorherigen Empfänger auf der Vorderseite und ein paar kurzen Loseblatt-Berichten drinnen. Fall Nr. 6B420703SSA: Coyle/Temple Road, D6, 03/08/09. Im Statusfeld war das handgeschriebene »Aktiv« mit einem roten Eingestellt-Stempel entwertet worden.
Er schlug die Mappe auf, fing an zu lesen und erinnerte sich schnell an weitere Einzelheiten. Er überflog die erste Seite. Mrs C. Coyle war von der Luas-Straßenbahnhaltestelle in Milltown nach Hause gegangen … überfallen … in einen Garten gezerrt … Schreie alarmierten den Hausbesitzer und Passanten … Angreifer floh … Opfer erlitt Abschürfungen … zerrissene Kleidung. Er blätterte weiter bis zum Ende und entdeckte das, wonach er gesucht hatte. Zwei Blätter mit der Überschrift »Zeugenaussage«.
Die erste Aussage war von dem Hausbesitzer, einem Mr Quigley, der den Angreifer verjagt hatte. Darin entdeckte er nichts Auffälliges. In der zweiten hatte er es. Ein Taxifahrer sagte, er hätte im Vorbeifahren Schreie gehört und wäre zu Hilfe gekommen, worauf er auf den Hausbesitzer gestoßen war, der sich um das Opfer kümmerte. Vom Angreifer war nichts zu sehen. Mulcahy blätterte um bis zum Ende der Aussage, und da war er, der Name des Fahrers, getippt und unterschrieben neben der Adresse, die er angegeben hatte. Mulcahy hatte gewusst, dass er den Namen schon einmal gesehen hatte – den Namen, den der Sergeant ihm genannt hatte: Sean Rinn. Und er wohnte auch noch in Palmerston Park, ganz in der Nähe von dem Ort, an dem die Frau überfallen worden war.
Mulcahy hörte ein Hüsteln und blickte auf. Der Bote stand am Fenster und drückte den Stummel außen auf dem Metall-Fensterbrett aus.
»Immer heißt es, dass alles bereit zum Abholen ist«, beklagte er sich bei der Stadt da draußen vor dem Fenster, die ihm nicht zuhörte. »Das ist es aber nie, verdammt noch mal.«
Das Haus am Palmerston Park war eine der größten Doppelhausvillen, die man in Dublin besitzen konnte. Spätviktorianisch, aus solidem Backstein gebaut erhoben sich die drei Stockwerke mit kleiner werdenden, verschnörkelten Flügelfenstern, deren oberstes in einem schönen Bogen aus einem verzierten Mansardendach herausragte. Wie alle Häuser, die auf den malerischen, halbmondförmigen Park gegenüber blickten, war es von der Straße durch eine niedrige Granitmauer mit schwarzem Gitter abgetrennt. Nur die Hecken dahinter unterschieden sich. Bei den meisten Häusern war es Lorbeer, bei anderen Liguster. Bei diesem hatten die Besitzer sich für eine undurchdringliche, kurzgeschorene Säuleneibe entschieden.
Ziemlich schick für einen Taxifahrer, dachte Mulcahy, als er durchs offene Tor in die Zufahrt ging und der Kies unter seinen Füßen knirschte. Doch dann blieb er wie angewurzelt stehen. Ein schmaler Rasenbogen war das Einzige, was vom Vorgarten übrig war. Der größte Teil war zugunsten eines größeren Parkplatzes gepflastert, obwohl auf der linken Seite – vor der riesigen, freistehenden, zur Garage umgebauten Remise – viel Platz für Autos war. Stehen geblieben war er, weil vor dieser Garage ein Lieferwagen stand – ein ziemlich schmutziger, aber trotzdem eindeutig weißer Transit. Genau der Typ, der von dem Augenzeugen im Jesica-Salazar-Fall beschrieben worden war und im Randbereich der Überwachungskameras an der Stelle gehalten hatte, an der Catriona Plunkett im Fairview Park zurückgelassen worden war. In der Stadt gab es natürlich Tausende solcher und ähnlicher Wagen, und sie hatten die Marke und das Modell, das sie suchten, immer noch nicht genau ausgemacht, trotzdem weckte er Mulcahys Aufmerksamkeit und ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.
Er ging die zwei Stufen zu der massiven, vertäfelten Holztür hinauf und drückte auf den großen Messingklingelknopf. Er wurde durch ein altmodisches Bimmeln tief im Inneren des Hauses belohnt – weiter geschah jedoch nichts. Er wartete einen Moment, dann versuchte er es noch einmal. Ohne Erfolg. Wieder dachte er an den Lieferwagen, fragte sich, warum niemand die Tür öffnete, als er hinter dem Haus etwas zu hören glaubte, vielleicht das Scheppern von Werkzeugen. Natürlich – es war schönes Wetter, möglicherweise waren die Bewohner hinten im Garten und hatten die Klingel nicht gehört. Mulcahy ging zum offen stehenden Holztor vor dem schmalen Durchgang zwischen dem Haus und der Garage. Er durchquerte diesen Gang und kam in einen herrlichen, mindestens fünfzig Meter langen Garten mit ausgewachsenen Buchen und Apfelbäumen und vielen bunten Blumenbeeten. Er sah aus, als stammte er direkt aus einem Einrichtungsmagazin. Erst als er auf der Veranda angekommen war, dort stehen blieb und sich umsah, entdeckte Mulcahy am anderen Ende des Gartens zwischen einem Erdhaufen, Brettern und anderen Baumaterialien einen knienden Mann. Er trug eine olivgrüne Militärhose und ein dünnes, dreckiges, weißes T-Shirt. Seine Muskeln zeichneten sich bei der Arbeit deutlich ab.
»Mr Rinn?«
Der Mann streckte seinen Rücken blitzartig, als hätte man ihn mit einer Peitsche geschlagen, verharrte aber ansonsten in der gleichen Position, den Arm ausgestreckt mit einem Fäustel in der Hand, und sah sich nicht einmal um.
»Mr Sean Rinn?«, versuchte Mulcahy es noch einmal. Jetzt drehte sich der Mann langsam um. Seine Augen waren vom Schirm einer Baseballkappe im Militärstil beschattet.
»Raus mit Ihnen. Raus, sonst rufe ich die Polizei«, schrie er plötzlich mit wutverzerrtem Gesicht. Oder war es angstverzerrt? Er stand auf und kam mit drohend erhobenem Hammer auf Mulcahy zu, bis der in die Tasche griff und seinen Dienstausweis zog.
»Ich bin die Polizei«, sagte Mulcahy. »Jetzt nehmen Sie den verdammten Hammer runter und hören Sie mit dem Unsinn auf. Ich muss mit Ihnen reden.«
Das zeigte sofort Wirkung. Der Mann ließ den Hammer auf die Veranda fallen und fing an, die Hände zu wringen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Sind Sie Mr Sean Rinn?«, fragte Mulcahy, während er langsam auf den Mann zuging.
Der schüttelte den Kopf, und der Schirm seiner Baseballkappe zischte vor ihm durch die Luft.
»Nein, Sir. Er ist nicht da. Ich arbeite nur für ihn, leg hier Platten für einen Weg.« Er sprach mit flacher und leicht gepresster Stimme, wie es typisch war für die irischen Midlands. Außerdem schien es, dass er nicht der Hellste war und wahrscheinlich schon mindestens einmal Probleme mit der Polizei gehabt hatte, wenn man sich ansah, wie verängstigt er wirkte.
»Haben Sie eine Ahnung, wann er wieder zurückkommt?«
»Das hat er mir nicht gesagt, Sir.«
Mulcahy sah sich um. Das wirkte jetzt alles ganz normal. Er hatte den Mann nur erschreckt. »Arbeiten Sie hier regelmäßig?«
»Einmal in der Woche, Sir. Im Garten. Ich mach dann, was er mir sagt.«
Mulcahy nickte. »Und das ist Ihr Lieferwagen da draußen? Nicht der von Mr Rinn?«
»N-nein, Sir«, stammelte der Gärtner, und die Angst schien ihn wieder zu lähmen. »Der gehört mir, Sir.«
»Alles klar. Dann machen Sie sich mal lieber wieder an die Arbeit«, sagte Mulcahy, der zu dem Schluss gekommen war, dass das Gespräch ihn nicht weiterbrachte.
Er schrieb eine kurze Notiz für Rinn hinten auf eine seiner Visitenkarten, in der er ihn bat, sich bei ihm zu melden, und steckte sie in den Briefkasten, dann ging er zurück und setzte sich in seinen Wagen. Er schüttelte den Kopf. Wie um alles in der Welt kam ein Taxifahrer an so ein Haus? Von dem Gärtner gar nicht zu reden? Er sah die Fallakte an, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Was sollte er machen? Es gefiel ihm, endlich mal aus dem Büro raus zu sein, weg vom Computer und den unablässig klingelnden Telefonen. Aber wahrscheinlich war der alte Sergeant Brennan nur ein missmutiger, alter Schwätzer, dem eine Laus über die Leber gelaufen war – genau wie Rinn wahrscheinlich nur durch Zufall Zeuge eines Überfalls geworden war.
Mulcahy sah auf seine Uhr. Er hatte viel Zeit, außerdem war er sowieso gerade hier draußen. Er nahm die Akte, schlug sie wieder auf und überflog die Aussage des Opfers. Die Frau hatte ganz klar ausgesagt, dass man ihr nichts gestohlen hatte. Es fehlten weder ein Kreuz noch eine Kette, und es war auch nirgends davon die Rede. Er blätterte zurück zu den Details: Caroline Coyle, Cowper Road 22, Dublin 6. Nur eine Minute die Straße rauf. Geboren: 17/06/78. Dann war sie jetzt – einunddreißig. Zum Zeitpunkt des Überfalls dreißig? Sie lag vollkommen außerhalb des Opferprofils – alle anderen waren Teenager. Selbst Grainne Mullins war damals noch ein Teenager gewesen. Er dachte daran, was sein Besuch bei Grainne ans Tageslicht gebracht hatte, und kam zu dem Schluss, dass so etwas hier nicht zu erwarten war. Das Opfer war offensichtlich eine respektable, redegewandte Frau. Soweit er das beurteilen konnte, waren auch gründliche Ermittlungen durchgeführt worden. Es hatte jedoch einfach keine Hinweise gegeben, denen man nachgehen konnte. Sie war angegriffen worden. Der Angreifer hatte Angst bekommen und war geflohen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. So etwas passierte schon einmal. Eine Frau in dem Alter war um diese Zeit wahrscheinlich bei der Arbeit. Aber einen Versuch war es wert. Mulcahy zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Telefonnummer, die in der Akte stand.
Als er Caroline Coyle sah, fiel Mulcahy als Erstes auf, wie wohlhabend sie war. Er hatte das schon fast erwartet, nachdem ihm das glänzende Jaguar-Coupé aufgefallen war, das in der Einfahrt des vornehmen Stadthauses in Rathgar stand. Als sie jedoch die leuchtend rote Haustür öffnete, hätten Mulcahy ihre Wohlhabenheit und Kultiviertheit beinahe umgehauen. Die äußerst gepflegte Erscheinung tat ihr Übriges.
Sie bat ihn, »mit nach hinten« zu kommen, und er wusste gar nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Alles war umwerfend, von dem handgewebten Teppich bis hin zu den glänzenden, teilweise sogar vergoldeten Antiquitäten, die überall standen. Er glaubte, im Flur ein Gemälde von Paul Henry erkannt zu haben, und war sicher, dass das riesige Ölbild über dem Kamin im Wohnzimmer von William Orpen war: eine prächtige Szene von einer jungen Frau in einem weißen Kleid, die lesend in einem sonnendurchfluteten, grünen Garten saß. Ein ähnliches Bild hatte er vor etwa einem Monat in der Fernsehsendung Antiques Roadshow gesehen, wo es auf eine astronomische Summe geschätzt worden war.
Erst als Mrs Coyle sich das Kleid glattstrich, bevor sie sich ihm gegenüber aufs Sofa setzte, fiel ihm auf, wie jung sie aussah. Am Telefon hatte sie sich überrascht gezeigt, dass er den Fall nach über einem Jahr wieder aufgenommen hatte, er hatte jedoch behauptet, dass das Routine wäre. Als Ziel der perversen Aufmerksamkeit des Priesters hatte er sie eigentlich schon in dem Moment ausgeschlossen, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Jetzt war er sich nicht mehr ganz so sicher. Wenn man sich die selbstbewusste Haltung, das gekonnte Make-up und die perfekt gestylten Haare wegdachte, hätte ihr Gesicht wahrscheinlich als das einer Achtzehnjährigen durchgehen können. Als sie ihm dann erzählte, dass sie an besagtem Abend ziemlich früh von einer Kostümparty nach Hause gekommen war, spitzte er die Ohren.
»Ich war als Prostituierte verkleidet«, sagte sie. »Das Thema der Party war Pfarrer und Flittchen. Daithi, mein Mann, ist als Pfarrer gegangen.«
»Pfarrer und Flittchen?«, fragte Mulcahy nachdenklich.
»Ein klassisches englisches Thema. Wir haben das in unserer Zeit am Trinity College öfter gemacht, und einer von unseren Freunden hatte beschlossen, das mal wiederaufleben zu lassen. Die Jungs haben sich als Priester verkleidet, und die Mädchen als, na ja, Nutten, könnte man wohl sagen. Aber Daithi hat sich verspätet, weil er noch eine Operation hatte – er musste irgendeinen Notfall behandeln –, also bin ich allein zu der Party gefahren und wollte ihn dort treffen.«
Sie hatte Mulcahy schon erzählt, dass ihr Mann Chirurg war, was den Wohlstand zu einem gewissen Teil erklärte, trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, wie man durchs Aufschneiden von Patienten so einen Reichtum anhäufen konnte.
»Ich war jedenfalls auf der Party, als einer von Daithis Assistenzärzten anrief und mir sagte, dass es Komplikationen gäbe und mein Mann gar nicht kommen könnte. Allein habe ich es da einfach nicht ausgehalten.« Sie schwieg einen Moment und biss sich betreten auf die Unterlippe. »Ich muss wohl ein bisschen viel Champagner getrunken haben. Also, das hatte ich auf jeden Fall, denn normalerweise wäre ich direkt in ein Taxi gestiegen. Besonders in dem Outfit – ich hatte allerdings eine Jacke übergezogen. Aber aus irgendeinem Grund bin ich in eine Luas gestiegen. Die Straßenbahn war etwas Neues für mich, und ich wusste, dass hier gleich an der Ecke eine Haltestelle ist, da wollte ich sie mal ausprobieren und … Das war echt saublöd von mir, oder?«
Mulcahy wollte Mrs Coyle gerade versichern, dass auch Personen, die ein öffentliches Verkehrsmittel benutzten, ebenso viel Recht auf eine sichere Heimfahrt hatten wie alle anderen, aber sie erzählte sofort weiter, erklärte, dass sie »ein bisschen müde« gewesen wäre, ihre Haltestelle verpasst hätte, aber noch rechtzeitig aufgewacht wäre, um bei der nächsten auszusteigen und sich von dort zu Fuß auf den Weg nach Hause zu machen.
»Ich war ganz froh, dass ich ein bisschen frische Luft schnappen konnte. Sogar so sehr, dass ich mir die Gelegenheit entgehen ließ, mit einem Taxi nach Hause zu fahren, unglaublich, oder? Gott, was hab ich hinterher mit mir selbst geschimpft, dass ich es nicht genommen habe«, seufzte sie.
»Ein Taxi?«, fragte Mulcahy. »In Ihrer Aussage stand nichts von einem Taxi.«
»Nein, also, natürlich nicht. Ich habe es ja, wie gesagt, nicht genommen. Ich habe dem Fahrer gesagt, dass mir die frische Luft guttut und es sowieso nur noch ein paar hundert Meter sind.«
»Was meinen Sie, wenn Sie sagen, ›Ich habe dem Fahrer gesagt‹? Wollen Sie sagen, dass ein Taxifahrer Ihnen angeboten hat, Sie mitzunehmen?«
Es war nur ein kleines Detail, aber eins, bei dem bei Mulcahy die Alarmglocken läuteten. Taxifahrern war es nicht erlaubt, Fahrgäste anzuwerben, und jeder, der sich dabei erwischen ließ, riskierte den Verlust seiner Lizenz.
»Na ja, jetzt, wo Sie es so sagen, mag es etwas ungewöhnlich gewesen sein«, erwiderte sie, und er sah ein leichtes, alarmiertes Flackern in ihren Augen. »Aber als er neben mir anhielt, hat das Schild auf dem Dach geleuchtet, also habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich habe das Angebot nur dankend abgelehnt und bin weitergegangen. Sie denken doch nicht, dass er das war, oder?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Mulcahy schnell, weil ihm die nächste Frage bereits auf der Zunge lag. »Haben Sie zufällig den Fahrer gesehen?«
Er sah, wie sie mit bedrückenden Gedanken kämpfte, ihre blasse, gepflegte Gesichtshaut spannte sich, wodurch sie noch mehr wie ein Kind in Erwachsenenkleidung aussah.
»Äh, ich … ich weiß nicht. Na ja, es ist ja dunkel gewesen. Ich erinnere mich nur, dass er neben mir gehalten hat und das Beifahrerfenster offen war. Er saß ja auf der anderen Seite. Ich glaube gar nicht, dass ich überhaupt hineingesehen habe. Warum auch? Ich weiß nur, dass er mich gerufen und mir angeboten hat, mich mitzunehmen, und ich habe gesagt: ›Nein danke, es ist ein so schöner Abend‹, und …«
Sie verstummte, während sie immer konzentrierter die Stirn runzelte. Mulcahy merkte, dass der Überfall sie tiefer verletzt hatte, als sie sich anfangs hatte anmerken lassen. Trotzdem musste er sie dazu bringen, die Situation noch einmal zu durchleben.
»Ist er sofort weggefahren? Wissen Sie noch, was für ein Auto es war?«
»Nein, eigentlich nicht. Nur dass er mir die Fahrt angeboten hat. Ich dachte nur daran, wie gut sich die Nachtluft im Gesicht und an den Beinen anfühlte … Ach, ich muss schrecklich betrunken gewesen sein, ohne es gemerkt zu haben. Und dann auch noch in dem albernen Outfit. Ich hätte auch gleich darum betteln können, dass mich jemand überfällt.«
Sie stützte das Gesicht in ihre Hände, und Mulcahy dachte, dass sie weinte. Doch als sie den Kopf wieder hob und ihn ansah, sah er kein Zeichen von Tränen, nur peinliche Berührtheit.
»Würden Sie mir erzählen, was danach passiert ist?«
Mulcahy wusste es im Großen und Ganzen, weil er ihre Aussage gelesen hatte, doch er wollte es noch einmal hören. Sie wäre weitergegangen, ohne an irgendetwas Böses zu denken, sagte sie, die Temple Road entlang, an den großen Häusern mit den riesigen Vorgärten vorbei. Dann wäre alles sehr schnell gegangen: Der Angreifer wäre von hinten gekommen, hätte ihr einen Arm um den Hals gelegt und sie in einen der stockdunklen Gärten gezogen. Der Hausbesitzer hätte ihre Schreie gehört und wäre herausgekommen. Mrs Coyle gab zu, dass sie sich absolut nicht mehr an den anderen Mann erinnern könne, der dann noch zu Hilfe gekommen war, außer dass man ihr erzählt hatte, es handelte sich um jemanden aus der Nachbarschaft. Und nein, auch an Mr Quigley hätte sie sich nicht mehr erinnert, wenn sie ihn nicht einen Monat nach dem Überfall angerufen und sich bei ihm für ihre Rettung bedankt hätte. Es wäre ein gewaltiger Schock gewesen.
Mulcahy lächelte mitfühlend und nahm interessiert zur Kenntnis, dass man ihr den Beruf ihres zweiten Retters offenbar nicht mitgeteilt hatte. Er würde ihn ihr jetzt auch nicht verraten, sondern überlegte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass es sich um denselben Taxifahrer handelte, der ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen. Dann wäre es Rinn gewesen. War er ihr womöglich gefolgt?
Mulcahy beschloss, das Gespräch zu beenden. Mrs Coyle brachte ihn zur Tür, als er fragte, ob sie sicher wäre, dass der Angreifer nichts gestohlen hätte. Oder ob ihr hinterher vielleicht aufgefallen wäre, dass doch irgendetwas fehlte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, fuhr sich in einer unbewussten Bewegung mit der Hand über die Brust und wirkte seltsam gedankenverloren, als sie die Tür öffnete.
»Warum fragen Sie das?«
»Was?«
»Wieso wollen Sie wissen, ob etwas gefehlt hat?« Ihre Stimme zitterte, und sie sah ihn voller Angst an. »Sie denken, dass es dieser Vergewaltiger war, der Priester, der jetzt dauernd in den Nachrichten ist, stimmt’s?«
Mulcahy war überrascht, hütete sich jedoch zuzugeben, dass er sich allein aus diesem Grund noch einmal mit dem Fall befasste. »Das ist eine von mehreren Möglichkeiten.«
Sie nickte und hustete dann laut in ihre Hand.
»Herrgott, er hätte mir das antun können«, flüsterte sie. Plötzlich gaben ihre Beine nach, doch bevor sie in sich zusammensackte, fing Mulcahy sie auf. Er half ihr wieder ins Haus, wo sie sich auf einen Stuhl im Flur setzte. Sie zitterte wie Espenlaub.
»Er hätte das getan, stimmt’s?«, fragte sie mit leichenblassem Gesicht unter ihrer Make-up-Schicht.
»Sie sind auf jeden Fall ziemlich glimpflich davongekommen, Mrs Coyle, aber die anderen Überfälle haben erst in den letzten Tagen stattgefunden, und es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um denselben Täter handelt.«
Egal wie, irgendwie musste er sie beruhigen.
»Nein«, sagte sie. »Sie verstehen nicht. Er muss es gewesen sein.«
Er trat zurück. Sie sagte das aus tiefster Überzeugung. »Wie kommen Sie darauf?«
»Als ich ein paar Tage später die Kostüme zum Verleih zurückbrachte, haben die ein Riesentheater gemacht, weil das Kruzifix von Daithis Pfarrerkostüm fehlte. Das Kreuz. Sie wollten die absurde Summe von fünfzig Euro für den Ersatz. Erst dachte ich, sie hätten es selbst verbummelt, schließlich hatte Daithi sein Kostüm nicht einmal anprobiert. Aber dann ist mir wieder eingefallen, dass wir uns die Kostüme zusammen angesehen haben. Und zwar an dem Abend, als wir sie abgeholt hatten. Und ich erinnere mich noch ganz genau an das Kreuz – so ein großes, billiges, altes messingartiges Ding. Also hab ich gezahlt und gedacht, dass es irgendwann schon wieder irgendwo auftaucht. Aber das ist es nicht. Was, wenn ich es an dem Abend selbst getragen habe? Ganz spontan als einen Witz? Sie wissen schon, zum Flittchenoutfit. Und hinterher einfach nicht mehr dran gedacht habe? Wegen des Schocks oder so. Diesen Zusammenhang hatte ich noch gar nicht gesehen. Na ja, sicher kann ich das natürlich nicht sagen, aber auf den Gedanken bin ich bisher überhaupt nicht gekommen.«
Als er wieder in seinem Wagen saß, wartete Mulcahy, bis sein Herz zu klopfen aufhörte, während er überlegte, was zum Teufel als Nächstes zu tun war. Er hatte sein Bestes getan, um Caroline Coyle zu beruhigen, musste sie dann aber sich selbst überlassen. Er war jedoch tief erschüttert von dem, was sie gesagt hatte: Das hatte er nicht erwartet. Aber war das nicht doch alles etwas zu einfach? Er beschloss, erst einmal auf die Bremse zu treten und sich alles in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Mrs Coyle war sich selbst mit dem Kreuz nicht hundertprozentig sicher gewesen. Sie hatte zugegeben, dass es ihr jetzt erst aufgefallen sei. Da hatte er schon weitaus seltsamere Eingebungen miterlebt – Menschen, die etwas im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen hatten und plötzlich davon überzeugt waren, dass ihnen das Gleiche widerfahren war. Mit solchen Vorkommnissen schlugen sie sich im Hinweis-Team am Harcourt Square den ganzen Tag herum. Niemand wusste besser als er, dass einige Menschen dazu fähig waren, fremde Erlebnisse zu adaptieren und in ihre eigene Lebensgeschichte einzubauen. Trotzdem war es immer wieder erschreckend, wenn man so einen Fall hautnah vor sich hatte – falls es denn tatsächlich zutraf? Trotzdem kam er zu dem Schluss, dass es sich lohnen könnte, in diese Richtung weiter zu ermitteln. Ganz nüchtern und sorgfältig. Sobald er wieder im Einsatzzentrum war, musste er Brogan davon überzeugen, dass sie jemanden darauf ansetzen sollte. Er wusste aber auch, dass er behutsam vorgehen musste. Seit er den Scully-Fall für Healy geprüft hatte, reagierte sie ziemlich gereizt auf ihn und seine Vorschläge und fände es gar nicht komisch, wenn er sich einfach vor sie stellte und das nächste Kaninchen aus dem Zylinder zog.
Aus einer gewissen Distanz sah er jetzt, dass es ein Fehler gewesen war, sich Sergeant Brennans Geschwätz zu Kopf steigen zu lassen. Selbst wenn Mrs Coyle in der Nacht von einem Taxifahrer angesprochen worden war, selbst wenn es dieser Rinn gewesen sein sollte, hieß das noch lange nicht, dass er auch der Angreifer war. Und der Priester hatte es auf Mädchen im Teenageralter abgesehen. Außerdem fuhr er einen Lieferwagen, kein Taxi. Plötzlich kam ihm wieder Grainne Mullins in den Sinn. Hatte die nicht auch gesagt, dass sie kurz vor dem Überfall aus einem Taxi gestiegen war? Aber da war der Taxifahrer schon weg. Er hatte sie etwas früher abgesetzt, weil er tanken musste. War das vielleicht ein Trick gewesen? Hatte der Fahrer irgendwo geparkt und sie dann verfolgt? Herrgott, das alles war verdammt vage. Trotzdem sollte er besser ins Einsatzzentrum zurückfahren und Brogan das Ganze vorlegen. Auf die Art überschritt er jedenfalls keine Grenze, und wenn sie wollte, konnte er es weiterverfolgen. Und falls etwas dabei herauskam, sollte sie ruhig die Anerkennung dafür bekommen.