20

Als sie in Dublin landeten, hatte Mulcahy viele der Puzzleteile in seinem Kopf zusammengefügt. Er konnte nicht nur die Narben an Sean Rinns Hals zuordnen, sondern auch die Fasern. Dann waren da noch der Lieferwagen und die Taxi-Lizenz – Rinn musste bei allen Opfern in etwa die gleiche Methode angewandt haben. Byrnes sogenanntes Geständnis zählte nicht. Mulcahy wusste, wie verängstigt und verwirrt manche Leute waren, wenn sie in Polizeigewahrsam genommen wurden – und bei jemandem wie Byrne, der ein bisschen zurückgeblieben war, hatte sich das nur verstärkt. Mulcahy war überzeugt, dass er das Grundgerüst richtig zusammengesetzt hatte. Das Wichtigste war jetzt, so schnell wie möglich aus dem Flugzeug zu kommen und dafür zu sorgen, dass Siobhan in Sicherheit war und Rinn festgenommen wurde.

Er wartete mit dem Einschalten des Handys nicht, bis er die Maschine verlassen hatte. Schon als er sich nach vorne drängte, um als Erster aus dem Flugzeug zu steigen, wählte er ihre Handynummer, und als er die Gangway hinunter und weiter zum Terminal rannte, versuchte er es weiter. Doch erst in der relativen Ruhe der Ankunftshalle akzeptierte er schließlich die schlechte Nachricht, dass der gewünschte Teilnehmer im Moment nicht erreichbar wäre.

Das war nicht gut. An der Passkontrolle zog er seinen Dienstausweis und wurde direkt durchgewinkt. Er sah auf die Uhr. 22.05. Wo zum Teufel könnte sie sein? Er rief die Auskunft an und ließ sich erst zum Sunday Herald und von dort zur Nachrichtenredaktion weitervermitteln.

»Ist Siobhan Fallon da?«

»Nein, ist sie nicht«, raunzte ihn eine Männerstimme an.

»Wissen Sie, wo ich sie finden könnte?«

»Ich habe absolut keine Ahnung«, sagte der Mann unwirsch. »Ich versuch selbst schon seit Stunden, sie zu erreichen. Und auch noch direkt vor der Drucklegung. Falls Sie sie finden, guter Mann, dann richten Sie ihr doch von Paddy Griffin aus, dass sie hier gar nicht erst wieder aufzutauchen braucht, wenn das ihre Einstellung zur Arbeit ist. Haben Sie das verstanden? Sie braucht gar nicht erst wieder herzukommen, wenn sie nicht die beste Entschuldigung auf diesem verdammten Planeten hat.«

Die Leitung wurde unterbrochen, und Mulcahys Bauch fing wieder an zu grummeln. Er kannte den Namen Griffin von der Titelseite des Herald. Was war er noch? Nachrichtenchef? Wenn der damit gerechnet hatte, dass Siobhan sich meldet, sie das dann aber nicht getan hatte, klang das wirklich nicht gut. Die beste Entschuldigung auf diesem Planeten? Herrje, hoffentlich nicht. Mulcahy versuchte sich zu konzentrieren. Siobhan hatte ihm Rinns Adresse geschickt – also hatte sie offenbar vorgehabt, zu ihm zu fahren, um diese Spur zu verfolgen. Aber warum hatte sie niemandem etwas davon erzählt? Und warum hatte sie sich drei Stunden später immer noch nicht gemeldet? Das Besorgniserregendste war ihr Handy. Warum, zum Teufel, erreichte er sie nicht? Er wollte nicht an das Schlimmste denken, bekam diese Möglichkeit jedoch nicht aus dem Kopf.

Halb gehend, halb rennend verließ er das Flughafengebäude in Richtung des Parkhauses. Als er im Saab saß, legte er einen Moment lang die Stirn auf das kühle, schwarze Leder des Lenkrads, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. In ihrer Wohnung nachzusehen hatte keinen Sinn. Er erinnerte sich auch kaum noch, in welcher Straße sie war, geschweige denn an die Hausnummer. Und wenn sie da sein sollte, ging es ihr auch gut, dann herrschte keine Eile. Eigentlich war nur wichtig, ob sie zu Rinn gefahren war – ansonsten spielte ihr Aufenthaltsort keine Rolle. Damit gab es für ihn exakt einen Handlungsauftrag: Fahr rüber nach Palmerston Park, guck dir das Haus an, lass Rinn festnehmen und Handschellen anlegen. Wenn Siobhan noch da war, umso besser. Wenn nicht, änderte das auch nichts.

Die Tachonadel immer nah am roten Bereich hatte er die Hälfte der Strecke auf der M1 hinter sich, als ihm dämmerte, dass es nicht schaden konnte, jemanden dabeizuhaben, der ihm etwas Rückendeckung gab. Trotz allem versuchte er es wieder bei Brogan, landete jedoch wie erwartet direkt auf der Mailbox. Er hinterließ eine Nachricht, hegte aber keine große Hoffnung. Sie würde ihn bestimmt nicht zurückrufen. Nicht um diese Zeit. Also probierte er es bei Liam Ford – wahre Freunde erkannte man schließlich erst in der Not und so weiter. Doch auch hier kam er kein Stück weiter als bis zur Mailbox. Mist. Samstagabend. Liam war vermutlich irgendwo auf Sauftour. Lohnte es sich, eine Nachricht zu hinterlassen? Wieso nicht?

»Liam, hier ist Mike. Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mich so bald wie möglich zurückrufen?«

In diesem Moment fiel ihm noch eine weitere Person ein. Dann mal schnell, Baby. Es wäre zwar eine Art Rache, allerdings nicht die Art, die er sich vorgestellt hatte. Schon bei dem Gedanken packte ihn die Wut. Aber hatte er eine andere Wahl? Es war das einzige kleine Druckmittel, das ihm noch zur Verfügung stand. Er nahm den Fuß vom Gas, und als er auf ein gerades Stück kam, blickte er auf sein Handy herunter, blätterte die Anrufliste durch und tippte mit dem Daumen auf eine Nummer. Es sprach nichts dagegen, die Sache jetzt gleich zu klären.

Palmerston Park war dunkel, leer und totenstill. Mulcahy röhrte die Straße in seinem Saab entlang und hielt mit quietschenden Reifen hinter einem schmutzig blauen Golf GTI. Als er aus dem Wagen sprang, stieg auch der Besitzer des Golfs aus, ging nach hinten und starrte auf die schmale Lücke zwischen den beiden Autos.

»Allmächtiger Gott, noch ein paar Zentimeter weiter, dann hätten Sie mir die hintere Stoßstange abgefahren. Was zum Teufel soll der Scheiß? Ich dachte, Sie wären von dem Fall abgezogen?«

Sergeant Cassidy schien gar nicht erbaut darüber zu sein, seinen Samstagabend unterbrechen zu müssen. Und Mulcahy war nicht in der Stimmung, ihn zu besänftigen.

»Bleiben Sie ruhig, Sergeant. Ich hab keine Lust, mir Ihren Mist anzuhören. Passen Sie einfach auf, okay?«

Cassidy sah ihn wütend an. Am Telefon war Mulcahy sehr kurz angebunden gewesen, hatte ihm nur Rinns Adresse gegeben und ihm gesagt, dass er sich da einfinden solle, und zwar schnell, Baby – wenn er seinen Job am Montag noch haben wolle. Es war ein Risiko, das wusste er, aber Cassidy als Rückendeckung zu haben war besser als nichts, besonders jetzt, wo er ihn in der Hand hatte. Für Erklärungen hatten sie später noch Zeit.

Mulcahy blickte die Straße auf und ab und sah genau das, was er nicht zu sehen gehofft hatte: Das rote Alfa-Spider-Coupé parkte etwa dreißig Meter die Straße hinunter. Er zeigte darauf.

»Erkennen Sie den Wagen?«

Cassidy sah es mit leerem Blick an, dann hellte ein Schimmer der Erkenntnis seine Züge auf.

»Ganz genau, Sergeant. Das ist das Auto Ihrer Geldgeberin, und die befindet sich in großen Schwierigkeiten.«

Cassidy wirkte völlig ratlos, als wüsste er nicht, ob er protestieren sollte oder nicht, oder wie er überhaupt damit umgehen sollte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Inspector, aber Sie machen einen großen …«

»Wenn ich unrecht hätte, wären Sie nicht hier, also halten Sie einfach den Mund«, zischte Mulcahy ihn an. Er wandte sich von ihm ab und deutete aufs Haus. »Da wohnt ein gewisser Rinn. Er gibt sich gern als Taxifahrer aus, bekannt geworden ist er allerdings als der Priester.«

»Was zum Teufel reden Sie da, wir haben …«

»Ich glaube, er hat Siobhan Fallon in seiner Gewalt, will aber nicht die Pferde scheu machen, falls ich mich irre. Mich kennt er schon, also geben Sie mir einfach Rückendeckung, okay? Dann werde ich vielleicht davon absehen, Superintendent Healy zu erzählen, wer die undichte Stelle war, über die die Informationen zum Herald geraten sind. Mit etwas Glück können Sie also sogar Ihren Job behalten.«

Mulcahy schob Cassidy vor sich her und durch das offene Tor zu Rinns Haus. Es sah vollkommen dunkel aus.

»Völlig verrückt«, grunzte Cassidy. »Da ist doch niemand.«

»Klopfen Sie einfach an die Haustür«, sagte Mulcahy. »Wenn er da ist, müssen wir da irgendwie reinkommen. Erzählen Sie, dass jemand wegen Ruhestörung eine Anzeige erstattet hat, und versuchen Sie, ins Haus zu kommen. Ich komme gleich nach, sobald ich in der Garage nachgesehen habe.«

Mulcahy ging zur alten Remise und hoffte, dass das Geräusch von Cassidys Schritten im Kies das seiner eigenen übertönte. Vor dem Garagentor blieb er stehen und lauschte. Er hörte das Klopfen an der Haustür, dann das Klingeln der altmodischen Glocke im Haus, dann lauteres Klopfen, als Cassidy seine Bemühungen verstärkte, um die Bewohner aufzuscheuchen. Mulcahy sah sich um. Im Haus ging kein Licht an, und es gab auch sonst kein Lebenszeichen. Er öffnete das hölzerne Garagentor und sah in der Dunkelheit vor sich eine graue Limousine mit einem Taxischild auf dem Dach. Also war er nicht auf der Jagd. Doch daneben war noch Platz für ein weiteres Fahrzeug, groß genug für einen Lieferwagen. Außerdem lehnte ein weiteres, größeres Taxischild an der Wand.

Mulcahy sah einen Schalter und machte Licht. Er erstarrte beinahe sofort, als er einen Haufen roter Plastiksäcke in der Ecke sah, die genau dieselbe Farbe und Textur hatten wie die Fasern, die an der Kleidung der Opfer hingen. Neben den leeren Säcken stand eine Holzpalette mit mehreren Lagen gefüllter Säcke – und dahinter ein Rest der dicken, transparenten Plastikfolie, mit der die Säcke auf der Palette festgehalten worden waren. Mulch, las er auf einem Sack. Für Gartenwege. Ihm wurde klar, dass Byrne den Gartenmulch bestellt und abgeholt hatte und Rinn die leeren Säcke und die Verpackungsfolie für andere Dinge zweckentfremdet hatte. Bevor er das näher untersuchen konnte, hörte er, wie Cassidy hinter ihm in die Garage trat und aussah, als wollte er jemanden umbringen.

»Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, dass da keiner drin ist.«

Mulcahy schüttelte den Kopf und deutete auf das Taxi. Cassidy zuckte die Achseln, bückte sich dann aber und zog etwas unter dem Auto heraus.

»Wie’s aussieht, ist er auch telefonisch nicht erreichbar«, sagte er, drehte das Fundstück in der Hand um und zeigte es Mulcahy. Ein kaputtes Handy, das aussah, als wäre jemand draufgetreten. Mit einem flauen Gefühl im Magen erkannte Mulcahy das knallige Motorola-Handy sofort.

»Nein, das ist Siobhans.«

Zum ersten Mal sah Cassidy aus, als würde er Mulcahy zumindest im Ansatz glauben. »Sind Sie sicher?«

Mulcahy nickte. »Ihr Wagen, ihr Handy – was meinen Sie? Und Sie wissen doch, dass noch ein Mädchen entführt wurde, stimmt’s?«

»Verdammte Scheiße«, keuchte Cassidy. Er musterte das Handy in seiner Hand noch einmal, dann sah er sich in der Garage um, als die Vernunft langsam die Oberhand über seine Skepsis gewann.

»Dieser Kerl, Rinn, benutzt Taxis, um sich seine Opfer zu suchen. Eins ist ein Großraumtaxi. Und sehen Sie sich die Säcke an«, sagte Mulcahy und deutete in die Ecke. »Erinnert Sie das an irgendwelche Fasern, die Sie in letzter Zeit gesehen haben?«

Cassidys Augen verengten sich, als er den Haufen ansah, dann stieß er plötzlich einen Fluch aus und schoss durch die Garage. »Was zum Teufel ist das?«, rief er.

Er hatte seine Frage aber schon beantwortet, indem er ein paar leere Säcke zur Seite zog, worauf erst ein Fuß, dann ein Bein und dann ein ganzer Körper zum Vorschein kam. Mulcahy lief zu ihm. Vor ihnen lag ein kräftiger, bärtiger Mann. Auf den ersten Blick war kein Lebenszeichen zu erkennen. Mulcahy kniete sich neben ihn und prüfte seine Atmung.

»Er lebt noch. Fassen Sie an, schnell.«

Gemeinsam drehten sie den Mann in die stabile Seitenlage. Eine triefende Kopfwunde zeigte eindeutig, dass ihn jemand von hinten mit einem schweren, scharfkantigen Gegenstand geschlagen hatte. Seitdem war auch schon eine ganze Zeit vergangen, wenn man die große Blutlache betrachtete, die auf dem Boden gerann.

»Ein Pressefotograf?«, vermutete Cassidy und deutete auf die Profikamera, die neben dem Mann lag. »Wahrscheinlich sind sie zusammen hergekommen, und er hat sie überrascht.«

»Ja«, sagte Mulcahy und versuchte, sich vorzustellen, wie die Szene sich in der Garage abgespielt hatte. »Aber was ist mit Siobhan?«

»Ich ruf einen Krankenwagen«, sagte Cassidy und stand auf. Dabei fiel ihm jedoch noch etwas in der Garage ins Auge. Er bückte sich und untersuchte einen Ölfleck auf dem Boden. »Hier muss der Wagen gestanden haben. Vor nicht allzu langer Zeit stand hier jedenfalls ein Fahrzeug. Glauben Sie, dass er sie irgendwo anders hingebracht hat? Weil er wusste, dass man ihn entdeckt hatte?«

»Genau das fürchte ich«, sagte Mulcahy. »Der Lieferwagen ist seine mobile Folterkammer. Trotzdem müssen wir uns hier erst mal richtig umsehen. Das andere Mädchen wird ja auch noch vermisst, also kann er auch beide im Haus versteckt haben.«

Mulcahy stand auf, nahm eine Taschenlampe aus dem Regal und versuchte verzweifelt, sich irgendetwas einfallen zu lassen. Als Cassidy sein Telefonat beendet hatte, hatte er zumindest einen Plan. »Am besten sagen Sie auch Brogan Bescheid, damit die Kavallerie uns zu Hilfe eilen kann. Ich geh zurück ins Haus und seh nach, ob ich etwas finde.«

Mulcahy rannte los und rief dabei Siobhans Namen. Er trommelte gegen die Haustür und spähte in die Kellerfenster. Das einzige Ergebnis war jedoch, dass das Licht im Nachbarhaus angestellt wurde. Er lief zum Durchgang zwischen der Remise und dem Haus. Die Holzpforte war abgeschlossen, nachdem er aber die Schulter kräftig dagegengestemmt hatte, sprang sie auf und knallte gegen die Wand. Er rannte weiter und schrie dabei aus vollem Hals Siobhans Namen.

Die Welt war pechschwarz, und alles außer dem stechenden Schmerz schien weit weg und gedämpft zu sein. Einzig wichtig war nur der Schmerz, der sie wie eine Klinge aus weißem Licht verfolgte, sie in der Ecke quälte, in der sie sich, in dem verzweifelten Versuch, ihm zu entkommen, zusammengerollt hatte. Heulend vor Angst betete sie, lieber zu sterben, als dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Dann klopfte es laut. Eine Glocke ertönte. Es klopfte noch lauter. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich in dem Bemühen, sich noch kleiner zu machen, damit diese neuen Höllenqualen sie nicht fanden.

Dann wurde es wieder ruhig, und sie schwankte zwischen Ohnmacht und unbeschreiblicher Angst. So verging vielleicht eine Stunde, vielleicht aber auch nur eine Minute. Wieder klopfte es. Dann ein Krachen, das die Luft um sie herum wie ein Donner erzittern ließ. Sie versuchte, sich noch kleiner zu machen, spürte, wie ihr Herz hämmerte. Ihre Rippen schmerzten, so dass sie hastig und sehr flach atmen musste. Dann hörte sie eine Stimme. Nicht die Stimme. Nicht die Stimme, die sie ebenso sehr fürchtete wie den Schmerz. Die Stimme, die den Schmerz bedeutete. Und ihr Name wurde gerufen. So weit weg, doch so ähnlich, sie war sicher, dass es ihr Name war. Irgendwo in der Tiefe der erstickten Gefühle löste sich eine Hoffnungsblase und stieg an die Oberfläche.

Sie versuchte, sich daran zu klammern, mit ihr aufzusteigen. Sie versuchte zu antworten, sich der Stimme erkennen zu geben. Ihre einzige Angst war jetzt, dass sie wieder verschwinden und sie hier einfach zurücklassen würde. Doch sie bekam keinen Laut heraus. Sie versuchte es noch einmal und würgte dann, weil sie zu spät merkte, dass sie etwas im Mund hatte, das sie nicht nur vom Schreien abhielt, sondern ihr auch den Atem nahm. Dann erinnerte sie sich wieder an ihre Arme und Beine, die sie vollkommen vergessen hatte, und stellte fest, dass sie sich bewegen ließen. Und durch eine Woge des Schmerzes zwang sie sich, sich auf den Rücken zu rollen, und dort, über ihr an der Wand, sah sie ein Fenster, auf das gelbes Licht fiel. Es war so nah, dass sie es beinahe berühren konnte.

Wieder hörte sie ihren Namen, so laut und klar, dass sie antworten musste, obwohl sie wusste, dass das nicht ging und der Schrei am Knebel in ihrem Mund abprallen würde. Aber sie wusste auch, dass es zu spät war, dass sie an ihren eigenen Schreien erstickte. Dass sie husten, kotzen und würgen und hier in diesem Loch wie eine Ratte sterben würde. Ein verzweifelter Krampf erschütterte ihren Körper, und unwillkürlich, ohne darüber nachzudenken, schlugen ihre Gliedmaßen aus. Und als sie um einen letzten Atemzug kämpfte, schlug ihr Arm auf eine harte Kante, dann auch ihr Knöchel, und ein unmenschlicher Schmerz zuckte durch ihre Knochen, es krachte und knallte, die ganze Welt brach über ihr zusammen, und sie wusste, dass alles vorbei war und wie sich der Tod anfühlte.

Mulcahy dachte erst, dass Cassidy die Sache selbst in die Hand genommen und eins der Fenster an der Hausfront eingeschlagen hatte. Aber dann hörte es nicht auf zu krachen, und er merkte, dass es aus dem Hausinneren kam. Aber von wo? Er wollte gerade nach vorne laufen, als ein letzter Knall ertönte und seinen Blick nach unten lenkte. Dort befand sich direkt über dem Boden ein kleines Fenster. Er beugte sich herunter, um hineinzusehen, doch das Glas reflektierte den Strahl der Taschenlampe.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cassidy, der durch den schmalen Gang neben dem Haus auf den am Boden kauernden Mulcahy zukam.

»Ja, aber ich bin sicher, dass ich da unten was gehört habe, nachdem ich Siobhans Namen gerufen hatte. Da muss ein Keller sein. Ich weiß nur nicht, wie man da reinkommt.«

Wieder leuchtete er mit der Taschenlampe an der Unterkante der Wand entlang, wobei er zum ersten Mal bemerkte, dass das Gelände zum Garten hin leicht abfiel. Dann erinnerte er sich, dass man vom Wohnzimmer ein paar Stufen hinuntergehen musste, um in den Garten zu gelangen. Ohne ein Wort zu sagen, sprang er auf und lief zur Rückseite des Hauses. Cassidy folgte ihm. Ein paar Sekunden später suchte er im Taschenlampenstrahl die Seite neben der Treppe ab und entdeckte eine mit einem Vorhängeschloss gesicherte Holztür. Er trat die Tür ein und sprang in den Raum dahinter, sah aber nur Dreck, Ruß und Gartengeräte und kein Zeichen von Siobhan oder einer anderen Person. Cassidy kam hinterher und entdeckte einen Lichtschalter. Erst da bemerkte Mulcahy die andere Tür an der Rückwand. Mulcahy lief hin, riss sie auf, und das Licht aus dem Abstellraum erhellte auch diesen sehr viel größeren Raum etwas, so dass er einen primitiven Käfig erblickte und einen riesigen Metalltisch, der wie eine Werkbank aussah. An den Wänden hatte sich der Dreck mehrerer Generationen gesammelt. In der linken Ecke unter einem kleinen Fenster, umgeben von einer wabernden Staubwolke lag etwas, das wie eine zusammengebrochene Anrichte aussah. Überall darum herum lagen umgekippte Kisten und das, was darin war: zerbrochene Flaschen und Gläser, ein riesiges, auf dem Betonboden zersprungenes Porzellanservice. Darunter ragte wieder einmal ein Bein hervor, dieses Mal ein nacktes Frauenbein.

»Siobhan!« Mulcahy sprang hin und zerrte mit aller Kraft verrottete Holzbretter und -platten zur Seite. Cassidy kam ihm zu Hilfe. Nachdem sie die schwersten Teile von ihr genommen hatten, stieg Wut in ihm auf, als sie ihren Unterkörper freilegten und er durch den Schmutz und Staub die schrecklichen Wunden sah, die man ihr auf dem Bauch und auf den Oberschenkeln zugefügt hatte. Aber selbst als sich sein Magen fast umdrehte bei dem Gedanken an die Schmerzen, die sie erlitten haben musste, merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Form der Hüfte, die Armlänge. Die Haare waren auch nicht dunkel genug. Als er die letzten Porzellanscherben von ihrem Gesicht entfernte, konnte er es deutlich erkennen: Sie war es nicht. Es war nicht Siobhan. Panik erfasste ihn, doch der Polizist in ihm unterdrückte sie, als er das Klebeband vom Mund entfernte und dann ein Augenlid hochzog, um zu sehen, ob die Frau noch lebte. Mit einem gekrümmten Finger säuberte er ihren Mund von Kotze, Staub und Dreck, dann drückte er seine Lippen auf ihre und versuchte verzweifelt, dieser Frau, die nicht Siobhan war, wieder Leben einzuhauchen, weil sie gerettet werden musste.

Sie fanden ihren Namen auf einem Studentenausweis in einer abgeschabten, rosafarbenen Handtasche auf der Werkbank: Shauna Gleeson, eine Kunststudentin im zweiten Studienjahr am University College Dublin. Daneben lag eine Tasche, die Mulcahy für Siobhans hielt, in der sich ein Diktiergerät befand, und dann, was seine Angst bestätigte, ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis und den Visitenkarten. Inzwischen hatte er schon einen großen Hammer aus dem Regal neben der Werkbank genommen, rannte raus, dann die Treppe hinauf und schlug die Glastüren zu Rinns Wohnzimmer ein. Cassidy folgte ihm mit dem zitternden Mädchen im Arm, das er in seine Jacke gehüllt hatte. Sie mussten etwas Wärmeres finden, eine Decke, ein Feuer. Mulcahy sah in den anderen Räumen im Erdgeschoss nach, entdeckte eine weiche Picknickdecke auf einem Küchenstuhl, warf sie Cassidy zu, der das Mädchen aufs Sofa setzte, dann stürmte er die Treppe hinauf. Nach wenigen Minuten hatte er jedes Zimmer des riesigen, dreistöckigen Hauses überprüft. Von Siobhan Fallon war nichts zu sehen. Von Rinn auch nicht.

Im Obergeschoss entdeckte er jedoch ein kleines Zimmer, das wie eine Privatkapelle eingerichtet war. Auf einer Seite stand ein schmaler Tisch, der als Altar diente, mit einem bestickten Leinentuch, Kerzen und einem großen, goldenen Tabernakel. Darüber erleuchtete ein dünner, flackernder Lichtstrahl ein vergilbtes Herz-Jesu-Bild. An einer anderen Wand hing ein verblichenes Seidenbanner, auf das in fünfzehn Zentimeter großen Buchstaben in einem geschwungenen Bogen die Worte KONGREGATION VOM KOSTBAREN BLUT eingestickt waren. Es jagte Mulcahy eine Heidenangst ein, sagte ihm aber nichts. Wenn dies Rinns Versteck war, sein verborgenes Heiligtum, dann konnte er hoffen, hier zu finden, was er suchte. Mulcahy ging auf den provisorischen Altar zu. Auf dem gestärkten, weißen Leinentuch standen nur Kerzenhalter und ein kleines Holzkreuz mit einem grauen Zink-Jesus, der mit gezackten Nägeln daran befestigt war. Der Tabernakel hingegen war außergewöhnlich extravagant: groß, fast einen halben Meter hoch und reich mit Silber und Blattgold verziert. Allein der Anblick reizte Mulcahy, sich zu bekreuzigen, und rief starke Erinnerungen an seine kurze Phase als Ministrant wach. Vorne war eine goldverzierte Rosette über der Flügeltür, auf beiden Seiten flankiert von silbernen Heiligen, einer mit einem Buch in der Hand, der andere mit einem Schwert. Auf einem Fries, der das Ganze umrahmte, war immer wieder das Wort Sanctus eingraviert.

Mit einem Taschentuch drehte Mulcahy behutsam den Schlüssel um, der aus dem Loch in der Mitte der Rosette herausragte, dann öffnete er beide Halbtüren mit einem Kugelschreiber. Drinnen glitzerte ein silberner Kelch mit vergoldetem Inneren. Dass er sich jedoch mit ungläubigem Blick atemlos weiter hineinbeugte, lag an dem, was hinter dem Kelch lag: sechs Holzkruzifixe, die genauso aussahen wie das vor dem Altar. An jedem dieser Kruzifixe hing allerdings ein weiteres Kreuz an einer Kette, das vor die Christusfigur drapiert war. Eins davon war ebenso groß wie das Holzkreuz, an dem es hing, mit abblätternder Goldfarbe bemalt und bunten Glasperlen geschmückt. Mulcahy nahm an, dass es sich um Grainne Mullins’ »Versace«-Kreuz handelte. Ein anderes, nicht ganz so großes, schlicht und aus Messing, war vermutlich das »Pfarrerskreuz«, das Caroline Coyle verloren hatte. Weiter vorne sah er ein fein gearbeitetes Goldkreuz, das an allen Spitzen große Brillanten hatte, und wusste, dass es das von Jesica Salazar sein musste. Er nahm an, dass die anderen Catriona Plunkett, Paula Halpin und wahrscheinlich Shauna Gleeson gehört hatten.

Aber an dem Kruzifix draußen auf dem Altar hing noch kein Kreuz. Offenbar war jedoch alles dafür vorbereitet. Mulcahy schluckte.

Er sah sich noch einmal um. Der Raum verriet ihm alles, was er über Rinn wissen musste, außer der einen Tatsache, die im Moment am wichtigsten war: Wo zum Teufel hatte er Siobhan hingebracht? Von draußen hörte er leises Sirenengeheul, dann rief ihn jemand von unten. Er lief aus dem Raum, doch als er im Erdgeschoss ankam, stand Cassidy schon im Schein der Blaulichter an der offenen Haustür, dirigierte einen Sanitäter in seinem gelb-grünen Overall nach hinten ins Wohnzimmer und schickte den anderen in die Garage, damit er sich um den Mann dort kümmerte.

»Wie geht’s dem Mädchen?«, erkundigte sich Mulcahy.

»Nicht gut. Das arme Kind«, sagte Cassidy, der jetzt selbst etwas blass war. Beide traten zurück, als eine weitere Sanitäterin mit krächzendem Walkie-Talkie an ihnen vorbeilief.

»Haben Sie da oben was gefunden?«, fragte Cassidy.

Mulcahy nickte. »Eine Art private Kapelle. Mit jeder Menge religiösem Zeug. Gar keine Frage, dass er es war. Die Kreuze der Mädchen sind da oben. Als Trophäen. Aber ich kann nichts finden, was er Siobhan abgenommen haben könnte.«

»Haben Sie das Zeug hier gesehen?« Cassidy öffnete die schwere Holztür zum Speiseraum. Mulcahy hatte schon vorher einen kurzen Blick hineingeworfen, war dann aber schnell weitergegangen, als er das Gesuchte nicht gefunden hatte. Cassidy deutete auf den langen Mahagoniesstisch, auf dem jede Menge Papiere lagen. Einer der Stühle war vom Tisch nach hinten geschoben worden, als wäre jemand hastig aufgesprungen und gegangen.

»Ich hab mir gedacht, dass er sich das vielleicht gerade angeguckt hat, als Fallon und ihr Fotograf angekommen sind«, sagte Cassidy. »Von hier kann man sehen, wenn jemand in die Einfahrt kommt.«

Tatsächlich konnte man von diesem Platz durch das große Erkerfenster den größten Teil des Vorgartens, das Einfahrtstor und einen Teil der Garage überblicken. Cassidys Handy klingelte, woraufhin er in den Flur trat. Die einzigen Worte, die Mulcahy noch hörte, lauteten: »Ja, Chef, das stimmt.« Mulcahy ging zum Tisch und versuchte festzustellen, was Rinn dort gemacht hatte. Auf der polierten Oberfläche lagen mehrere Blatt Papier, ein großformatiges Buch und eine Faltkarte vom Phoenix Park. Mulcahy betrachtete die Karte, sah aber nichts Ungewöhnliches. Die meisten Papiere waren Fotokopien. Als er ein paar umdrehte, sah er, dass es Vergrößerungen einzelner Sätze aus religiösen Texten waren. Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt, samt den Leidenschaften und Begierden. (Gal. 5,24) und Darum tötet, was irdisch an euch ist … All das zieht den Zorn Gottes nach sich. (Kol. 3,5–6) Angewidert schob er sie zur Seite und zog das Buch heran. Es war ein Hochglanzbildband zur Erinnerung an den Papstbesuch 1979 in Irland. Auf dem Umschlag war ein Bild, das Mulcahy kannte: ein Porträt von Papst Johannes Paul II. in seiner strahlenden grünen, weißen und goldenen Robe, der seinen Kreuzstab hochhielt. Mulcahy schlug eine Seite des Buchs auf, in der als Lesezeichen ein altes Foto steckte. Auch das Bild auf der großen Doppelseite kannte er: eine von einem Kran aus gemachte Aufnahme der riesigen Menschenmenge, die den großen hochgestellten Altar im Phoenix Park umringte. An hohen Stangen flatterten Fahnen im Wind, und alles wirkte winzig vor dem gigantischen Kreuz im Hintergrund.

Mulcahy sah das Foto an, das als Lesezeichen im Buch lag. Die alten Polaroid-Farben waren schon ziemlich ausgebleicht. Es zeigte eine Gruppe etwa zehnjähriger Jungen und Mädchen, die unbehaglich in die Kamera starrten. Sie sahen aus, als wären sie aus einem Katastrophengebiet dorthin gekarrt worden. Einige saßen in Rollstühlen, andere gingen an Krücken, allen gemeinsam war jedoch, dass sie mindestens ein Körperteil in Gips hatten. Am Rand der Gruppe meinte Mulcahy den jungen Sean Rinn zu erkennen, einen traurig dreinblickenden Jungen mit Bürstenschnitt und krampfhaft zu einem Lächeln hochgezogenen Mundwinkeln. Unter dem weit offen stehenden Hemd und einer Strickjacke war sein ganzer Oberkörper vom Kinn bis zum Gürtel der ordentlich gebügelten Hose in Verbandsmaterial gewickelt. Im Hintergrund sah man die gleiche riesige Menschenmenge vor dem Altar, die auch im Buch abgebildet war. Er drehte das Foto um. Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: Kongregation vom Kostbaren Blut, Phoenix Park, 29. Sept 1979.

Als er hinter sich Schritte hörte, drehte er sich um.

»Brogan ist unterwegs«, sagte Cassidy. »Sie meinte, ein paar von den anderen werden vermutlich eher eintreffen. Sie muss erst aus Tallaght herkommen.«

Mulcahy nickte: »Haben Sie irgendeine Idee, was hinter der Kongregation vom Kostbaren Blut steckt?«

Cassidy blinzelte verständnislos. Mulcahy hielt das Foto hoch, deutete auf Rinn und zeigte ihm dann, was auf der Rückseite stand. »Den Namen hab ich oben auch schon mal auf einem Banner gesehen.«

»Das ist so eine Vereinigung«, sagte Cassidy. »Für Leute, die an Feiertagen und zu bestimmten Jahreszeiten besondere Andachten, Gebete und Messen feiern. Bei der geht es dann wohl darum, des kostbaren Blutes Christi zu gedenken, das Jesus am Kreuz zur Rettung der Menschheit vergossen hat.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich wurde von den Christlichen Brüdern unterrichtet. Bei denen mussten wir den ganzen Kram über Feiertage und Kongregationen auswendig lernen. Haben sie uns eingeprügelt. Wenn ich mich recht erinnere, ist das Fest des kostbaren Blutes nicht an ein festes Datum gebunden, sondern fällt immer auf den ersten Sonntag im Juli. Also jetzt.«

Mulcahy brauchte das Datum auf seiner Uhr nicht zu überprüfen, tat es aber unwillkürlich. »Das ist morgen«, sagte er, und irgendwie fühlte er sich mit diesem Wissen nicht besser.

Cassidy hob die Hände, ging an ihm vorbei und trat an den Tisch.

»Wieso gucken Sie sich das ganze Zeug an?«, fragte er spitz. »Ich dachte, das hier würde Sie interessieren. Brogan wird’s auf jeden Fall.« Er schob das Buch und die Fotokopien beiseite und schaffte Platz für die Karte vom Phoenix Park. Es war eine alte Ordnance-Survey-Karte in ausgezeichneter Druckqualität. Cassidy tippte mit dem Finger auf die linke Seite, wo mit einem Bleistift das y von Furry Glen eingekreist war und die eng aneinanderliegenden Höhenlinien die Senke anzeigten, in der Paula Halpins Leiche gefunden worden war.

»Er steht echt mit heruntergelassenen Hosen da«, sagte Cassidy, doch Mulcahys Blick war auf eine andere Stelle der Karte gefallen, ein Stück leere Parklandschaft ohne Bleistiftmarkierung, eine große Grünfläche, über die ihr Name »Fifteen Acres« gedruckt war. Unter den Namen, kaum von den Druckbuchstaben darüber zu unterscheiden, hatte jemand in winziger Schrift die Worte Deus non irridetur geschrieben. Ihm stockte das Herz. Es war die gleiche Nachricht, die Siobhan bekommen hatte: Gott lässt sich nicht verspotten.

In Mulcahys Kopf rotierte alles, schien dann fast zum Stehen zu kommen, und beinahe hätte er es verstanden, doch dann wurde alles wieder überschwemmt von einem neuen Schwall Informationen, die er nicht so schnell verarbeiten konnte. Bruchstückhafte Bilder von Siobhan im Fernsehen, von Orten und Daten, von Dornenkronen, gezackten Nägeln und dem Blut Christi. Es gab sehr viele Möglichkeiten, aber keine von ihnen war plausibel.

»Er muss mit Paula Halpin etwas vorgehabt haben«, sagte Mulcahy. »Aber das hat nicht funktioniert. Sie sagten doch, sie hätte Herzprobleme gehabt, oder? Vielleicht hat sie die Herzattacke bekommen, als er sie überfallen hat, und er hat das erst gemerkt, als es schon zu spät war. Also hatte er ihre Leiche da untergebracht, wo er sie eigentlich brauchte, sie wurde aber entdeckt. Daraufhin ist er losgezogen und hat sich ein anderes Mädchen geholt, doch im letzten Moment hat das Schicksal zugeschlagen und ihm jemanden präsentiert, der noch besser in seinen Plan passte.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Cassidy und sah ihn an.

»Es muss ihm wie ein Wunder vorgekommen sein: Siobhan Fallon kommt einfach so die Einfahrt hereinspaziert.« Mulcahy schwieg schwer atmend und dachte noch einmal darüber nach, ob er die Einzelteile im Kopf auch richtig zusammengesetzt hatte. »Was sagt Ihnen das?«, fragte er und deutete auf die Fifteen Acres auf der Karte.

»Da ist nichts«, sagte Cassidy. »Nur Gras.«

»Aber das ist eine alte Karte, stimmt’s?«, sagte Mulcahy. »Was ist da jetzt? Was steht da seit dreißig Jahren? Seit 1979? Was ist da, wenn man es zu dem ganzen anderen Mist hier in Beziehung setzt?«

Dann dämmerte es auch Cassidy, worauf er kurz nach Luft schnappte und ein kehliges »Scheiße!« ausstieß.

Doch Mulcahy war schon auf dem Weg zur Tür und viel zu panisch, um darauf zu achten, ob Cassidy ihm folgte.

Mulcahy registrierte die Stadt kaum, als er durch das alte Dublin hetzte, die letzten Reste des abendlichen Verkehrs in Rathmines hinter sich ließ, über die Brücke des Grand Canal raste und weiter an den beleuchteten Spitzen von St. Patrick’s Cathedral vorbei, bis er unter jaulendem Protest der gequälten Reifen am Merchant’s Quay vor dem Fluss scharf nach links abbog. Dann trat er das Gaspedal ganz durch und nahm die Hand nicht mehr von der Hupe, während sie auf den Park zurasten und auf das Wohlwollen des Schicksals sowie auf die Nüchternheit der anderen Fahrer hofften, damit ihnen niemand in die Quere kam. Cassidy, der es gerade noch auf den Beifahrersitz geschafft hatte, bevor Mulcahy mit dem Saab losgeschossen war, schwieg fast die ganze Fahrt über, wobei er eine Hand als Stoßdämpfer zwischen das Autodach und seinen Kopf hielt, jedes Mal fluchte, wenn ein Rad in ein Schlagloch knallte, und die Straße vor sich mit der Konzentration eines Mannes beäugte, der schon viele Verfolgungsjagden mitgemacht hatte und nicht ein einziges Mal Spaß an dieser Erfahrung gehabt hatte. Mulcahy bemerkte ihn kaum, oder, falls doch, kümmerte er sich nicht um ihn. Er war voll und ganz damit beschäftigt, den irischen Geschwindigkeitsrekord für Landfahrzeuge zu brechen. Er raste die Quays entlang, bis er schließlich Heuston Station erreichte und noch ein paar Millimeter Profil auf der Straße ließ, als er nach Norden über die Brücke, die Parkgate Street hinauf und zwischen den monumentalen Steinsäulen hindurch in den Phoenix Park raste.

»Wollen Sie nicht einmal wissen, warum?«, sagte Cassidy schließlich, als sie blindlings in den dunklen Park schossen. Mulcahy schaltete das Fernlicht ein und sah ihn kurz an, gerade so lange, wie er Zeit hatte, bis er den Wagen durch einen Kreisel bugsieren musste.

»Nein«, sagte er kalt. »Sie haben mich in die Scheiße reingeritten. Warum sollte ein Grund, ganz egal, ob er gut oder schlecht ist, mich da interessieren.«

»Vielleicht ist dies auch nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte Cassidy. Und Mulcahy grunzte nur, als er das Gaspedal wieder durchtrat, anderthalb Kilometer die schnurgerade Fahrbahn entlangraste, bis er am Phoenix Monument das Lenkrad scharf nach links einschlug und durch die noch tiefere Dunkelheit der Acres Road schoss. Ohne jede Vorwarnung schaltete er die Scheinwerfer aus, bremste und ließ den Wagen in schwarze Bewegungslosigkeit rollen. Mulcahy unterbrach Cassidys überraschtes Keuchen mit einem bestimmten »Psst!«. Er beugte sich vor, versuchte den Weg vor sich zu erkennen und lenkte den Wagen in eine schmale Zubringerstraße. Dort verlangsamte er bis auf Schneckentempo. Dünne Birken ragten wie endlos gespiegelte Gitterstangen empor und versperrten ihnen nach vorne und rechts die Sicht. Links von ihnen erstreckte sich die weitläufige Rasenfläche in Richtung Süden, und die Lichter der Vororte glitzerten am Horizont wie tief am Himmel stehende Sterne. Vor einer rot-weißen, geschlossenen Metallschranke hielt er an.

Genau in diesem Moment, als hätte eine höhere Macht beschlossen, sie zu unterstützen, teilte sich die dichte Wolkendecke, und ein großer Mond erleuchtete die sie umgebende Landschaft. Als sie so über einen riesigen, leeren Parkplatz blickten, schienen beide Männer von dem, was sich in der Ferne zeigte, vor Ehrfurcht ergriffen zu sein: ein steiler, grasbewachsener Hügel erhob sich aus der Ebene, mit einer langen Treppe an einer Seite und dem riesigen Metallkreuz, das sich fünfzig, vielleicht sechzig Meter in den Nachthimmel reckte, die beiden Arme stolz ausgebreitet, deren kalter, harter Stahl im Mondlicht weiß glänzte. Und am Fuß der Treppe stand – noch exponierter, als sie es waren – ein einsamer, weißer Lieferwagen.

»Da ist er.« Mulcahy wandte sich an Cassidy, und seine Stimme überschlug sich vor Anspannung.

»Was zum Teufel hat er vor?«, flüsterte Cassidy. Aber beider Vorstellungskraft reichte nicht, um sich das auszumalen.

»Sehen Sie da jemanden?«, fragte Mulcahy. Er wusste jedoch, dass es zu weit weg war. Aus dieser Entfernung verschwamm der Fuß des Kreuzes in der Dunkelheit. »Vielleicht sind sie noch im Lieferwagen, wir müssen schnell hin. Zu Fuß, sonst bemerkt er uns, und dann haben wir es mit einer Geiselnahme zu tun.«

Mulcahy öffnete die Tür, doch Cassidy legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Warten Sie. Ich ruf eben noch Verstärkung, dann gehen wir los.«

Geduckt liefen sie am Südrand des Parkplatzes entlang, waren dort vor dem dunklen Gras so gut wie unsichtbar, weil sich die Wolkendecke wieder geschlossen hatte. Anfangs schien jeder Schritt, jeder Atemzug ihre Anwesenheit herauszuschreien, doch dann gewöhnten sie sich daran. Und als sich das Kreuz immer näher vor ihnen erhob, hörten sie im Wind auch andere Geräusche als ihre eigenen. Seltsame Geräusche: ein unregelmäßiges metallisches Hämmern und ein schwaches Klirren, das Mulcahy an eine Bö erinnerte, die durch die Takelage blies. Als sie sich dem Fuß des Hügels näherten, winkte er Cassidy mit der flachen Hand, damit er sich duckte, worauf sich beide auf dem Rasen niederkauerten und den nur noch etwa zwanzig Meter entfernten Lieferwagen nicht aus den Augen ließen. Darin rührte sich nichts. Das Hämmern über ihnen stoppte, und sie hörten, wie etwas Schweres über eine Betonfläche gezogen wurde, bevor der Wind dieses Geräusch wieder davontrug.

»Was immer er auch macht, das passiert alles da oben«, flüsterte Mulcahy und deutete auf den Hügel.

»Ich gehe auf dieser Seite die Grasböschung rauf und guck mir das an. Sie gehen zum Lieferwagen und kümmern sich um Siobhan, wenn sie da drin ist. Wenn nicht, kommen Sie die Treppe rauf und helfen mir da oben. Wenn er mich sieht und abhaut, wird er Ihnen entgegenkommen. Okay?«

Mulcahy sah Cassidy noch einen Moment hinterher, als der zum Lieferwagen schlich, dann fing er an, den Hügel hinaufzuklettern. Der Wind nahm zu, und die Böschung war steiler, als es von unten ausgesehen hatte. Er spürte das kalte, feuchte Gras an seiner Hand, das immer glitschiger wurde, je mehr er versuchte, festen Halt zu finden. Als er sich dem Rand näherte, blickte er nach oben. Die Last und Erhabenheit des aufragenden Stahlkreuzes schienen ihn niederzudrücken. Dann sah er etwas Seltsames. Vor dem Nachthimmel pendelten zwei lange Seilschlaufen im Wind, eine an jedem Balken. Da begriff er, woher das Klirren kam, das er gehört hatte. Aber bevor er verstanden hatte, wozu die Seile dienten, sah er, dass sie sich plötzlich spannten und direkt vor dem Pfahl des Kreuzes ein langes, dunkles Bündel in ruckartigen Bewegungen nach oben wanderte. Als die Wolkendecke noch einmal aufbrach, erleuchtete der Mond wieder die Szene. Und Mulcahys schlimmste Befürchtungen wurden wahr. Über ihm fand eine groteske Kreuzigung statt. Siobhan Fallons nackter, lebloser Körper war an einem primitiven Holzkreuz befestigt, das wiederum mit den Seilen an den Stahlbalken hing. Siobhans Hände und Füße waren blutverschmiert. Unter ihrer rechten Brust lief Blut aus einer horizontalen Wunde auf ihren Bauch. Auf ihrem schlaff herabhängenden Kopf lag etwas, bei dem es sich nur um eine Dornenkrone handeln konnte.

Für den Bruchteil einer Sekunde war Mulcahy von dem Anblick vollkommen gelähmt, und Angst und Erschöpfung drohten die Oberhand zu gewinnen. Aber er hatte keine Zeit zum Überlegen, und etwas – er konnte nicht sagen, ob es seine Ausbildung oder ein innerer Impuls war – zwang ihn, die letzten beiden Meter hochzuklettern und auf die breite Betonplattform zu laufen. Sechs bis sieben Meter vor ihm, an der Basis des Kreuzes, stand Sean Rinn und zog, eine Hand nach der anderen, seine obszöne Kreuzigungsszene immer weiter am großen Kreuz in die Höhe. Er trug offensichtlich eine Kletterausrüstung mit Metallösen und Karabinerhaken an einem Brustgurt. Mulcahy interessierte aber vor allem das, was er in der Hand hatte: ein Stück straff gespanntes Seil, das in die Nacht hinaufführte und dann über ein kompliziertes Haltesystem zurück zu einem Haken im Betonboden vor Rinns Füßen.

Sollte er ihn überraschen? Mulcahy fragte sich, wo Cassidy blieb, konnte aber nicht länger warten. Er trat auf die offene Betonfläche und versuchte, in Rinns Rücken zu bleiben. Doch bevor er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, musste Rinn seine Anwesenheit gespürt haben, denn er drehte sich um, worauf zuerst Panik, dann auch Erkennen sein Gesicht verzerrten.

»Stopp – keine Bewegung«, knurrte er. »Wenn ich loslasse, fällt sie. Und das überlebt sie nicht.«

Mulcahy rührte keinen Muskel, doch der Funke der Hoffnung entfachte in seiner Brust ein Lodern wie bei einer defekten Gasleitung. Sie lebte.

»Ach kommen Sie, machen Sie keine Dummheiten«, schrie Mulcahy in den Wind. »Machen Sie es nicht noch schlimmer. Lassen Sie sie runter. Es ist noch nicht zu spät.«

»Halten Sie den Mund«, schrie Rinn ihn an. »Seien Sie ruhig, oder ich lass sie fallen. Dann haben Sie sie auf dem Gewissen, nicht ich.«

Mulcahy riskierte es, einen Schritt weiterzugehen, aber das war ein Schritt zu viel. Rinn brüllte ihn an und ließ das Seil los. Als es durch seine Hand lief, stürzte Siobhan mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Betonboden zu. Dann, ebenso plötzlich, griff Rinn wieder zu und hielt das Seil fest. Auf das dumpfe Rums folgte ein lautes Stöhnen von oben. Mulcahy erstarrte, als Blutspritzer um sie herum auf den Beton prasselten.

»Okay, Sean, sehen Sie, ich bin stehen geblieben«, sagte Mulcahy, so ruhig er konnte, obwohl sein Gehirn vor Angst wie gelähmt war und er verzweifelt nach Worten suchte, die Rinn dazu brachten, das Seil festzuhalten. »Ich will Ihnen nur helfen, das Richtige zu tun. Ich weiß, dass Sie das Mädchen, Paula, nicht töten wollten. Und Siobhan da oben wollen Sie auch nicht töten, stimmt’s? Sie hat doch nichts getan, wodurch sie es verdient hätte, oder?«

»Verdient?«, brüllte Rinn. »Sie ist die schlimmste Hure von allen. Sie trägt das Symbol von Christus’ Opfer am Hals, während sie ihren Schmutz über alles und jeden ausgießt. Ich hab es ihr gesagt. Ich habe es allen gesagt, dass Gott sich nicht verspotten lässt. Aber haben sie mir zugehört? Doch jetzt werden sie mir zuhören …«

Etwas in Mulcahys Miene musste ihn verraten haben, vielleicht ein Blinzeln, denn Rinn wirbelte plötzlich herum und sah Cassidy von der Treppe auf der anderen Seite der Plattform auf sich zukommen.

»Stehen bleiben oder sie stirbt«, brüllte Rinn, dessen Blick zwischen Cassidy und Mulcahy hin- und hersprang, wobei ihm vor Angst fast die Augen aus dem Kopf fielen. Mulcahy wusste, dass er keine bessere Chance bekommen würde, und stürzte sich auf ihn. Doch er war nicht schnell genug, um die Strecke rechtzeitig zu überwinden. Rinn ließ das Seil los und rannte davon.

Für Mulcahy war es keine Frage. Er wollte das Seil, nicht den Mann. Das Surren der herabfallenden Last, das Zischen des Seils, als es durch die Öse sauste, lag ihm in den Ohren. Aber er erreichte es, packte den Strick, und seine Hand schloss sich um etwas Dünnes, Hartes, Biegsames. Seine Haut versengte unweigerlich durch die starke Reibung, dann wurde sein Handgelenk mit einem lauten Knacken nach hinten gerissen. Die Wucht hätte ihm fast den Arm ausgekugelt – doch er hatte das Seil. Er hatte sie. Jetzt auch mit beiden Händen. Trotz der Schmerzen hielt er sie fest, und Cassidy erschien neben ihm, sagte, dass er das Seil auch hätte, und wenn sie das jetzt langsam und vorsichtig zusammen machten, könnten sie Siobhan sicher die letzten Meter bis zum Boden herunterlassen.

Mulcahy erlebte alles wie durch einen Nebelschleier. Von seinem Handgelenk jagten Schmerzsalven den Arm hinauf, und seine Schulter fühlte sich an, als wäre sie in zwei Teile zerrissen. Als der Pfahl des Holzkreuzes schließlich auf den Boden kam, ließen sie es langsam weiter herabgleiten, bis es flach auf der Rückseite lag. Siobhan war in einem furchtbaren Zustand, so dass sie ihn gar nicht wahrnahm, sondern nur vor sich hin stöhnte und wimmerte. Aber sie lebte. Er ging zu ihr und versuchte, sie in den Arm zu nehmen, um sie ein wenig zu trösten. Cassidy hielt ihn allerdings zurück und deutete auf die Schnüre, mit der ihre Hand- und Fußgelenke ans Kreuz gebunden waren, und auf die groben Eisennägel in ihren Füßen und Handflächen. Er zog seine Jacke aus und legte sie so gut es ging über sie. Aus der Ferne hörten beide, wie eine Schiebetür geschlossen wurde, und blickten auf.

»Um ihn brauchen Sie sich keine Sorgen machen«, sagte Cassidy, der sein Handy in der Hand hielt und schon eine Kurzwahl gedrückt hatte. »Den Lieferwagen kriegt er nicht in Gang, dafür hab ich gesorgt. Außerdem müssten wir jeden Moment Verstärkung bekommen.«

Aber in Mulcahys Kopf ging alles vor Schmerz und Zorn drunter und drüber. Er stand auf und stolperte auf die Treppe zu, war jetzt voll auf den Lieferwagen und den mordenden Irren darin konzentriert, der immer noch versuchte, den Motor zu starten. Auf dem Weg nach unten durchzuckte ihn bei jedem Schritt ein gewaltiger Schmerz. Er hörte das tiefe Heulen der Sirenen und sah die Blaulichter hinter den Bäumen blinken, doch er musste den Kerl als Erster erwischen. Er war erfüllt von gerechtem Zorn. Er war entschlossen, Rache zu üben.

Erst als er den Lieferwagen erreichte, merkte er, dass er nicht in dem Zustand war, als Racheengel für irgendetwas oder irgendjemanden aufzutreten. Ihm war so schon schwindelig, und als er am Griff der Fahrertür zog, schoss eine lähmende Schmerzwelle von der Hand den Arm hinauf in seine Schulter. Rinn saß immer noch am Lenkrad des Lieferwagens, hatte sich jedoch zur Beifahrerseite gebeugt, wo er verzweifelt im Handschuhfach herumwühlte und gleichzeitig mit beiden Beinen mit aller Kraft austrat. Die Fahrertür knallte Mulcahy direkt an Kinn und Brust, so dass er rückwärts ins Gras stürzte. Als er dort lag, wurde alles viel klarer und langsamer, während sich eine neue Welle des Schmerzes von seiner Schulter in jede Nervenzelle seines Körpers ergoss.

Er sah, dass Rinn aus dem Lieferwagen sprang und sich mit einer Pistole in der Hand vor ihm aufbaute – ein uralter, rostgesprenkelter Webley-Revolver, der seinem Großvater gehört haben musste. Mit einem manischen, triumphierenden Lächeln brüllte er das Vaterunser auf ihn herab.

»Vater unser, der Du bist im Himmel,

geheiligt werde Dein Name …«

Der lange Lauf zielte direkt zwischen Mulcahys Augen, und er konnte nicht einmal zum Schutz einen Arm heben.

»Dein Reich komme …«

Instinktiv versuchte Mulcahy, sich von ihm wegzurollen, schaffte es aber nicht, und dann, wie eine himmlische Vision, sah er hinter Rinn einen dunklen Schatten erscheinen. Es war Cassidy mit etwas Schwarzglänzendem, Großem in der Hand – es sah aus wie ein großes Metallkreuz –, und er holte damit aus.

»Dein Wille geschehe …«

Das Letzte, was Mulcahy sah, war, dass Rinn wie ein gesprengter Schornstein zu Boden sackte. Das Letzte, was er hörte, war ein ekelerregendes Knirschen brechender Knochen, Sirenengeheul, quietschende Reifen und Cassidys Fluch über sich:

»Allmächtiger Gott, manche Schwätzer können auch einfach nie das Maul halten.«