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AUCH SPEISEN UND GETRÄNKE KÖNNEN VERWENDET WERDEN, UM MENSCHEN ZU QUÄLEN. DAS ESSEN KANN ÜBERMÄSSIG GEWÜRZT, FLÜSSIGKEITEN KÖNNEN ZU HEISS SEIN. IM DREISSIGJÄHRIGEN KRIEG WANDTEN SÖLDNER DES SCHWEDISCHEN HEERES DEN SCHWEDENTRUNK AN. DEN OPFERN WURDEN MIT EINEM TRICHTER JAUCHE, URIN, KOT ODER ABWASSER EINGEFLÖSST. DIE FLÜSSIGKEITEN VERÄTZTEN DIE SPEISERÖHRE DER GEFANGENEN, VERURSACHTEN ERSTICKUNGSANGST, MAGENSCHMERZEN UND ERZEUGTEN STARKE EKELGEFÜHLE. IM MITTELALTER WURDE LÜGNERN GESCHMOLZENES BLEI IN DIE KEHLE GEGOSSEN. ANALOG VERWENDETE MAN AUCH SIEDENDES ÖL ODER HEISSES PECH. MÜTTER, DIE AM MÜNCHHAUSEN-STELLVERTRETER-SYNDROM LEIDEN, QUÄLEN IHRE KINDER MIT ÜBERWÜRZTEN, VERDORBENEN ODER UNGENIESSBAREN SPEISEN ODER MISCHEN DEN WEHRLOSEN KLEINEN BRECHMITTEL ODER ABFÜHRMITTEL INS ESSEN.
»Du sollst das essen!« Matthias Hase versetzte Isolde Semper einen weiteren Hieb. Er mochte das Geräusch, wenn die Handfläche die feiste Wange traf.
»Das werde ich nicht tun. Und wenn Sie noch so oft zuschlagen!« Die dicke Frau in dem Sessel kochte vor Wut. Er konnte es an ihrer Stimme hören. »Außerdem habe ich Sie heute Mittag im Supermarkt gesehen!«
»Na und? Ich habe Käse gekauft, Sie Fleisch. Glauben Sie, irgendjemand bringt uns miteinander in Verbindung?« Matthias Hase ging um ihren Stuhl herum und betrachtete das hochrote Gesicht. Isolde Semper hatte die Lippen fest zusammengepresst und schnaufte empört. Wahrscheinlich überlegte sie, was als Nächstes passieren würde. Er nahm ihr gegenüber Platz, blendete das Schnaufen aus und dachte nach.
Er hatte viel Mühe in die Vorbereitungen investiert, hatte diesen abnorm fetten Kater hinter der Thuja-Hecke mit einem Stück Räucherlachs in die Falle gelockt und war dann stundenlang mit dem Auto herumgefahren. Alles nur, damit die Alte Zeit hatte, zu realisieren, dass ihr Liebling nicht wiederkam, auch wenn sie noch so lange auf der Terrasse nach ihm rief. Wie ein weiches, warmes Tuch hatte die Dämmerung sich über die Reihenhaussiedlung gelegt und alle Farben gelöscht, bis nur noch ein mattes Grau übrig war. Erst als die ersten Sterne am Nachthimmel aufblinkten, war Matthias Hase losmarschiert, den in einer Reisetasche versteckten Tragekäfig in der Hand. Der Weg hinter den Gärten war stockfinster. Obwohl er zweimal fast gestürzt wäre, war die Dunkelheit willkommen.
Neben der Terrassentür hatte er dann im Schatten der Nacht gewartet, bis sie das enervierende Maunzen ihres fetten Katers gehört und die Tür geöffnet hatte. Es war ein Leichtes gewesen, die schwere Frau in den Raum zurückzustoßen und die Tür zu schließen. »Wenn du schreist, bist du tot!« Die leisen Worte im Zusammenhang mit dem Anblick der Pistole hatten gewirkt. Isolde Semper war ohne einen Mucks in ihre Küche getaumelt und hatte sich auf einen Stuhl plumpsen lassen.
Die Leute waren so dumm. Schreien war das einzige Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen, aber alle glaubten sie, wenn man nur den Kommandos folgte, würde sich alles noch zum Guten wenden.
Und da saß er nun. Mit Isolde Semper an einem Tisch. In fast der gleichen Konstellation wie damals im Heim, nur dass sie die Rollen vertauscht hatten. Die Peinigerin war jetzt das Opfer und er der Strafende.
Die Suppe musste inzwischen fast kalt sein. Aber es ging hier ja nicht um Genuss. Er hatte ihr Bohneneintopf vorgesetzt – weil er es sich witzig vorstellte, wie sie die halbzerkauten Bröckchen wieder herauskotzte. Der Eintopf allein war noch nichts Schlimmes. Die halbe Packung Salz, die er darin aufgelöst hatte, jedoch schon. Doch nun wollte die Walze nicht nach seinen Vorstellungen agieren. Matthias Hase strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, horchte nach innen. Betrachtete dann das rote Gesicht mit den verquollenen Augen. Ihr Blutdruck musste auf zweihundert sein, so wie sie aussah. Beeil dich, flüsterte die Stimme der kleinen Melissa in seinem Kopf, nicht dass sie noch kollabiert!
»Na gut. Dann machen wir es anders.« Matthias Hase stand auf und ging um den Tisch herum. Die Semper musste diese Suppe essen. Und dann noch einen Teller und noch einen. Bis sie kotzte. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Es war zu erwarten gewesen, dass sie sich weigern würde, ihr Erbrochenes wieder aufzulöffeln, aber nun wollte sie noch nicht einmal den Mund aufmachen. Sie war eben auch kein Kind, das man mit Drohungen und Schlägen einschüchtern konnte. Doch er hatte vorgesorgt. Dann würde der Marmeladentrichter eben sofort zum Einsatz kommen. Matthias legte seine Hände auf die Schultern der Frau und betrachtete das dünne Haar. Am Scheitel wuchs es grau nach.
Da hatte er nun vorhin einen dieser alten Sessel mit hölzernen Armlehnen aus dem Wohnzimmer herangewuchtet, um sie darauf ordentlich festschnallen zu können, aber an ein Fixieren des Kopfes hatte er nicht gedacht. Die Rückenlehne des Sessels reichte leider nur knapp bis über die Schultern der Alten. Und er würde beim Füttern keine Hand frei haben, um auch noch ihren Kopf festzuhalten.
Matthias Hase sah sich in der Küche um und begann dann, das Sitzmöbel mitsamt der gefesselten Frau in Richtung Wand zu zerren. Das Knirschen und Quietschen erschien ihm übermäßig laut. Die geschwungenen Holzbeine hinterließen tiefe Kratzspuren auf dem Linoleum. Der fette Kater, der das Ganze bisher mit gelangweiltem Gesichtsausdruck aus dem Wohnzimmer beobachtet hatte, kam herbeistolziert und streckte sich beim Gehen.
»Was soll das denn werden?« Isolde Semper klang noch wütender als vorher. Sie war noch genauso herrisch wie früher, und sie hatte augenscheinlich noch immer nicht begriffen, dass Zorn und Starrsinn in ihrer Lage mit Sicherheit kontraproduktiv waren.
»Warte es ab, meine Beste.« Matthias Hase machte einen fast tänzerisch anmutenden Schritt zur Seite und schob den Sessel dann die letzten Zentimeter bis dicht an das hohe Regal, das der Semper als Raumteiler diente. Es besaß keine massive Rückwand, sondern die Bretter waren lediglich mit kupferfarbenen Metallstäben verbunden.
Als er die Rolle Gewebeband holte, flackerte das Verstehen wie ein unruhiges Feuer in Isolde Sempers Augen, und sie begann, heftig an ihren Fesseln zu zerren, aber das nützte ihr nichts. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war ihr Kopf nach hinten geneigt und an einem der Stäbe fixiert. Wie ein silbernes Stirnband schmückte das Klebeband ihren Kopf. Matthias Hase lächelte.
»So, und nun zurück zu der Suppe, die ich für dich vorbereitet habe. Möchtest du, dass ich sie noch einmal aufwärme?«
Isolde Semper schielte zur Mikrowelle und presste dann ihre Lippen fest zusammen. Er nahm es als ein Nein. Wahrscheinlich wollte sie nicht mehr mit ihm kommunizieren. »Wie du willst.« Ein nochmaliges kurzes Grinsen. Sie würde schon noch begreifen, dass das hier kein Spiel war. Der Kater saß jetzt neben der Spüle auf der Arbeitsplatte und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf den kalten Bohneneintopf. Matthias Hase zupfte seine Gummihandschuhe zurecht, suchte dann in den Schränken der Frau nach einem Krug und füllte die Suppe hinein.
»So, und nun wirst du dein Süppchen essen. Und mit ›essen‹ meine ich ›aufessen‹.«
Isolde Sempers Augen verengten sich, während er sich mit Trichter und Krug näherte. Ihr Gesicht war noch immer hochrot, und sie schnaufte wie ein asthmatisches Walross. Warum schrie die Frau nicht? Stattdessen knurrte sie nur tief im Hals und kniff die Lippen aufeinander. Womöglich war es ihr vor den Nachbarn peinlich, dass sie hier saß und malträtiert wurde?
»Los geht’s.« Mit der linken Hand drückte Matthias Hase die Nasenflügel der Frau zusammen, seine Rechte hielt den großen Trichter wartend über ihren Mund. Es dauerte nicht lange und sie schnappte nach Luft. Schnell rammte er die metallene Öffnung zwischen ihre Zähne und hob den Krug.
»Guten Appetit.« Mit leisem Plätschern plumpsten braunrote Kidney-Bohnen in das Edelstahlrund und verschwanden in der Öffnung. Er trat einen Schritt zurück, weil er wusste, was jetzt kam. Isolde Semper gurgelte und begann zu husten. Da ihre Hände gefesselt waren, konnte sie sich nicht helfen und sprudelte einen Teil des Bohneneintopfs auf ihr faltiges Dekolleté.
»Schmeckt wohl nicht?«
»Entfernen Sie sofort die Fesseln!« Die Augen der Frau glühten, während sie die Worte hervorfauchte.
»Liebe Frau Semper, Sie haben noch immer nichts begriffen.« Er kniff ein Auge zu. »Sie und ich, wir brauchen dieses Hilfsmittel, da Sie sich strikt weigern, Ihre Suppe allein zu essen.«
»Das, was Sie Suppe nennen, ist total versalzen!«
»Ach ja?«
Matthias Hase dachte für einen Moment an die kleine Melissa, während er Krug und Trichter auf einem Beistelltischchen absetzte. »Da ist nichts versalzen. Das muss eine Sinnestäuschung sein. Und nun empfehle ich Ihnen, dass Sie endlich vernünftig sind und kooperieren, sonst wird es unangenehm.«
»Nichts werde ich tun! Machen Sie endlich die Fesseln ab!«
Fast hätte er über ihre Dummheit gelacht. »Jetzt mal im Ernst, Frau Semper. Vergegenwärtigen Sie sich Ihre Lage, und erzählen Sie mir dann, wer hier das Sagen hat.« Die Angesprochene schüttelte heftig den Kopf.
»Nicht? Auch gut. Ich glaube, Sie wissen es auch so. Was Ihnen aber noch nicht aufgegangen zu sein scheint, ist der Grund, warum dies alles geschieht. Oder dachten Sie, ich bin zufällig bei Ihnen gelandet, um Sie mit Suppe zu füttern, die nach Ihren Worten auch noch versalzen ist?« Matthias Hase machte eine kurze Pause und ließ die Worte wirken, ehe er fortsetzte. »Zum letzten Mal: Essen Sie jetzt von allein oder nicht?«
Isolde Semper schob den Unterkiefer vor und quetschte ein »Nein« heraus. Ihre Augen lauerten.
»Dann muss ich Sie weiter füttern.« Matthias Hase griff nach ihren Nasenflügeln.
Wieder quoll braunrote Flüssigkeit in den Trichter. Erneut hustete und spuckte die Frau, aber diesmal trat er nicht zurück, sondern füllte einfach weiter halbflüssigen Brei nach.
Während die Walze an versalzenen Bohnen und Kartoffelstückchen würgte, überlegte er, dass die Methode mit dem an den Metallstab geklebten Kopf nützlich für das Einfüllen der Suppe war, aber nicht dafür taugte, wenn sie sich erbrach. Was unweigerlich passieren würde, wenn sie zwei, drei Rationen und damit auch eine halbe Packung Salz intus hatte. Er wollte nicht, dass sie an ihrem Erbrochenen erstickte, also würde er sie vom Rohr losschneiden und an den Tisch setzen müssen, bevor der Brei wieder aus ihr herauskam.
Die letzten Tropfen platschten in den Trichter. Matthias Hase wartete noch einen Augenblick und stellte dann die Gerätschaften auf den Beistelltisch.
»Na, wie hat dir das geschmeckt?« Er konnte sie mit dem Würgereiz kämpfen hören, während er das Gewebeband zwischen Kopf und Rohr vorsichtig mit dem Teppichmesser durchtrennte. Vielleicht würde er die beiden weiteren Büchsen, die schon geöffnet neben dem Herd standen, gar nicht brauchen.
Wieder ratschten die Sesselbeine über das Linoleum. Er ruckte und schob, bis Isolde Sempers unförmiger Bauch die Tischkante berührte. Da ihre an die Lehnen gefesselten Arme unter der Platte verschwunden waren, hätte ein Außenstehender den Eindruck gewinnen können, sie habe sich ganz normal zu einer Mahlzeit an ihrem Küchentisch niedergelassen. Matthias Hase ging, eine große Schüssel und eine weitere Dose Suppe zu holen. Das Keuchen der Frau verfolgte ihn. Ihr hasserfüllter Blick schien Löcher in seinen Rücken zu brennen.
Als er die orangefarbene Schüssel vor ihr platzierte, verstärkte sich das Keuchen zu einem Hecheln. Dicke Schweißtropfen rollten über die Stirn nach unten. Ihre Augen öffneten sich, als er den Inhalt der nächsten Dose vorsichtig in den Krug umfüllte. Im gleichen Augenblick begann sie zu kreischen.
Jetzt hatte sie sich also doch fürs Schreien entschieden. Matthias Hase stellte die Suppe beiseite, holte sich die Fernbedienung aus dem Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und drehte die Lautstärke auf maximal. Dann zappte er sich durch die Kanäle. Beim Gesicht von Andy Borg hielt er inne, fragte sich kurz, wieso er den Namen des aufgedunsenen Moderators kannte, und verwarf den Gedanken als unwichtig. Volksmusik war genau das Richtige, um das Gejaule zu übertönen. Das schien auch Isolde Semper zu finden, denn sie hörte mit dem Lärm auf. Er stellte den Ton etwas leiser, sodass sie seine Worte verstehen konnte.
»Erinnerst du dich eigentlich an deine Arbeit als Heimerzieherin?« Isolde Sempers verkniffenes Gesicht verriet ihm die Antwort. »Und an die Kinder – erinnerst du dich auch an die? An die kleine Melissa zum Beispiel?«
»Ich kann mich nicht an jeden Insassen erinnern.«
»Insassen nennst du sie, ich verstehe. Aber die gemeinsamen Mahlzeiten werden dir doch noch im Gedächtnis sein?«
»Was wollen Sie, zum Teufel?« Sie wurde wieder lauter, aber er ließ sich nicht beirren.
»Ich möchte, dass es dir wieder einfällt. Alles. Du sollst wissen, warum ich hier bin, auch wenn du es sicher schon längst ahnst.« Die Walze schüttelte heftig den Kopf.
»Dann hör mir gut zu.« Er begann mit seinen Erklärungen. Die Worte flossen wie ein stetiger Strom aus seinem Mund, ohne dass er darüber nachdenken musste. Er hatte sie sich schließlich auch lange vorher zurechtgelegt. Neben der Spüle leckte sich Kater Minkus die Pfoten. Dann rollte er sich ein und beobachtete unter herabhängenden Lidern das weitere Geschehen. Es schien ihm völlig egal zu sein, was mit seinem Frauchen geschah.