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Die Walking-Stöcke hinterließen bei jedem Schritt ein klickendes Geräusch auf dem Asphalt, das noch eine Weile in der Luft zu schweben schien, bevor es vom nächsten »Klack« übertönt wurde.
Rainer Grünkern stieß die Arme dynamisch nach vorn und ließ sie dann zurückschwingen, wobei er sich bei jedem Schwung kraftvoll abstieß. Von Weitem sah er aus wie ein Skilangläufer, der unbedingt das Rennen gewinnen wollte. Noch dreihundert Meter bis zu den grauen Blocks der Heizungshäuser, und dann konnte er auf einen Weg ins Grüne abbiegen, der aus dem Wohngebiet hinaus in Richtung See führte.
Er sog im Takt der Schritte Luft bis in den Bauchraum und blies den Atem gleichmäßig wieder aus. Ein. Aus. Ein ruhiger Strom. Weder keuchte noch hechelte er. Rainer Grünkern war stolz auf den Zustand seines Körpers, auch wenn er sich unaufhaltsam den siebzig näherte. Sport hielt fit. Und er wollte noch lange fit bleiben. Das Leben hatte noch so viel Interessantes zu bieten.
Obwohl es erst kurz vor zehn war, brannte die Sonne ihm schon heftig auf Kopf und Schultern. Links hinter den Garagenreihen röhrte ein Benzinrasenmäher. Das Gras an den Wegrändern war vertrocknet. Er schaute kurz nach oben in den Himmel. Nicht ein Wölkchen trübte das Gletscherblau. Von vorn näherte sich ein älterer Mann mit einem kleinen schwarzen Hund. Der Köter kläffte schon von Weitem. Rainer Grünkern ergötzte sich kurz an der Vorstellung, dem Tier im Vorübergehen einen festen Tritt in die Seite zu versetzen, sodass das Vieh hochkant in die Büsche flog, ehe er seine Stöcke fester packte und mit einem Grinsen vorbeiwalkte. Der Pfad führte jetzt leicht bergab. Das dichte Laubdach der Bäume spendete Schatten. Rainer Grünkern war jetzt ganz allein. Ein Luftzug kühlte seinen Nacken und die nackten Unterarme. Er erhöhte das Tempo.
An den Wochenenden absolvierte er nur seine »kleine Tour« – genau sieben Kilometer und dreihundert Meter, beginnend an seiner Haustür und wieder zurück. Er hatte die Distanz ausgemessen. Sieben Kilometer und dreihundert Meter am Sonnabend und sieben Kilometer und dreihundert Meter am Sonntag. Machte zusammen knapp fünfzehn Kilometer. Genug, um in Form zu bleiben. An den Wochentagen nahm er sich die längere Strecke vor. Elf Kilometer und sechshundert Meter, um genau zu sein. Die große Tour in der Woche vormittags, wenn die Schönwettersportler nicht unterwegs waren. Er wollte seine Ruhe haben und wählte deshalb an den Wochenenden, wenn alle und jeder unterwegs waren, die kurze Strecke. Da er Rentner war, konnte er sich darauf einstellen.
Sport war essentiell, auch im Alter. Er verachtete die fettgewordenen Krüppel, die sich nur noch von zu Hause zum Supermarkt und wieder zurück bewegten. Rainer Grünkern hatte sein Leben lang Sport getrieben. Sein Körper war ihm wichtig. Früher war es Kraftsport gewesen, jetzt Ausdauersport. Nachdem er in Rente gegangen war, hatte er es zuerst mit Jogging versucht, aber schnell festgestellt, dass seine Kniegelenke die Dauerbelastung nicht mitmachten. Und so war es bei Nordic Walking und Fahrradfahren geblieben. Er wechselte die Art der Ertüchtigung ab. Im Sommer gleichmäßig: vormittags Walking, nachmittags und für Besorgungen das Fahrrad. Einen Ruhetag gab es nicht. Im Winter musste er das Fahrrad manchmal im Keller lassen, wenn es zu viel geschneit hatte, aber Walking ging immer. Er gestattete sich selbst keine Auszeit. Frische Luft förderte die Gesundheit, sommers wie winters. Ausreden à la schlechtes Wetter, Mattigkeit oder einfach nur Unlust gab es bei ihm nicht.
Rainer Grünkern schaute auf seinen Pulsmesser und erhöhte die Schrittfrequenz. Zehn Schläge mehr waren noch im grünen Bereich.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Die Bäume schüttelten ihre Wipfel, das Rauschen der Blätter nahm für einen Moment zu, und er fröstelte leicht. Doch ein Blick über die Schulter bewies, dass niemand da war. Nur der Wald und er. Obwohl das hier kein richtiger Wald war, eher ein Wäldchen. Noch fünfhundert Meter, dann traf man auf einen Bach, der sich durch die Wiesen mäanderte und an dem sich der Weg gabelte. Linksherum kam man wieder ins Wohnviertel zurück, rechtsherum ging es noch etwa einen Kilometer am Bach entlang durch den Wald, bis man auf eine Siedlung von Einfamilienhäusern stieß.
Rainer Grünkern walkte immer allein. Für die Frauengruppen, die ihm ab und zu bei schönem Wetter entgegenkamen und die man schon lange, bevor sie sichtbar wurden, hören konnte, hatte er nur Verachtung übrig. Die Weiber missbrauchten den Sport zum Tratschen. Außerdem hatten sie keine Ahnung, wie die Stöcke richtig eingesetzt wurden. Es ging ihnen nicht um Körperertüchtigung, sondern um Kaffeeklatsch ohne Kaffee.
Um ihn herum war es still. Nur die Stöcke gaben ihr regelmäßiges Geräusch von sich, das jetzt kein Klacken mehr war, sondern einem gedämpften »Pock, Pock« glich. Rainer Grünkern dachte an seine Vorhaben für den restlichen Tag. Nach dem Mittagessen würde er Einkäufe erledigen und auf dem Rückweg in der Videothek vorbeiradeln. An den Samstagabenden gönnte er sich immer etwas Besonderes. Der Nachmittag war für seine Chat-Freunde reserviert. Bei der Vorstellung, wer heute alles online sein würde und was sie miteinander besprechen würden, befeuchtete er unbewusst die Lippen mit der Zunge. Er konnte zwar jederzeit chatten, aber an den Wochenenden waren immer besonders viele nette Ansprechpartner im Netz. Sein Puls galoppierte davon und überschritt den idealen aeroben Bereich, ohne dass er die Schrittfrequenz erhöht hatte.
Rainer Grünkern drosselte das Tempo ein wenig und bemühte sich, tiefer zu atmen.
Am Bach bog er rechts ab. Sein Blick glitt über die Erlensträucher. Weiter vorn schimmerte in Augenhöhe etwas Helles zwischen den Stämmen hindurch.
Eine Frau in zartblauem Jogginganzug kam ihm entgegen. Ihr blondes Haar umrahmte das Gesicht und wippte bei jedem Schritt. Von Weitem sah sie sehr hübsch aus. Rainer Grünkern stand auf blondes Haar – immer noch.
Die Blondine kam schnell näher, und er bemerkte, dass sie älter war, als es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Als sie dicht vor ihm war, korrigierte er seine Schätzung auf vierzig. Viel zu alt für seinen Geschmack, er mochte junges, zartes Fleisch. Trotzdem bekam die Frau ein herzliches Lächeln, das sie schüchtern erwiderte.
Ein kräftiger Mann folgte in etwa hundert Metern Abstand. Rainer Grünkern wunderte sich einen Augenblick lang über den Betrieb auf dieser abgelegenen Strecke, erklärte sich das Ganze aber schnell damit, dass Wochenende und bestes Wetter war. Das trieb mehr Leute als sonst aus ihren Behausungen. Ein Blick auf die Pulsuhr zeigte, dass er wieder im aeroben Bereich war. Der kräftige Mann war herangekommen, und Rainer Grünkern hatte das Gefühl, zu gründlich gemustert zu werden. Er fühlte sich für einen Moment unwohl und sah sich nach der Blondine um, die schon fast an der Gabelung angekommen war. Der Unbekannte war dunkel gekleidet. Nichts Sportives, eher das, was gewöhnlich Spaziergänger trugen. Er hatte beide Hände in den Taschen. Sein intensiver Blick blieb an Rainers Stöcken hängen, wanderte dann zu dessen trainierten Armen. Dann war er vorbei.
Rainer Grünkern verbot es sich, zurückzuschauen. Das war ein harmloser Wanderer gewesen, sonst nichts. Und wovor sollte er – ein älterer Herr von fast siebzig – sich fürchten? Anscheinend wurde er allmählich paranoid. Vielleicht war es besser, zukünftig auf Sendungen wie Aktenzeichen XY zu verzichten.
Die Stöcke pendelten weit aus. Rainer Grünkern stieß die Arme dynamisch nach vorn und ließ sie dann zurückschwingen, wobei er sich bei jedem Schwung kraftvoll abstieß.
Den Blick, der ihn durch die borkigen Stämme verfolgte, bis er nicht mehr zu sehen war, spürte er nicht.
Lara prüfte ihren Fotoapparat. Der Ladezustand war gut. Zur Sicherheit steckte sie noch zwei Ersatzakkus ein. Heute würde sie wohl oder übel selbst Bilder machen müssen. Auch die Fotografen wollten ihr Wochenende genießen, und es war schwierig, einen von den guten für solch einen Job zu bekommen. Dazu kam, dass die Neueröffnung des Stadtbades in Gohlis keines der bedeutsamsten Events war. Vielleicht brachten sie in der Montagsausgabe auch gar kein Bild zum Text. Das hing ganz davon ab, was am Wochenende noch so reinkam und wie viel Platz für den Artikel blieb. Aber sie wollte gewappnet sein. Nicht dass der Hampelmann sich hinterher beklagte, weil keine Fotos verfügbar waren. Und für die Online-Ausgabe konnte man sie allemal verwenden.
Blütenduft drängte zum geöffneten Fenster herein und lockte Lara hinauszuschauen. Die Sonne schickte Lichtfinger durch die Blätter des alten Apfelbaumes im Garten. Sie blickte auf die eingetrockneten Grashalme. Seit Anfang Juli hatte es keinen Tropfen mehr geregnet. Und jetzt war noch nicht einmal Mittag und das Thermometer zeigte schon achtundzwanzig Grad im Schatten.
Lara schloss das Fenster und zog es in die Kippstellung. Sie würde ein ärmelloses Top zur Jeans anziehen. Das war nicht gerade das, was sie im Büro trug, aber erstens war Wochenende, und zweitens handelte es sich um einen Außentermin bei hochsommerlichen Temperaturen. Außerdem hatte die Berichterstattung über das Stadtbad ursprünglich zu Hubert Bellis Aufgaben gehört, aber er hatte gestern so lange auf sie eingeredet, gebettelt und beteuert, er werde sich revanchieren, bis sie nachgegeben hatte. Genug Gründe für legere Kleidung. Lara ging sich umziehen.
Die Zeit würde knapp werden. Das Festprogramm umfasste drei Stunden: Reden lokaler Politiker, Auftritte von Musikgruppen, Showeinlagen, Wasserballett. Sie musste danach durch die halbe Stadt zurückfahren, duschen und sich für den Abend umziehen. Aber niemand verlangte, dass sie bis zum Ende der Veranstaltung blieb. Sie machte oft genug Abstriche in ihrem Privatleben. Der heutige Abend war für die Ladies’ Night reserviert. Doreen wollte sie um sieben abholen, damit sie vorher noch in Ruhe etwas essen gehen und den neuesten Klatsch austauschen konnten.
Tack, tack. Tack, tack. Rhythmisches Klappern.
Lara drehte sich um. Ihr Schlafzimmer war leer wie immer. Sie stand in Unterwäsche vor ihrem Kleiderschrank, Jeans und Top über dem Arm.
Tack, tack. Und noch einmal: Tack, tack.
Es klang wie das Klappern von Metall auf Stein. Lara schloss die Augen, horchte in sich hinein. Rötlich gelb drang das Licht der Mittagssonne durch ihre geschlossenen Lider. Dann erschien ein verwackelter Umriss, der sich bewegte. Eine Gestalt, leicht nach vorn gebeugt, die Arme schwangen vor und zurück, vor und zurück: tack, tack.
Es glich einer Art Trickfilm. Ein Männlein beim Skilanglauf. Kurz bevor es verschwand, schärfte sich das Bild für den Bruchteil einer Sekunde, und Lara sah ein zerklüftetes Altmännergesicht. Großporige Nase, Tränensäcke, tiefe Falten links und rechts des Mundes, angestrengter Gesichtsausdruck. Im Hintergrund flimmerte Sonnenlicht durch Stämme und Laub. Sie spürte kurz das Vorhandensein einer schattenhaften Gefahr, dann öffnete sie die Augen wieder, und der Spuk war vorbei.
Lara streifte sich das Top über und ging, um ihr Telefon zu holen. Es war an der Zeit, dass sie aufhörte, vor diesen Gesichten davonzulaufen. Den Anruf bei Mark, bei dem sie über die Visionen hatten sprechen wollen, schob sie jetzt seit Dienstag vor sich her. Sie hatte weder seinen Rat befolgt, alles aufzuschreiben, was sie bisher »gesehen« hatte, noch ernsthaft über die Bedeutung dieser Halluzinationen nachgedacht. Wie von selbst wählten ihre Finger Marks Nummer.
»Hallo?« Eine Kinderstimme. Lara brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Die Kinderstimme musste Marks Tochter Joanna gehören.
»Ist dort Grünthal? Mein Name ist Lara Birkenfeld, und ich möchte gern mit Mark sprechen.«
»Papi? Der ist nicht da.« Ein Seufzen, dann trappelten Schritte. Lara konnte hören, wie das Kind mit jemandem flüsterte. Dann meldete sich eine Frau. »Grünthal.«
»Frau Grünthal? Lara Birkenfeld. Ich wollte eigentlich Ihren Mann erreichen.«
»Der ist auf einer Fortbildung, Frau Birkenfeld.« Marks Frau wusste sofort, wer sie war. »Er kommt erst morgen Abend zurück. Versuchen Sie es doch auf dem Handy, wenn es dringend ist.« Sie klang unterkühlt. Lara dachte an die Eifersucht der Frau. Hoffentlich hatte sie in ihrer Entschlossenheit, Mark sofort anzurufen, keinen Fehler begangen.
»Danke. Das werde ich versuchen. Ein schönes Wochenende noch!«
»Auf Wiederhören.« Es klickte. Anna Grünthal hatte den Wunsch nicht erwidert.
Lara wog nachdenklich das schwarzglänzende Mobiltelefon in ihrer Hand und wischte dann mit dem Daumen über einen Fleck auf dem spiegelnden Display, bevor sie es beiseitelegte und in ihre Jeans schlüpfte. Vielleicht hatte Mark gerade Mittagspause. Und wenn nicht, konnte sie eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Ihre Finger wählten schon, noch ehe der Gedanke ganz zu Ende gedacht war.
»Grünthal?«
»Hi, Mark. Ich bin’s, Lara.«
»Hallo, Lara! Was für eine Überraschung. Ich habe gerade an dich gedacht. Das muss Telepathie sein! Stell dir vor, ich bin ganz in deiner Nähe!« Im Hintergrund ertönte Stimmengewirr und das Klappern von Geschirr.
»Du bist hier in der Nähe?«
»Ja, zu einem Kongress. Das Thema heißt ›Biologische, interaktionelle und soziokulturelle Modelle psychischer Störungen‹.« Er lachte. »Klingt interessant, was?«
»Na, ich weiß ja nicht.«
»Eigentlich diskutiert die Deutsche Gesellschaft für Psychologie aber seit heute früh über geänderte Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten. Durch die Bologna-Reform werden die Studiengänge verändert, und das bedeutet für uns, dass die erforderlichen Kompetenzen nicht mehr gegeben sind. Nun wird ein Vorschlag von Mindestanforderungen erarbeitet. Wie du dir vorstellen kannst, kostet das Zeit und Nerven. Aber deswegen hast du mich bestimmt nicht angerufen.«
»Klingt schrecklich.« Lara lachte auch. Die Fachbegriffe schwirrten durch ihren Kopf. Obwohl sie wusste, dass die Bildungsminister in Bologna vor zehn Jahren beschlossen hatten, einen »gemeinsamen europäischen Hochschulraum« mit gleichwertigen Master- und Bachelorabschlüssen zu schaffen, hörte sich »Bologna-Reform« für sie immer wie ein italienisches Nudelgericht an. Jedenfalls war Mark ihr anscheinend nicht böse, dass sie ihn nicht wie vereinbart bereits am Dienstagabend zurückgerufen hatte. »Wo bist du denn genau?«
»Auf Schloss Wolfsbrunn. Ein schönes Umfeld, großzügige Zimmer, riesiger Park, gute Küche. Nur leider sitzen wir den ganzen Tag in den Beratungen.«
»Ein sehr schönes Hotel. Ich kenne es. Wir haben ab und zu über die Veranstaltungen, die dort stattfinden, berichtet.« Lara sah das große weiße Gebäude mit dem grünen Dach inmitten der alten Bäume vor sich. Mark schwieg. Die alte Psycho-Masche. Er wartete darauf, dass sie mit dem Grund ihres Anrufes herausrückte. »Ich wollte dich ja eigentlich schon am Dienstagabend anrufen, aber da ist mir leider etwas dazwischengekommen.« Zwei Verabredungen mit verschiedenen Männern. Der eine gefiel ihr, der andere nicht. Lara überlegte kurz, warum sie Mark darüber nichts sagen wollte, und fuhr fort: »Dann war die ganze Woche was anderes los. Du kennst das ja.«
»Hm.«
»Ich habe inzwischen meine neuesten Erlebnisse übersinnlicher Art«, Lara kicherte kurz über den absurden Begriff und fand sich dabei ein bisschen hysterisch, »systematisiert und geordnet. Und nun wollte ich dich fragen, wann wir denn mal in aller Ruhe darüber reden können.« Nichts hatte sie getan. Aber die eben gemachte Aussage würde sie dazu zwingen, das schnellstens nachzuholen.
»Weißt du was?« Sie konnte ihn gehen hören. Schnelle Ledersohlen auf Steinfußboden. »Bist du morgen zu Hause?«
»Ja. Ich muss hier mal wieder ein bisschen für Ordnung sorgen.«
»Fein. Unser letzter Vortrag morgen fällt nämlich aus, und ich bin zwei Stunden eher fertig. Ich könnte auf der Heimfahrt bei dir vorbeischauen, wir trinken gemütlich ein Tässchen Kaffee und reden.«
»Das finde ich super.« Lara durchdachte ihr Programm fürs Wochenende. Das würde knapp werden. Heute würde sie garantiert nicht mehr dazu kommen, ihre Vorahnungen aufzuschreiben. Wer weiß, wann sie heute Nacht von der Ladies’ Night zurück war. Blieb nur Sonntagvormittag.
»Wir waren doch letztes Jahr im Sommer ein paarmal in diesem wunderbaren Freiluftrestaurant, wie hieß es noch gleich, irgendwas mit Bäumen … Wollen wir uns dort treffen? Wie geht es eigentlich Jo?«
»Du meinst das Lindencafé. Und Jo geht es prima.« Dass sie miteinander ausgingen, brauchte sie Mark nicht auf die Nase zu binden.
»Dann lad ihn doch mit ein! Ich hab ihn ja ewig nicht gesehen. Oder stört es dich, wenn er dabei ist?« Mark und Jo hatten sich im letzten Jahr bei der Jagd auf den Serienkiller Martin Mühlmann kennengelernt und waren Freunde geworden.
»Ja und Nein.« Lara sah zur Uhr und erschrak. Seit zehn Minuten hätte sie auf der Fahrt nach Gohlis sein müssen. »Ja zur Einladung, nein zum Stören. Ich muss los, ein dienstlicher Termin. « Das Telefon am Ohr schlüpfte sie in ihre Ballerinas. »Wann bist du morgen in etwa hier?«
»Gegen zwei, denke ich. Soll ich dich abholen?«
»Gern! Bis morgen, Mark. Und danke.« Sie legte auf.
Der Bleistift trug am hinteren Ende zahlreiche kleine Kerben. Spuren ihrer Zähne. Mia drehte ihn hin und her und ließ die gelb-schwarzen Streifen vor ihren Augen flimmern.
In dem kleinen Buch, das sie gestern Abend gekauft hatte, waren viele leere Seiten. Seiten, die mit Inhalten gefüllt werden sollten. Retrospektiven, Fragmente, Fragen. »Schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt, zensieren Sie nichts«, hatte Doktor Grünthal gesagt. Sie hatte ein kleines Format gewählt, damit es in jede Tasche passte, denn sie musste es immer dabeihaben, weil die Erinnerungen jederzeit wie ein Rudel hungriger Hyänen über sie herfallen konnten.
Zuerst hatte Mia überlegt, ein Register in das Notizbuch hineinzuschneiden, den Gedanken aber wieder verworfen. Es widerstrebte ihr, das feste elfenbeinfarbene Papier zu beschädigen. Stattdessen hatte sie die Seiten gezählt – es waren exakt einhundertzweiundneunzig – und die Anzahl durch vier geteilt. Zum Glück ging es genau auf – achtundvierzig Seiten pro Rubrik.
Mit einem roten Gelschreiber hatte sie dann in Druckbuchstaben die Überschriften hineingemalt: Flashbacks, Träume, Stimmen und Sonstiges. Was Sonstiges sein würde, wusste sie selbst noch nicht, aber es war immer gut, eine Reserve für das zu haben, was sich nicht zuordnen ließ.
Sorgsam kringelte der rote Stift über jede der vier Rubriken das Datum des heutigen Tages: 01.08. Es gefiel Mia, dass die Eintragungen nicht mitten in einem Monat beginnen würden.
Dann dachte sie über ihr Vorgehen nach. Die Seiten zu den Träumen würde sie immer gleich nach dem Aufstehen ausfüllen. Da waren die Schlafbilder noch frisch. Für die vergangene Nacht hatte sie leider nichts. Kein noch so winziges Fitzelchen eines Traumes, keine Bilder, keine Geräusche, kein Hochschrecken. Sie hatte geschlafen wie eine Tote.
Mia griff nach dem Bleistift, zögerte, die Graphitspitze zitterte über dem Papier. Schließlich entschloss sie sich, bei Träume »keine« unter das Datum des heutigen Tages zu schreiben, weil es ihr widerstrebte, die Seite freizulassen. Etwas in Mia wollte dem Arzt gefallen, wollte alles sorgfältig ausfüllen; keine Seite, kein Tag durfte ohne Notizen sein. Sie wusste, dass das illusorisch war, weil sie nicht vorhersagen konnte, ob jeden Tag mindestens eins der Ereignisse eintreten würde, und trotzdem bestand ihre innere Stimme darauf, dass es so sein musste. Und ihr Unterbewusstsein hatte auf einem Bleistift bestanden, damit die Eintragungen korrigiert werden konnten. Sie schob den Stift in die Lasche an der Seite, klappte das Gummiband um den Buchblock, legte das Büchlein in ihre Handtasche und zog den Terminplaner heraus. Die nächsten Besuche bei Doktor Grünthal waren am kommenden Dienstag und Freitag. Sie durfte ihre Arbeit über all dem nicht vernachlässigen, die Kinder brauchten sie, aber der Arzt hatte für den Anfang zwei Termine pro Woche für nötig gehalten. Als »Therapie« konnte man allerdings das, was bis jetzt geschehen war, nicht bezeichnen: Sie redete, und er hatte für alles Verständnis.
Vielleicht hatte die Stimme in ihrem Kopf recht, und der ganze Psychotherapie-Kram war nur Quacksalberei, Zeitverschwendung, leeres Gerede. Was konnte schon durch Plaudern bewirkt werden? Mia schüttelte unmerklich den Kopf. Das musste nicht sofort entschieden werden. Erst einmal abwarten, was in den nächsten Tagen geschah. Heute war Sonnabend, sie hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob sie am nächsten Dienstag wieder nach Berlin fahren wollte oder nicht. Viel schlimmer war das, was im Terminplaner für heute Abend stand: Kino, Frank Schweizer, vorher 18:00 Uhr, Bella Italia. Schon das Essen im Lindencafé am Dienstagabend war im Nachhinein ein Fehler gewesen.
Manchmal verstand Mia sich selbst nicht. Welcher Teufel hatte sie geritten, den Journalisten anzurufen und sich mit ihm zu verabreden? Am Montag im Gericht hatte sie ihn noch nicht einmal eines zweiten Blickes für wert befunden, und am nächsten Tag fahndete sie nach seiner Telefonnummer und rief ihn an, um ihn zu fragen, ob er mit ihr essen gehen würde. Mia erhob sich und ging ins Bad. Das helle Licht verlieh ihrem Gesicht im Spiegel eine ungesunde Blässe. Die Haut unter ihren Augen wirkte durchscheinend bläulich. Hatte sie den Abend im Lindencafé eigentlich nett gefunden? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Und war der Vorschlag mit dem heutigen Kinobesuch von ihm oder von ihr gekommen?
Tu nicht so unschuldig! Glaubst du, dieser ungelenke Zeitungsschreiber hätte sich getraut, dich ins Kino einzuladen? Natürlich war es dein Vorschlag, wessen sonst?
Mia sah im Spiegel, wie ihre Augen sich weit öffneten und dabei die Farbe wechselten. Von meeresgrün zu türkisblau. Auch ihr Mund stand ein wenig offen.
Du siehst aus wie ein Schaf.
Sie kniff die Augen zu, drehte sich um und rannte hinaus. Jetzt hatte sie schon am helllichten Tag Halluzinationen. Das Notizbuch schien in der Handtasche auf sie gewartet zu haben. Der schwarze Einband fühlte sich warm an, als sie es herausnahm und zu der Seite mit Stimmen blätterte. Hastig glitt der Bleistift über das Papier. Zum ersten Mal, seit die Stimme Kommentare in ihrem Kopf abgab, dachte Mia bewusst darüber nach, wie sie geklungen hatte. Es war eine weibliche Stimme gewesen, der Tonfall irgendwo zwischen amüsiert, schnippisch und ein bisschen anklagend. Sie las die Sätze während des Schreibens, dachte über den Inhalt nach und wie Doktor Grünthal das wohl finden würde. Der Arzt hatte gesagt, jeder Mensch habe in seinem Innern Kontrollinstanzen, führe ab und zu Selbstgespräche, das sei nichts Verwunderliches. Vielleicht war das alles also ganz normal, und sie machte sich unnötig Gedanken?
Jetzt jedoch musste sie erst einmal die Sache mit Frank Schweizer wieder ins Lot bringen. Nicht dass der Typ sich noch einbildete, sie würde etwas von ihm wollen. Mia schob das Notizbuch wieder in die Handtasche. Es war schon nach eins, und sie hatte noch viel vor. Von zwei bis vier Fitnessstudio wie jeden Samstag. Sie trainierte hart, um in Form zu bleiben. Dann einkaufen. Danach würde sie sich mit dem Journalisten treffen und ihm sagen, dass sie kein Interesse hatte. Mia atmete tief durch und lächelte. Guter Plan.
»Wach auf.« Die heisere Stimme flüsterte direkt an ihrem Ohr, so dicht, dass sie den Atemstrom spüren konnte. »Komm.« Eine warme Hand tastete nach ihrem Oberarm, streichelte erst und packte dann zu. »Es nützt dir nichts, wenn du dich schlafend stellst.« Ein sauer-alkoholischer Lufthauch fächelte über Hals und Ohrmuschel. Dazu mischte sich beißender Geruch von Männerschweiß. Der Druck auf den Oberarm wurde stärker. »Ich möchte nicht, dass die anderen wach werden. Also los jetzt.« Die Hand zog an ihrem Ellenbogen. »Komm aus deinem Bett.« Grobe Finger tasteten sich vom Arm auf den Rücken, schoben und drückten. »Du brauchst keine Schuhe. Ich trage dich.« Ihr Oberkörper wurde angehoben, die Bettdecke rutschte beiseite. Eisige Nachtluft berührte die nackten Beine. Die schwieligen Hände brannten auf ihrem Nachthemd, kratzten über ihre Schultern, dann wurde sie hochgehoben. Über ihr knarrten Bettfedern, ein Geräusch, als drehe sich jemand um, aber gleich darauf herrschte wieder die gleiche atemlose Stille wie vorher. Die Stimme war jetzt an ihrer Schläfe, schien geradewegs in ihrem Kopf zu flüstern. »Ich will dir etwas Schönes zeigen. Es wird dir gefallen.« Kehliges Kichern, dann ein gedämpftes Stöhnen. Es ging hinaus.
Mit einem Schrei erwachte Mia. Ihre weit geöffneten Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann hob sie den Kopf und sah an sich herunter. Nackte Beine. Sie musste sich im Traum freigestrampelt haben. Kühl strich die Nachtluft über ihren Körper. Mia berichtigte sich. Nicht nur die Beine waren nackt. Sie war komplett unbekleidet. Neben ihr raschelte das Bettzeug. Dann bewegte sich ein schwerer Körper, und eine Männerstimme murmelte etwas Unverständliches.
Mias zweiter Schrei war gellender. Das Kreischen prallte auf die Wände und kam als vielfaches Echo zurück.
»Mein Gott, was ist denn los?« Neben Mia richtete sich ein großer Körper auf. Sie unterdrückte einen weiteren Aufschrei. Weiße Haut, bedeckt mit dunklem Pelz, das Gesicht in der Finsternis nicht mehr als eine helle Scheibe. Die Männerstimme ein tiefer Bass. »Beruhige dich doch. Hast du schlecht geträumt?«
Mia brauchte schier endlos erscheinende Sekunden, bis sie erkannt hatte, wer der pelzige Mann in dem Bett neben ihr war: Frank Schweizer, der Journalist von der Tagespost. Er beugte sich von ihr weg. »Warte, ich mache das Licht an.« Ein Klicken, dann flammte eine kleine Lampe auf. Gelbes Licht blendete Mias Augen, und sie blinzelte. In ihrem Hals hatte sich ein dicker Knoten gebildet, der auf die Luftröhre drückte. Hinter ihrer Stirn begann das altbekannte Hämmern. Der Mann neben ihr schwieg. Vielleicht wartete er, bis sie zu sich kam.
Erst jetzt sah sie sich um. Das war ein fremdes Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch neben ihr standen eine halbvolle Sektflasche und zwei Gläser. Und sie lag nackt in einem Doppelbett mit einem ebenso nackten Mann, den sie gerade mal eine Woche kannte. Die Situation war eindeutig. Hastig griff Mia nach der Bettdecke und zog sie bis an die Nasenspitze. In ihrem Innern schrie etwas noch immer wie ein verwundetes Tier.
»Geht’s wieder?« Frank Schweizer legte seine Hand auf ihre Schulter. Es fühlte sich genauso an wie in ihrem Traum und Mia atmete scharf ein. Ihre letzte Erinnerung war die an das Training im Fitnessstudio. Sonnabendnachmittag von zwei bis vier. Und jetzt war es mitten in der Nacht. Wie war sie hierhergekommen? Hatte der Typ neben ihr sie betrunken gemacht, abgeschleppt und vergewaltigt? Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus.
»Du hattest bestimmt einen Albtraum. Aber jetzt ist es wieder gut, nicht?« Die Männerhand begann zu streicheln, und Mia erstarrte, während er weiterredete. »Komm, wir schlafen noch ein bisschen. Es ist erst kurz vor vier. Und morgen, oder besser heute, ist Sonntag. Möchtest du noch einen Schluck Sekt?« Er zeigte auf die Flasche. »Oder lieber etwas Alkoholfreies? Ein Wasser? Wasser ist besser, nicht?« Er machte Anstalten, das Bett zu verlassen, da erst fand Mia ihre Stimme wieder. Es war nur ein raues Krächzen. »Nein. Nichts. Ich möchte nichts.« Die Decke fest um den Körper gewickelt, stand sie auf und hielt nach ihren Kleidungsstücken Ausschau. Überall im Zimmer waren Teile verstreut. Höschen und BH lagen halb unter dem Bett, die Strumpfhose neben der Tür. Die durchsichtige rote Spitze schrie ihr das Wort »Nutte« entgegen. Wer solche Dessous trug, hatte nicht vor, den Abend allein zu beenden. Der graue Bleistiftrock und die elfenbeinfarbene Seidenbluse befanden sich im Flur, genau wie die hochhackigen Pumps.
Sie selbst hatte sie dorthin geworfen. Das sah ganz nach freiwilligem, wildem Sex aus.
Frank Schweizer saß im Bett, die Arme über der behaarten Brust verschränkt, und schaute ihrem Tun ungläubig zu. Irgendwo tief in ihrem Innern verstand Mia ihn sogar. Zuerst war sie wie wild über ihn hergefallen, und nun spielte sie die Prüde. Aber auf seine Gefühle konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie musste hier weg. Und zwar schnell. »Wo ist das Bad?«
»Zweite Tür rechts.« Frank Schweizer zeigte nach draußen in den Flur, sein Gesichtsausdruck noch immer bestürzt über den plötzlichen Stimmungswandel der Frau, die ihm vor drei Stunden noch die Kleider vom Leib gerissen hatte. Die Sachen über dem Arm, verschwand Mia in dem angegebenen Raum. Ihr Körper schrie nach einer Dusche, so heiß, dass die Haut davon taub wurde, wollte Seife und Bürste, verlangte wieder und wieder danach, abgescheuert zu werden, aber sie unterdrückte das unbändige Bedürfnis. Nicht in diesem fremden Männerbadezimmer. Das musste warten, bis sie wieder daheim war, in der Sicherheit ihrer Wohnung. Auch die Wäsche ekelte sie an, diese glühend rote Spitze, die auf der Haut brannte wie Feuer und permanenten Juckreiz verursachte. Im Aufrichten erhaschte Mia einen Blick auf ihr bleiches Gesicht und wandte sich sofort ab. Das Rasierzeug neben dem Waschbecken ließ Bilder des Brustpelzes aufblitzen, und sie schaffte es gerade noch bis zur Toilette, ehe ein Schwall grünlich gelber Flüssigkeit sich ins Becken ergoss. Der Brechreiz hielt minutenlang an, und Mia schaffte es nicht, sich aufzurichten. Was hatte sie getan? Wo waren ihre Erinnerungen? Erst nach einigen Minuten erhob sie sich, zog die Spülung und tastete sich zum Waschbecken. Kaltes Wasser rauschte aus dem Hahn, und Mia schöpfte und rieb sich das Gesicht ab, ehe sie einige Schlucke trank. Ihr Gesicht trocknete sie mit dem Ärmel, weil sie die beiden Handtücher neben dem Waschbecken nicht berühren konnte.
Auch jetzt schaute sie nicht in den Spiegel.
Die Klinke der Badtür in der Hand blieb sie stehen und sortierte ihre Gedanken. Ihr fehlten Pumps und Handtasche. Beides lag im Flur. Sie musste nicht noch einmal in das Schlafzimmer. Ungestüm stieß sie die Tür auf und schlüpfte im herausdringenden Lichtkegel der Badezimmerlampe in ihre Schuhe.
»Willst du gehen?« Frank Schweizer stand im Türrahmen des Schlafzimmers. Er hatte sich inzwischen eine Boxershorts angezogen. Mia sah seine behaarte Brust und fühlte, wie ihr Magen sich erneut zusammenkrampfte, während sie blind nach ihrer Handtasche tastete. Ihr war, als hielte jemand ihre Kehle umfangen und drückte immer fester zu. Endlich fanden die Finger den Taschengriff.
»Mia?« Der Journalist machte einen Schritt auf sie zu, und Mia floh. Floh, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, ohne auf den Weg zu achten, die glatten Steinstufen hinunter bis auf die Straße, rannte, ohne nachzudenken, in die Nacht. In ihrem Kopf höhnte die Stimme Beleidigungen wie »Flittchen« und »Schlampe«.