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War das nötig, Weichei?

Ich wusste doch keinen anderen Ausweg. Mia Sandmann drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen. Angeblich ein Akupressurgriff, der Kopfschmerzen verscheuchen sollte. Bei ihr half es nicht viel. Was nervst du mich schon wieder. Das geht so nicht weiter.

Du hättest dich zusammennehmen können. Muss man denn gleich Fremde einweihen?

Mia schüttelte den Kopf und zog die Decke über die Beine. Vor ihr flimmerte stumm der Fernseher. Jetzt debattierte die Stimme in ihrem Kopf schon seit Stunden unentwegt mit ihr, bloß weil sie es gewagt hatte, die nette Journalistin anzusprechen. Lara Birkenfeld war ihr schon beim letzten Mal einfühlsam und hilfsbereit vorgekommen, ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen, der sie so offensichtlich angebaggert hatte.

Du kennst diese Frau doch kaum!

»Ja, aber… Ich hab ihr doch auch gar keine Einzelheiten genannt! « Mia schlug die Handfläche vor den Mund und presste die Lippen zusammen. Nun redete sie schon laut mit sich selbst. Bisher waren es immer nur innere Dispute gewesen. Sie angelte nach der Fernbedienung und drückte auf die »Mute«-Taste. Der Nachrichtensprecher gab seine Pantomime auf und berichtete etwas von Terrorgefahr.

Wenn du denkst, dass mich das zum Schweigen bringt, hast du dich aber geschnitten! Mia stöhnte, warf die Fernbedienung neben sich auf das Sofa und presste die Hände an die Ohren. Was zu viel war, war zu viel. Das musste aufhören. Sie wollte diese unsäglichen Rückblicke und dieses ständige Gewisper in ihrem Kopf loswerden. Sie wollte ihr ganz normales Maria-Sandmann-Leben zurück und einfach wieder funktionieren wie zu der Zeit, bevor die ganzen Flashbacks begonnen hatten. Und wer konnte ihr besser dabei helfen als ein ausgebildeter Therapeut?

Ein Psychiater? Ein Hirnklempner!

»Na und?« Die innere Stimme war heute besonders penetrant. Mia sah sich im Wohnzimmer um. Die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Niemand außer dem biederen Nachrichtenmann konnte hören, wie sie  – eine Frau von über vierzig  – mit sich selbst redete. Sie betrachtete den Zettel, den die nette Journalistin ihr gegeben hatte. Mark Grünthal hieß der Arzt. Die Telefonnummer hatte eine Berliner Vorwahl.

Untersteh dich!

»Halt’s Maul!« Mia musste kichern. Kraftausdrücke waren sonst gar nicht ihre Sache. Aber dieses ständige Insistieren nervte enorm. »Das entscheide ich immer noch selbst!«

Wenn du dich da mal nicht irrst. Jetzt kicherte es auch in Mias Kopf, und sie strampelte die Decke von den Füßen und sprang auf. Das musste sofort aufhören. Ohne die Pantoletten anzuziehen, marschierte sie in die Küche.

Die Weinflasche wartete fein säuberlich verkorkt im Kühlschrank. Mit dünnem Strahl floss die rubinrote Flüssigkeit in das bauchige Glas. Es roch ganz schwach nach Brombeeren. Die Stimme schwieg. Vielleicht schnüffelte sie auch gerade das schwere Aroma des Rotweins. Im Hintergrund zerhackte die große runde Küchenuhr die Zeit in gleichmäßige Abschnitte. Fünf  – vor  – zehn.

Viel zu spät, um den Therapeuten heute noch anzurufen. Aber morgen Früh würde sie gleich nach dem Aufstehen zum Hörer greifen. Mia Sandmann tappte zurück in ihr Wohnzimmer, bemüht, nichts zu verschütten. Ihre Hände zitterten. Nur ein kleines bisschen. Aber das Geschwafel im Kopf hatte aufgehört. Endlich. Sie seufzte, stellte das Glas auf den Couchtisch und kuschelte sich wieder in ihre Sofaecke.

 

»Wie sieht’s denn hier aus, ihr Schlampen?« Die Mädchen zuckten alle gleichzeitig zusammen. Karli ließ ihr Buch fallen und Sandra und Kerstin drängten sich enger hinter die halb geöffnete Schranktür. Nur die dicke Susi bewegte keinen Muskel. Ihre Schürze über dem Arm, stand sie neben dem ersten Doppelstockbett und wartete scheinbar gelassen auf das, was geschehen würde.

»Das ist vielleicht ein Saustall! Dass ihr nie von allein darauf kommt aufzuräumen!« Die Gurich hatte die Hände in die Seiten gestemmt und betrachtete die Mädchen mit finsterem Blick. Keines von ihnen wagte es, ihr zu antworten. Es hätte auch nichts genützt. Miss Piggy war übel gelaunt. Die Kinder wussten vorher nie, wann die Erzieherin wieder einen ihrer Anfälle haben würde. Es war nicht vorhersehbar. Das Einzige, was darauf hindeutete, waren ihre Mundwinkel, die noch stärker herabhingen als sonst. Aber dann war es meistens schon zu spät. Oft tauchte sie wie ein Racheengel unverhofft auf und schikanierte jeden, der ihr gerade über den Weg lief. Heute schien sie es auf die Mädchen abgesehen zu haben. »Ich gebe euch genau zehn Minuten. Dann komme ich zur Kontrolle. Und gnade euch Gott, ich finde noch ein Stäubchen!« Mia konnte spüren, wie Karli sich neben ihr entspannte. Das schien gerade noch einmal gut gegangen zu sein. Die Gurich drehte indessen den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, so als habe sie noch nicht genug. Geh doch endlich, flehte etwas in Mias Kopf.

»Was ist bitte das?« Der linke Arm löste sich von der fleischigen Hüfte und wies in Richtung Tisch. Vorsichtig folgten die Blicke der Mädchen. Neben dem rechten Tischbein lag ein zerknülltes Stofftaschentuch. Es musste einer von ihnen aus der Tasche gefallen sein. Lange konnte es sich noch nicht dort befinden, denn sie waren gerade erst aus der Schule gekommen und hatten das Zimmer morgens blitzsauber verlassen.

»Wer von euch Schlampen schmeißt seine benutzten Taschentücher einfach so auf den Boden?« Die Gurich schaute von einem zum anderen. Die Mädchen erwiderten ihren Blick nicht, sondern sahen zu Boden. Mia biss die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten. Die Muskeln an ihren Schläfen begannen zu schmerzen.

»Ihr wollt nicht antworten? Nun, dann schaue ich selbst nach.« Langsam watschelte die Erzieherin ins Zimmer hinein. Jetzt hingen ihre Mundwinkel nicht mehr herab, sondern wellten sich selbstgefällig nach oben. Ihr Tag war gerettet. Wäre ihr nicht dieses Taschentuch aufgefallen, hätte sie einen anderen Grund gefunden, eines der Mädchen zu bestrafen. Irgendetwas fand sich immer, sosehr sie auch achtgaben. Die Gurich würde gleich wissen, wem dieses Stück Stoff unter dem Tisch gehörte, auch wenn die Mädchen nichts sagten. Die Taschentücher im Kinderheim trugen genau wie persönliche Bekleidungsstücke Monogramme, damit man sie nach der Wäsche gut auseinanderhalten konnte.

Mit einem Ächzen bückte sie sich, packte das weiße Tuch mit spitzen Fingern und hielt es in gebührendem Abstand vor das Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie die eingestickten Zeichen. Mia konnte ihr Gebiss nicht mehr kontrollieren. Mit vernehmlichem Klacken begannen die Zähne aufeinanderzuschlagen. Sie hörte Karli neben sich »Mia!« flüstern und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie die Gurich näher kam.

»Na, ist es euch inzwischen eingefallen, wem das hier gehört?« Mit einer heftigen Handbewegung schleuderte sie das Taschentuch in Mias Gesicht. Karli sog scharf die Luft ein, und Mia spürte zwei warme Tränen über ihre Wangen nach unten rollen. Die dicke Susi kicherte ganz kurz und unterdrückte das Geräusch sofort.

»Von allen hier bist du die Oberschlampe, Mädchen!« Miss Piggy hatte sich von Anfang an auf die kleine Mia eingeschossen. Die Erzieherin hatte ein feines Gespür für die Schwächsten, für die, die am sensibelsten waren, die Demütigungen nicht einfach an sich abprallen lassen konnten.

»Du pisst ins Bett, du räumst nicht auf, du wirfst deine vollgerotzten Taschentücher einfach so auf den Fußboden. Das muss aufhören, Fräulein!« Die Gurich griff nach Mia und quetschte ihren dünnen Oberarm zusammen. »Ich finde es besonders schlimm, dass ich dir das nicht zum ersten Mal sage. Anscheinend bist du störrischer, als ich anfangs dachte. Du musst dir wirklich mehr Mühe geben!«

»Hören Sie, bitte! Ich werde Mia helfen!« Karli, die inzwischen ihr Buch aufgehoben hatte, bewegte sich auf die Erzieherin zu. Ein heldenhafter Versuch. Leider vergebens. Die Gurich zerrte ihr Opfer schon in den Flur, wobei sie so tat, als nähme sie die Worte des anderen Mädchens nicht wahr. Mias Oberarm im eisernen Klammergriff, stieg sie die Treppen hinab bis in den Eingangsbereich.

»Los, beweg dich ein bisschen! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!« Mia konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. Zwei heißen Rinnsalen gleich strömten sie über ihr Gesicht, an den Mundwinkeln vorbei, trafen sich am Kinn und tropften dann auf die gemusterten Steinfliesen. Rechts neben der Eingangstür ging es in den Keller. Die schwere Holztür schwang geräuschlos auf. Jemand ölte die Scharniere regelmäßig, damit sie keinen Lärm machten. Das Mädchen hinter sich herziehend, stapfte die Gurich abwärts. Trübes gelbes Licht erhellte den Gang nur unzureichend. Mia leckte salzige Flüssigkeit aus den Mundwinkeln und bemühte sich, nicht zu schniefen, denn das hasste die Gurich besonders.

Sie war noch nie hier unten gewesen. Die Luft hatte einen muffigen Geruch. Es ging an mehreren Brettertüren mit Vorhängeschlössern vorbei. Sie bogen zweimal ab. Dann stoppte die Erzieherin vor einer massiven Metalltür. »So, Mädchen. Da wären wir.« Während sie in ihrer Hosentasche nach den Schlüsseln suchte, rieb sich Mia den linken Oberarm, den die Gurich endlich aus der Schraubzwinge freigegeben hatte.

»Hier wirst du Zeit zum Nachdenken haben. Ausreichend Zeit. Nutze sie.« Der Schlüssel drehte sich im Schloss. »Wenn ich dich wieder abhole, kannst du mir sagen, ob du etwas dazugelernt hast.« Auch diese Tür öffnete sich lautlos. Die Erzieherin gab Mia einen Stoß in den Rücken, sodass sie in die Finsternis taumelte, und schlug die Tür hinter ihr zu.

 

Verblüfft betrachtete Mia Sandmann das gegenüberliegende Haus. Über dem Schornstein stand ein pausbäckiger heller Mond. Weiß blinkten ein paar Sterne. Weicher Duft von Geranien lag in der Luft. Sie stand auf ihrem Balkon, an die Brüstung gelehnt, und hatte die Finger um den Rand der Blumenkästen gekrallt. Der Saum des Nachthemdes wehte um ihre nackten Unterschenkel. Ihr Rücken schmerzte. Nur langsam löste sich die Starre. Wie lange stand sie schon draußen und stierte in den Mond? Sie musste im Schlaf aufgestanden und hier herausgekommen sein. Mia senkte den Blick und schaute auf die Straße hinab, auf die dunklen Buckel der Pflastersteine. Was hatte sie mitten in der Nacht auf ihrem Balkon gewollt? Sie fühlte getrocknete Tränen auf ihrem Gesicht. Vorsichtig löste sie die Finger und tastete sich zurück ins Wohnzimmer. Anscheinend schlafwandelte sie jetzt zu allem Unglück auch noch.

Erst in der Küche schaltete sie eine Lampe ein. Gelb blendete das Licht ihre müden Augen. Es war halb vier. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Durst.

Die leere Weinflasche stand noch neben der Spüle. Zwei gierige Fruchtfliegen hatten es sich auf dem Rand gemütlich gemacht. Im Vorratsschrank lagerten noch mehrere Flaschen Rotwein. Aber sie konnte nicht schon wieder Alkohol trinken. Der machte ohnehin alles nur schlimmer, und einen Kater konnte sie nicht gebrauchen. In wenigen Stunden musste sie aufstehen. Mia goss sich ein Glas Orangensaft ein, setzte sich an den Küchentisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Dieses furchtbare Kinderheim! Es tauchte in letzter Zeit immer dann auf, wenn sie am wenigsten damit rechnete, und raubte ihr den Schlaf und die Ruhe. Die ganzen Jahre hatte sie keinen bewussten Gedanken an ihre Kindheit verschwendet, hatte gearbeitet, gelebt, erstklassig funktioniert  – trotz ihrer schlimmen Vergangenheit. Und auf einmal drehte das gesamte System durch wie ein Computer, der sich einen Virus eingefangen hatte. Entgegen ihren Hoffnungen hörte das Ganze auch nicht wieder von allein auf. Im Gegenteil, die Zustände schienen sich zu verschlimmern. Hier konnte wirklich nur noch professionelle Hilfe etwas bewirken.

Der Saft schmeckte bitter. Mia goss das halbvolle Glas in die Spüle, löschte das Licht und begab sich zurück in ihr Schlafzimmer. Vielleicht gelang es ihr, noch ein wenig zu schlafen.

 

»Und jetzt möchten Sie gern einen Termin?« Die Frauenstimme am anderen Ende hatte einen beruhigenden Klang.

»Eigentlich wollte ich mit Doktor Grünthal sprechen.« Mia schluckte. »Ich habe die Nummer von seiner Bekannten bekommen, Lara Birkenfeld.«

»Das habe ich verstanden, Frau Sandmann. Ich kann Sie aber im Moment nicht zum Doktor durchstellen. Vielleicht sagen Sie mir kurz, um was es geht, und ich schaue, ob ich einen freien Termin für Sie finde.« Papier raschelte.

Ich hab es dir doch gleich gesagt! Das bringt nichts! »Lass mich in Ruhe!«

»Haben Sie etwas gesagt?«

»Nein, nein.« Mia erhob sich vom Schreibtisch und begann, im Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Das fehlte noch, dass die Stimme ihr beim Telefonieren dazwischenquatschte. Die Sprechstundenhilfe schien nicht überrascht zu sein. Vielleicht hatte sie es öfter mit Patienten zu tun, die unsinnige Äußerungen machten. »So, Moment noch. Heute ist Dienstag.« Wieder raschelte es. »Wir haben diese Woche nur am Mittwoch, also morgen, noch etwas frei, weil ein Patient abgesprungen ist. Um sechzehn Uhr. Dann erst wieder nächste Woche am Dienstag. Von wo kommen Sie denn?«

»Leipzig.« Mia bewegte den Unterkiefer von links nach rechts.

»Aha. Soll ich Sie also für morgen einschreiben?« Die Schwester fragte nicht, warum die Anruferin sich nicht in ihrer eigenen Stadt nach Hilfe umsah, sondern stattdessen einen Psychotherapeuten in Berlin aufsuchen wollte.

»Ja.« In Mias Kopf summte ein Schwarm wildgewordener Wespen.

»Gut, Frau Sandmann. Mittwoch, das ist der 29. Juli, um sechzehn Uhr. Erscheinen Sie bitte etwas eher, damit ich Ihre Daten aufnehmen kann. Wenn etwas dazwischenkommt, verständigen Sie uns bitte vorher.«

»Geht in Ordnung.« Der Wespenschwarm brummte jähzornig.

»Sie wissen, wo unsere Praxis ist?« Die Sprechstundenhilfe begann zu erklären. Mia hörte nicht zu. Das Navigationssystem ihres Autos würde sie schon hinführen. Sie fixierte ihren aufgeschlagenen Terminplaner. Ohne es zu merken, hatte sie bereits für morgen »16:00 Uhr, Dr. Grünthal« notiert. Die Schwester verabschiedete sich und legte auf. Mia hielt den Hörer noch ein paar Sekunden lang ans Ohr gepresst, ehe sie ihn zurück in die Ladeschale steckte. In ihrem Schädel surrte es unentwegt. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen, stattdessen fühlte sie sich zerschlagen. Das konnte jedoch auch eine Nachwirkung der letzten Nacht sein. Nach ihrem schlafwandlerischen Ausflug hatte sie nicht wieder einschlafen können und war kurz nach sechs wie gerädert aus dem Bett gekrochen. Wenn das die nächsten Tage so weiterging, würde sie spätestens am Wochenende einen Kreislaufkollaps erleiden. Es war höchste Zeit, etwas gegen die Kapriolen ihrer Psyche zu unternehmen.

Das wird doch sowieso nichts! Wer weiß, ob du morgen überhaupt dahin fährst. »Das werden wir ja sehen!« Mia biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte. Sie traf hier die Entscheidungen, nicht die Stimme in ihrem Kopf, und sie hatte beschlossen, dass sie Hilfe brauchte.

In ihrem Magen ätzte der Frühstückskaffee. Die Armbanduhr mahnte: dreiviertel acht. Mia kämpfte mit der Übelkeit. Es ging ihr entschieden nicht gut. Sie musste sich endlich mal ausruhen und Kraft schöpfen.