KAPITEL 29
Egal ob es um Menschen, Orte oder Dinge geht – das Problem mit den Legenden ist, dass man fast immer enttäuscht wird, wenn man ihnen im realen Leben gegenübersteht.
Obwohl sie in der Mythologie des Country & Western als eine Art Walhalla-Tor gilt, war die Hintertür des Tootsie’s nur eine Tür – und nicht mal eine besonders eindrucksvolle. Sie war alt und knarrte, und als der Barkeeper sie öffnete, führte sie nirgendwohin, nur in eine enge Gasse hinaus, die zwischen der Rückwand des Tootsie’s und der Westseite des Ryman Auditorium verlief.
Hin und wieder allerdings ergibt sich die Gelegenheit, dem Stoff zu begegnen, aus dem Legenden sind – und das ist dann reine Magie.
Daniel trat in den unscheinbaren Durchgang hinaus. Der Barkeeper folgte ihm. Auch wenn keiner von beiden es zugegeben hätte – zumindest nicht nüchtern –, spürten sie doch Hanks Gegenwart. Wortlos schlossen sie ihre Augen und fühlten augenblicklich den gnadenlosen Schmerz in Hanks verdrehter Wirbelsäule, als wäre es ihr eigener. Beide atmeten tief ein, als sie sich den überwältigenden Erwartungsdruck vorstellten, dem dieser Bauernbengel aus Mount Olive, Alabama, ausgesetzt gewesen war, obwohl er doch eigentlich nur singen und Gitarre spielen wollte.
Sie sagten kein Wort und stellten sich vor, wie sich die Nachtluft für einen Mann angefühlt haben musste, der gefangen war zwischen der erdrückenden Menschenmenge, die sich jeden Samstag im Ryman einfand, und der verqualmten Bar, in der er mit jedem Drink weiter abrutschte. Mit Sicherheit hatte sich der kurze Weg zwischen den Orten wie Freiheit angefühlt. Mit Sicherheit hatte er in diesem schmalen kostbaren Raum für ein paar Momente »six feet of peace« genossen.
Als Daniel schließlich die Augen aufschlug, merkte er, dass er sich zur Rückseite des Tootsie’s gedreht hatte. Die Wand war mit allen möglichen Plakaten für Konzerte und Shows und CD-Release-Partys zugeklebt, in allen Größen und Farben, aber das Plakat, das ihm am direktesten ins Auge stach, war knallgrün. Darauf stand:
DOCKERY PLANTATION
TAKE THE MONEY AND RUN TOUR
A Million Reasons to Follow This Band
Vorsichtig trat Daniel näher heran, denn er war sicher, dass das sein Hinweis war. Er fürchtete sich jedoch vor dem, was er dort finden würde. Er löste das Plakat von der Wand und stellte fest, dass auf der Rückseite eine CD klebte.
»Das hier«, verkündete Daniel triumphierend, »haben wir gesucht.«
Der Barkeeper driftete noch immer mit Hank durch den Nebel der Zeit und knurrte: »Was?«
»Das hier«, wiederholte Daniel und hielt die CD hoch. »Das hier sollte ich finden.«
Es ist nicht ganz einfach, enttäuscht zu sein, wenn man gar keine Erwartungen hatte, aber enttäuscht war der Barkeeper dennoch. »Das? Was zum Teufel ist das?«
Daniel grinste verschlagen. »Gehen wir rein und finden es raus.«
»Das wird Sie was kosten.«
»Nein, wird es nicht.« Daniels Grinsen wurde breiter.
Diesmal blieb der Barkeeper unnachgiebig. Es war eine Frage des Prinzips. »Wenn Sie das hören wollen …« Er überlegte sich einen Preis. »Fünfzig.«
»Keinen Cent.«
Der Barkeeper knurrte. »Na gut, zwanzig.«
Daniel zeigte keine Reaktion und hielt sein gottverdammtes Grinsen durch.
Der Barkeeper redete sich ein, es sei ihm egal, was auf der CD war. Schließlich betraf es ihn nicht. Nicht wirklich. Und doch, sosehr er sich auch bemühte, konnte er nicht bestreiten, dass er wissen wollte, was es mit dieser mysteriösen CD auf sich hatte. »Also gut«, lenkte er schließlich ein. »Aber Sie geben mir wenigstens einen aus.«
Daniels dreckiges Grinsen wurde sogar noch breiter. »Sie können meine Pulle Pabst haben.«
Es gab da eine ganze Menge, was der Barkeeper sagen wollte, aber er begnügte sich mit: »Gehen wir rein.«
Drinnen im Tootsie’s hatte die letztjährige Miss Jackson County ihr Set beendet, und im Laden war es still. Was selten vorkam.
»Geben Sie her.« Der Barkeeper nahm die CD von Daniel entgegen und schob sie in die Anlage hinterm Tresen.
Eine Sekunde später knallte es in sämtlichen Lautsprechern. Eine elektrische Gitarre – sechs Saiten rohe, ungefilterte Scheußlichkeit – fiel mit der Tür ins Haus, und ein schwerer rollender Bass und eine sirenenheulende Mundharmonika stürmten direkt hinterher. Der Schlagzeuger drosch auf seine Kiste ein, als wollte er sie verprügeln. Die Nummer war in ihrer Grundstruktur ein klassischer Blues, aber eben extrem elektrifiziert und verstärkt, was ihr eine trotzige Schärfe verlieh, die einer akustischen Gitarre nicht abzuringen war.
Augenblicklich wusste Daniel, wohin die Reise gehen sollte.
»Oh yeah!«, schrie der Sänger, und das ganze musikalische Gebräu brodelte noch etwas heißer.
»We’re calling you out!«, schrie der Sänger, bevor die Band zum Frontalangriff überging.
You got your fancy mansion, maybe three or four
Got a limo and a jet and a bleach blond Hollywood whore
You got stock and bonds and treasuries
And all that kind of shit
From where I stand
You and your band
Don’t deserve none of it
’cause what you do
Has all been done before and put to bed
And you wouldn’t stand a chance
Cuttin’ heads
With the living dead
»Wer ist das?«, rief der Barkeeper über das wüste Gerangel zwischen einer verstärkten Harp und zwei elektrischen Gitarren hinweg.
Daniel schüttelte nur den Kopf. »Das wüsste ich auch gern.«
Now Charlie Patton played tuned down
But he made that guitar scream
He could play on just five strings
What Page can’t on eighteen
Cutting heads
With the living dead
And Elmore James, he was tweaking his amps
When the Edge was still in shortie pants
Jimmie Rodgers rocked the house
John Lee Hooker was the man
And there ain’t no one can play today
Like that Magic Sam
Cuttin’ heads
With the living dead
Freddy King, everybody knows,
Didn’t need no Lego videos
So run along in your suit of red
’cause you’d be in way over your head
Cuttin’ heads
With the living dead
B. B. may play sittin down
But Slowhand can’t ever take that crown
Cuttin’ heads
Cuttin’ heads
Dann umschwirrten die beiden Gitarren einander im Duell. Ob einer von beiden jemals den Gitarristen gewachsen sein würde, die sie aufzählten, war unwahrscheinlich, doch hatte die Intensität ihres Versuchs etwas Bewundernswertes.
Now, Danny, you played your part too
You whored your soul
You know it’s true
And when your world came crashing down
You’d given up your solid ground
So now you’re going to have to run, my friend
If you ever want to see your cash again
I’m certain you know where to go
Sweet home, Chicago
Die Gitarren prügelten noch ein letztes Mal aufeinander ein, dann kam die ganze Nummer zu einem abrupten Ende.
»Nicht übel«, bemerkte der Barkeeper und gab Daniel die silberne Scheibe zurück.
»Glauben Sie mir«, sagte Daniel, als er die CD zu den anderen in seiner Jacke steckte. »Übel ist gar kein Ausdruck.«