KAPITEL 44
Fast fünftausend Kilometer liegen zwischen Manhattan und Seattle. Ein durchschnittlicher Fahrer in einem vernünftigen Auto schafft die Fahrt in etwas über vierzig Stunden. Ein verzweifelter Mann in einem ramponierten, alten Monte Carlo kann es sogar schneller.
Im Laufe der Jahre hatte sich Daniel eine Sammlung von zwölf Kreditkarten zugelegt. Da ihm der Zustand seines Kreditrahmens mittlerweile völlig egal war, finanzierte er die Fahrt nach Seattle, indem er eine nach der anderen an die erstbesten finsteren Gestalten verkaufte, die ihm Bargeld dafür boten. Das Geniale an diesem Plan war, dass er auf diese Weise nicht nur das nötige Benzingeld in die Taschen bekam, sondern eine großartige Tarnung aufbaute, weil die neuen Besitzer der Karten sich natürlich einem satten Kaufrausch hingaben. Wer auch immer gerade Daniels Transaktionen beobachtete, um ihn aufzuspüren, musste sich auf einmal mit den Belegen für eine elektronische Vollausstattung in Columbus, für eine neue Damengarderobe in St. Paul oder für eine Vergnügungsreise nach Vegas herumschlagen.
In Seattle ist das Central Tavern eine Institution. Es ist nicht nur das älteste Wirtshaus der Stadt. Vor allem hatte der Laden einer lokalen Band namens Nirvana zu ihrem ersten Auftritt verholfen.
Als Daniel endlich dort ankam, sah er schon die Werbung mit dem Bandnamen: »Dockery Plantation«.
Er ging rein und wusste unmittelbar, dass das ganze Geheimnis nun gelüftet war.
Sechs Leute standen auf der Bühne: ein Drummer, ein Bassist, ein Keyboarder, zwei Gitarristen und ein Sänger. Zwischen ihnen herrschte diese typische Art entspannter Kameradschaft, die so oft bei einer Band auf Tour entsteht.
»Danke, dass ihr heute Abend da wart«, rief der Sänger der Menge mit einer für Daniel allzu vertrauten Stimme zu. Es waren noch etwa fünfzig Leute im Laden, was er ganz ordentlich fand angesichts der Tatsache, dass es ein Montag im Februar war.
»Bevor wir für heute Schluss machen, möchte ich euch noch gern die Band vorstellen. Am Schlagzeug Ryan Helms.« Vereinzelter Applaus und ein paar Pfiffe wurden laut. »London Haynes am Bass.« Ähnliche Reaktionen aus dem Publikum. »Wir haben Kevin Connor an den Keyboards. An den Gitarren unser energisches Doppelpack: Jake Robertson. Und Zack Erickson.«
Und bei diesem Namen applaudierte und pfiff Daniel so laut und schrill, dass es einen Moment dauerte, bis der Sänger die Vorstellung der Band beenden konnte: »Ich bin Joe Vigilatura. Wir sind Dockery Plantation, und heute Abend schicken wir euch mit folgendem Song nach Hause: Hier kommt ›The End of the Road‹.«
Der zweite Gitarrist wiederholte die immer gleiche schlichte Akkordfolge auf einer Zwölfsaitigen, während Zack auf Daniels ES-335 eine sanfte, sehnsüchtige Melodie darin verwob. Dann stieg der Sänger ein.
Put the past behind you
Set your burden down
There’s nothing to remind you
It’s all over now
Take your first steps forward
You’ve paid all the debts you owed
It’s your life to run
Run it to the end of the road
Beim Chorus stimmten Drums und Bass und Keyboards unisono ein.
To the end of the road, till you’re late for the sky
Run as fast as you can, till you take off and fly
And if you soar with the angels, or crash to the ground
You can count on me to always be around
I’ll get you back on your feet, and carry the load
I’ll be by your side, to the end of the road
Als das Konzert zu Ende war, machten sich Dockery Plantation schnurstracks zum Tresen, um eine Runde Bier auf Kosten des Hauses zu trinken. Alle bis auf einen. Zack Erickson wusste, dass er noch was zu erledigen hatte.
Daniel hatte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Ladens gesetzt. Zack ging langsam zu ihm hinüber, etwas unsicher, wie er empfangen würde. Er machte sich gerade und versuchte, vor seinen Bandkollegen (und vor seinem Vater) die Tatsache zu verbergen, dass diese zwanzig Schritte von der Bühne zum Tisch den unerschrockenen Rockgitarristen in einen kleinlauten Jungen verwandelt hatten. »Dad.«
Erleichterung. Wut. Freude. Enttäuschung. Gefühle, die keinen Namen hatten. Und andere, die Daniel noch nie empfunden hatte. Schweigend erhob er sich von seinem Platz und gab sich alle Mühe, die emotionale Stärke aufrechtzuerhalten, die jeden Moment in sich zusammenbrechen konnte.
Auge in Auge standen sie da, und beide wussten nicht, was sie dem anderen sagen und was sie machen sollten.
Doch dann schlang Daniel die Arme um seinen Sohn. Er drückte ihn an sich, klammerte sich regelrecht an ihn, als wäre er sein letzter Fixpunkt, das Einzige, was in seinem Leben noch irgendwo verwurzelt war. Das, was nicht untergehen würde in den reißenden Fluten wie in New Orleans, als die Dämme brachen.
»Ist schon gut, Dad.« Zack klopfte Daniel auf den Rücken, als wäre er der Vater, sah sich dabei aber kurz um, weil er checken wollte, ob seine Bandkollegen oder sonst jemand am Tresen merkten, was hier eigentlich passierte. »Ist schon gut.«
Daniel machte sich los. »Nein.« Er wischte mit dem Ärmel über seine Augen. Er war viel zu erschöpft und ausgelaugt, um sich für seine Tränen zu schämen. »Nein, Zack, ist es nicht.«
Da er fürchtete, seine Beine könnten unter ihm nachgeben, setzte sich Daniel wieder hin. Er wollte etwas sagen, stockte aber, versuchte es noch mal und stellte dann fest, dass es ihm nicht möglich war, die Gedanken und Gefühle zu verbalisieren, die in seinem überladenen Hirn herumirrten und rauswollten.
Die Wut war am hartnäckigsten. Am liebsten hätte er rumgeschrien, hätte sich über Zacks unreife und unüberlegte Faxen ausgelassen, die ihn zappelnd und schreiend durch die Hölle geschleift hatten.
Doch da war auch eine tiefe Trauer. Ungeachtet der Motive seines Sohnes schmerzte ihn erneut die Tatsache, dass die Bindung zwischen ihnen nicht so stark wie nötig gewesen war oder zumindest in den letzten paar Jahren massiv gelitten hatte.
Gleichzeitig war Daniel stolz. Er war stolz auf seinen Jungen, weil er einen derart ausgeklügelten Plan ersonnen und ausgeführt hatte. Und weil er darüber hinaus einen guten Musikgeschmack bewies. Dazu mischte sich auch die melancholische Erkenntnis, dass sein kleiner Junge kein kleiner Junge mehr war. Und gedeckelt wurde der ganze emotionale Mischmasch natürlich durch die Erleichterung, dass sein Sohn lebte und ihm hier jetzt einfach gegenübersaß.
Das alles sollte und so vieles musste gesagt werden. Doch heraus kam nur: »Was verfickt noch mal soll das alles?«
Obwohl aus ihm augenscheinlich ein Mann geworden war, holte Zack tief Luft, wie er es schon als kleiner Junge getan hatte – etwa um eine unvorhersehbare Folge von Ereignissen zu erläutern, die einen zertrümmerten Flatscreen oder einen Familienhund mit Irokesenschnitt nach sich gezogen hatte.
Natürlich mangelte es ihm nicht an Erklärungen. Von Anfang an hatte er bei seiner Planung auch an den Erklärungen gearbeitet. Auf jedem Schritt der Reise hatte er seine Geschichte ausgearbeitet und präzisiert, weil er wusste, dass er sich den Fragen seines Vaters würde stellen müssen, am besten mit möglichst knappen und schlüssigen Antworten.
Im letzten Moment jedoch beschloss er, einfach die Wahrheit zu sagen. »Ich hatte Angst.«
»Angst?« Daniel hatte einen amüsanten Reigen an Ausreden erwartet, zu dem Angst nicht gehörte. »Angst wovor?«
Zack holte noch mal tief Luft, aber anders als sonst. Diesmal war es ein verzweifelter Versuch, zu verhindern, dass seine eigenen Gefühle über die Ufer traten. Als er konnte, antwortete er: »Dich zu verlieren.«
Die Worte trafen Daniel mit einer geradezu physischen Macht, die schlimmer war als alles, was Moog ihm antun konnte. Er nahm die Hand vor den Mund, weil ihm der Atem stockte. »Zack.«
»Als du dich umbringen wolltest …« Zack bereute schon, dass er damit angefangen hatte, doch jetzt war es heraus, und er konnte sich nicht mehr bremsen. »Als du das getan hast … da ist irgendwas in mir abgestorben.«
Daniel wollte sich erklären, schwieg jedoch, weil er wusste, dass sein Sohn noch nicht fertig mit ihm war.
»Und selbst als du wieder zu Hause warst, sogar noch, als sie meinten, du wärst wieder gesund – du warst einfach nicht …« Zack machte eine Pause, suchte nach den Worten. »Du warst einfach nicht mehr du.«
»Und du dachtest, indem du mich beklaust …«
»Ich habe dich nicht beklaut«, fuhr Zack ihn an. »Das Scheißgeld ist noch da.« Er rechnete kurz seine Kosten durch. »Das meiste.«
Daniel schüttelte den Kopf, überwältigt von der Bedeutung der Ereignisse. Denen, die passiert waren – und, denen, die noch passieren würden. »Was hast du dir nur dabei gedacht, Zack?«
»Ich dachte, das Einzige, was du je geliebt hast …« Zack wollte sie gar nicht reinziehen, aber da war sie nun: »Abgesehen von Mom …«
»Ich liebe dich.« Daniel hatte die Tiefe dieser Worte nie wirklich verstanden, bis er sie in diesem Moment seinem Sohn sagte.
»Abgesehen von Mom und mir.« Zack ließ sich nicht beirren. »Das Einzige, was du sonst noch geliebt hast, war die Musik. Aber irgendwo, irgendwie ist sie dir verloren gegangen.«
Daniel verzog das Gesicht. »Ich hatte einfach irre viel um die Ohren.«
Das hörte sein Sohn nicht zum ersten Mal. Er ignorierte es auch jetzt.
»An dem Abend, als sie dich abgeholt haben«, erzählte Zack, »blieb ich allein zu Haus. Ich weiß nicht, ich wollte einfach in deiner Nähe sein. Und ich habe diese alten LPs gefunden, diese alten Schallplatten, die du hattest, als du in meinem Alter warst. Mir wurde klar, dass sie dich dazu inspiriert haben, Gitarre zu spielen. Um etwas zu erschaffen. Diese Platten gaben dir das Gefühl, am Leben zu sein. Ich dachte einfach, wenn ich dafür sorge, dass du die Musik wieder für dich entdeckst, wenn ich sie dir wiedergeben könnte … dann könntest du vielleicht auch wieder leben.«
Daniel wusste genau, welche Plattenkiste Zack meinte. Doch die zynische Wahrheit war, dass er sich die LPs nie angehört hatte. Sie stammten von dem alten Mann, dem Daniel damals seine ES-335 abgekauft hatte, als er noch glaubte, er könnte es schaffen, seinen Rock-’n’-Roll-Traum in die Tat umzusetzen. Der Alte meinte damals, er vergeude nur Zeit und Geld für eine solche Gitarre, wenn er nicht die dazugehörige Musik lernte. Drei Wochen später schlug »Driving You Out of My Mind« in die Charts ein. Die Gitarre landete als Deko an der Wand, und die Kiste wurde weggepackt.
Dass sein Sohn einen solchen Plan ausgeheckt hatte, rührte Daniel. Und der Druck, unter dem Zack den Plan verwirklicht hatte, erschütterte ihn.
Mit Mühe fuhr Zack fort. »Und vielleicht würde auch ich wieder lebendig werden.«
»Ach, Zack.« Daniel schloss die Augen und schüttelte den Kopf angesichts der tragischen Ironie. Wie sollte er seinem Sohn jetzt erklären, dass dieser gut gemeinte (wenn auch fehlgeleitete) Versuch, ihm das Leben zu retten, ihn dieses Leben vermutlich kosten würde. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Aber es hat doch geklappt, oder?«, fiel Zack ihm begeistert ins Wort. »Du hast auf deiner Reise was herausgefunden.«
Daniel ahnte, wieso sein Sohn so optimistisch war. »Du hast lange keine Nachrichten mehr gesehen, was?«
»Nein. Wir waren in den letzten paar Tagen nur unterwegs.« Er wollte anfangen zu erklären, merkte aber, dass er es nicht musste. »Na ja, du warst uns auf den Fersen, also, weißt du …«
»Ja. Ich weiß.«
»Aber jetzt geht es dir besser, oder?«
Daniel dachte darüber nach, achtete darauf, seine Hand mit dem fehlenden Finger in der Jackentasche zu lassen. »Es gab Komplikationen.«
Und dann, in einem Augenblick, den Jung – oder Sting – als Synchronizität bezeichnen würde, flog die Tür zur Bar auf, und Daniels Komplikationen kamen herein, alle beide.
»O mein Gott, nein!«, stöhnte Daniel und zog den Kopf ein, um nicht gesehen zu werden.
»Dad, was ist los?«
»Wo ist das Geld?«
»Es ist da, Dad.« Sein Ton deutete an, dass es »keine große Sache« war.
»Wo?«, flüsterte Daniel.
»Die beiden Marshall-Amps da drüben funktionieren nicht«, sagte Zack und deutete auf zwei unbenutzte Gitarrenverstärker. »Was ich nicht ausgegeben habe, hab ich da drin verstaut.«
»Hör mir zu!« Daniels Stimme war scharf und leise, als steckten sie beim Football die Köpfe zusammen, um den entscheidenden Spielzug zu planen. »Ich will, dass du einen dieser Verstärker nimmst und damit abhaust, so weit weg wie möglich. Vergiss den Namen Erickson. Nenn dich Flea oder Bono oder irgendwas.«
»Dad, worauf willst du …?«
»Hör auf mich, nur dieses eine Mal.« Nervös sah er zur Tür. Die beiden hatten ihn noch nicht bemerkt, aber die Zeit lief. »Ich nehme mir den anderen Amp …«
»Ich will das Geld nicht haben, Dad.« Es war Zack wichtig, dass sein Dad das kapierte. »Es ging nie um das Geld.«
»Es war sowieso für dich gedacht. Deshalb habe ich das Geld doch gespart. Aber jetzt brauch ich was davon.«
»Klar.«
»Jetzt nimm den Amp, pack deine Band zusammen und geh.« Er versuchte, der Dringlichkeit Ausdruck zu verleihen, ohne die Panik preiszugeben, die in ihm hochstieg. »Sofort. Du musst hier weg.«
»Dad?«
»Tu es für mich, Zack.« Drüben sah er, dass Moog und Rabidoso mit dem Mädchen hinterm Tresen sprachen. »Hau ab. Jetzt.«
Zack nickte und stand auf, obwohl er nichts verstand.
Daniel blickte zu seinem Sohn auf. »Ich bin stolz auf dich. Und ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Der junge Mann drehte sich um und ging. Da erst dämmerte es Daniel, dass er gerade Abschied nahm von seinem Sohn. Für immer.
»Und, Zack …«
Sein Sohn wandte sich um.
»Ich habe mein Leben verpfuscht.« Zack wollte etwas zu Daniels Verteidigung sagen, doch der unterbrach ihn. »Ich habe nie irgendwas gemacht, das irgendeine Bedeutung hatte.« Es war ihm wichtig, dass sein Sohn das wusste. »Nichts außer dir. Die Menschen haben Pyramiden gebaut. Und Meisterwerke gemalt. Sie haben Exile on Main Street aufgenommen. So viele Menschen haben Erstaunliches geleistet. Aber wenn ich dich ansehe, den Mann, der aus dir geworden ist, spüre ich, dass ich einen kleinen Anteil an etwas habe, das viel größer ist als alles andere.« Er hätte noch mehr zu sagen gehabt, doch es gab keine Worte mehr dafür. Und keine Zeit. »Danke.«
Zack lächelte. »Gern geschehen.«
Eine Sache musste Daniel noch loswerden.
»Und, Zack …«
»Ja?«
»Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass Musik kein Leben ist? Dass der Rock ’n’ Roll tot ist?« Sein Sohn nickte. »Vielleicht wusste ich einfach nicht, wo ich den Puls fühlen sollte.« Zack lächelte. Daniel lächelte auch. »Rock dein Ding. Und lass dich bloß nie davon abbringen.«
»Sowieso nicht.« Damit drehte sich sein Sohn um und gesellte sich zu seinen Kumpels an die Bar.
Daniel sah ihm nach.
Und dann war er bereit. Daniel stand auf, ging zum Equipment der Band rüber und griff sich unauffällig einen der Verstärker mit dem Geld.
Er machte eine Drehung, um zu gehen, stellte jedoch fest, dass ihm der Weg von einem Riesenkühlschrank im Jackett verstellt war. »Hallo, Daniel.«
»Moog.« Überrascht war er nicht, dass sie ihm hierher gefolgt waren, aber neugierig war er schon: »Wie habt ihr mich denn gefunden?«
Moog verstand die Neugier und war gern bereit, ihm zu antworten. »Das Zigarettenpäckchen, das ich dir in die Tasche gesteckt habe, als du diesen Mantel von mir bekommen hast …«
»Ja?«
»Hat ’n Peilsender«, erklärte der große Mann nüchtern. »Ich hab dich den ganzen Weg bis hierher verfolgt.«
Daniel grinste und schüttelte den Kopf. Wie oft hatte er daran gedacht, die Kippen wegzuwerfen. »Da warnen sie einen, dass Rauchen tödlich sein kann, aber an so was denkt doch keiner.«
»Du hättest nicht abhauen sollen, Daniel.« Moogs Stimme war tief und ruhig.
»Ja, du hättest wirklich nicht abhauen sollen, du kleiner Scheißer«, stimmte Rabidoso ein.
»Doch«, beharrte Daniel. »Es war das einzig Richtige.« Er hielt den Verstärker hoch. »Ihr hattet doch nicht vor, mit leeren Händen nach Vegas zurückzufahren, oder?«
»Das ist jetzt egal«, zischte Rabidoso.
»Ach so?«, höhnte Daniel. »Ich habe aber euer Geld.«
»Wo?«, wollte Moog wissen.
»Hier.« Daniel hob den Amp so hoch, wie er konnte.
Rabidoso sah zu der Band hinüber, die dort am Tresen stand, und machte sich auf den Weg dorthin.
»Hey«, rief Daniel, um ihn aufzuhalten. »Es war nur ein kleiner Streich von einer Band, die ich früher mal gemanagt habe.«
»Soso?« Rabidoso fuhr herum, denn eigentlich interessierte er sich mehr dafür, Daniel als Lügner zu entlarven.
Skeptisch sah Moog zur Band hinüber.
Rabidosos Blick war um einiges gewaltbereiter. »Allein schon für den Ärger, den sie uns gemacht haben, sollten wir alle umlegen.«
»Nein!« Daniel bellte es wie einen Befehl, merkte aber sofort, dass es ein Fehler war. Er sah Moog an und begann zu argumentieren. »Wenn ihr die Aufmerksamkeit endgültig auf Filat lenken wollt, schießt ruhig eine Bar in Seattle zusammen und tötet ein paar unschuldige Kids. Das hilft euch bestimmt weiter.« Moog schien es langsam einzusehen. »Außerdem habe ich das Geld. Und ihr habt mich. Was wollt ihr noch?«
Das Urteil des Riesen kam schnell, knapp und ohne Widerspruch. »Er hat recht.«
Und natürlich passte das Rabidoso wieder alles nicht. »Was soll das heißen, er hat recht? Willst du mir sagen, die Scheißkids haben uns zehn Tage quer durchs ganze Land gejagt, und wir lassen sie so einfach …«
»Ich sage: Wir haben, was wir wollen. Jetzt lass uns verschwinden.« Moog deutete auf die Hintertür und trieb die beiden anderen darauf zu.
»Hör auf, mich rumzuschubsen, Mann«, schimpfte Rabidoso.
»Schubsen?« Moog blieb stehen. »Ich trete dir gleich in den Arsch, wenn du nicht die Tür aufmachst und endlich in die Gänge kommst.«
Daniel wollte die beiden so schnell wie möglich aus der Bar haben. Er steuerte zügig auf die Tür zu, öffnete sie und trat in die Gasse hinter dem Laden. »Jungs, lasst uns einfach abhauen.«
Moog schob den kleinen Mann hinaus und folgte ihm auf dem Fuße. Daniel hielt den beiden die Tür auf und warf einen letzten Blick auf seinen Sohn. Dann ließ er die Tür zufallen. Jetzt würde alles gut werden – alles, was wichtig war.
»Mann, das ist doch Scheiße«, nervte Rabidoso draußen in der Gasse weiter.
Moog ging gar nicht darauf ein. »Halt jetzt die Schnauze!«
»Das war doch alles kein kleines Späßchen.« Rabidoso kam auf Daniel zu. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, ich habe in Kalifornien die falsche puta umgelegt. Ich glaube, deshalb hast du nie versucht, deinen Sohn zu rächen. Ich glaube, du hast ihn von Vegas aus angerufen und ihm gesagt, er solle das Geld aus dem Haus schaffen.«
Daniel wurde unruhig. Nicht nur, weil Moog Rabidoso nicht zurechtwies. Der Riese schien sich vielmehr ehrlich für das zu interessieren, was der Psycho-Pimpf zu sagen hatte.
»Ich glaube, du hast uns die ganze Zeit nur durch die Gegend gescheucht, um irgendwann abzuhauen«, fuhr Rabidoso fort. »Dann bist du hierher, um dir Geld zu holen und endgültig abzutauchen. Ich glaube, dein Sohn ist noch da drinnen in dieser Bar. Und ich glaube, Mr. P. würde nur zu gern deinen Gesichtsausdruck sehen, wenn ich den kleinen Scheißer vom Balkon schubse. Ich glaube, das ist ein Angebot, mit dem wir bei Mr. P. einiges wiedergutmachen können.«
Moog dachte darüber nach. Und verwarf es. »Das hat alles nichts mit unserem Auftrag zu tun.«
»Ich bitte nicht um deine Erlaubnis, Gigantor.« Und schon hielt Rabidoso seine 9 mm in der Hand. »Ich gehe jetzt da rein, schnapp mir den kleinen Scheißer und schenke ihn Mr. P. Und wenn der ihn nicht will, opfere ich ihn selbst Santa Muerte.« Rabidoso machte kehrt, um wieder durch die Hintertür hineinzugehen.
Daniel holte mit dem Verstärker aus und schlug ihn Rabidoso so heftig an den Kopf, dass der kleine Mann auf den Asphalt sackte und sich krümmte.
Dann hob Daniel den Amp hoch über seinen Kopf, bereit für den Gnadenstoß. Doch ein scharfes Klicken lenkte ihn ab. Er drehte sich um und sah, dass Moog seine Desert Eagle gezogen hatte und direkt auf ihn zielte. »Ich kann den kleinen Pisser auch nicht leiden, aber das da war ein schwerer Fehler.«
Bevor er etwas erklären konnte, spürte Daniel den kalten Stahl von Rabidosos Waffe in seinem Nacken. »Ich werde dich dermaßen umlegen …«
Der Lauf von Moogs Pistole schwenkte von Daniel zu Rabidoso. »Wehe!«
Der Mexikaner sah die Entschlossenheit in den Augen des großen Mannes. Er wusste, dass es nichts zu gewinnen gab, wenn er es jetzt drauf anlegte. Er steckte seine Pistole wieder in den Hosenbund und hob beide Hände, damit sein Partner sie sehen konnte. »Recht so?«
»Mir war nichts mehr recht, seit der ganze Scheiß hier losgegangen ist.«
Rabidoso lachte nur. Und dann schlug er Daniel voll an den Hals.
Der Amp fiel auf den Asphalt, als Daniels Hände instinktiv an die getroffene Stelle griffen. In der nächsten Sekunde traf ihn Rabidosos zur Billardkugel geballte Faust hart auf die Nase. Das Blut spritzte wie aus einem kaputten Wasserrohr. Der nächste Schlag traf voll das rechte Auge. Der nächste wieder die Nase.
Daniel taumelte rückwärts.
Ein Augenblick Stille. Dann Finsternis.
Im nächsten Moment sah er den Himmel. Er lag auf dem Boden, Rabidoso saß auf seiner Brust, und die Schläge prasselten auf ihn ein wie der Schauer aus einem Wolkenbruch im Nordwesten.
»Hör auf!«, befahl Moog.
Rabidoso ignorierte ihn.
Ein Ferragamo, Größe 48, trat das Kerlchen zu Boden. Die Desert Eagle überzeugte ihn schließlich, es nicht weiter drauf anzulegen. »Jetzt stell ihn wieder auf die Beine, und lass uns gehen.«
»Fick dich!« Rabidoso stand auf, dachte aber gar nicht daran, sich zu fügen. Nicht schon wieder. »Du meinst, du schmeißt den Laden hier? Einen Scheiß tust du! Seit wir losgefahren sind! Denkst du, du bist das einzige Arschloch mit Handy?« Er holte sein Telefon aus der Hosentasche. »Astreines Motorola Android, esse. Das Beste vom Besten. Du bist nicht der Einzige, der mit Mr. P. Kontakt hat. Was glaubst du eigentlich, wieso er mich mitgeschickt hat, du hirnloser Gorilla?« Er steckte das Handy wieder weg. »Was meinst du, wie uns diese Scheißbiker dauernd wiederfinden, du Vollidiot? Fick dich ins Knie, ich mach hier die Ansagen! Meinst du wirklich, du hast in der Sache irgendeine Zukunft, Arschloch?«
Unter anderen Umständen hätte Moog diese Auseinandersetzung mit den Fäusten beendet, aber irgendwas an der Frage verschlug ihm die Sprache. Eine Ungewissheit, die an ihm nagte, seit sie auf diesen Trip gegangen waren.
»Du bist die Vergangenheit, esse. Ich bin die verdammte Zukunft. Und in meinen Plänen spielst du keine Rolle. Ebenso wenig wie in Mr. P.s Plänen. Ich gehe jetzt da rein und greif mir den verfickten Sohn von diesem Schwanzlutscher hier. Und wenn du mich aufhalten willst, versuch es lieber gleich. Aber wenn ich nach Vegas komme und Mr. P. erzähle, was wir hätten haben können, was du ihm alles vorenthalten hast, dann wird deine Abschiedsparty nur umso schmerzhafter ausfallen. Glaub mir«, er funkelte den großen Mann giftig an, »ich weiß das. Ich werde nämlich selbst das beschissene Abschiedskomitee sein!«
Daniel nutzte die Zeit, die Rabidosos Monolog dauerte, um wieder auf die Beine zu kommen. »Nein!« Er war zu weit gekommen, hatte zu viel durchgemacht, um jetzt zuzulassen, dass Zack etwas zustieß. Er torkelte vorwärts wie ein George-Romero-Zombie. »Ich lasse nicht zu, dass du meinen …« Voller Verzweiflung stürzte er sich auf den Mexikaner und riss ihn zu Boden.
Es lag nichts Geschicktes oder Heroisches in der Art und Weise, wie Daniel kämpfte. Es war sowieso weniger ein Kämpfen als vielmehr die hektische Betriebsamkeit eines wütenden Säugetiers, das seinen Nachwuchs verteidigte. Daniel drückte seine Daumen mit aller Kraft in Rabidosos Augenhöhlen, dann schwang er wild die Fäuste. Er riss ganze Haarbüschel vom Kopf des kleinen Mannes und biss ihm dann fest ins Ohr. Dabei knurrte und fauchte er die ganze Zeit wie ein Tier.
Rabidoso war ein harter Hund, doch selbst er war einer solchen Attacke nur bis zu einem gewissen Grad gewachsen. Er hatte Mühe, sich zu befreien und auf die Beine zu kommen. Ziemlich angeschlagen taumelte er herum, während sein Hirn fiebrig versuchte, die verschiedenen Schmerzen zu verarbeiten. Aber kaum war er wieder bei sich, griff er Daniel, der seinerseits nur mühsam wieder auf die Beine kam, erneut an. Er erwischte ihn hart und rammte ihn gegen den grünen Müllcontainer am Ende der Gasse.
Die Wucht war enorm, der schwere Container verrutschte fast einen halben Meter, als Rabidoso und Daniel davon abprallten und auf dem Asphalt landeten. Der Lärm hallte höllisch durch die Nacht. Sie rollten hin und her, doch war es Rabidoso, der schließlich die Oberhand gewann und Daniel unter sich festhielt.
Blutig und geschunden, von seinen Psychosen getrieben, dachte Rabidoso weder an seinen Auftraggeber noch an seine berufliche Laufbahn oder an sonst irgendwas. Als er die Klinge aus seiner Hosentasche zog, wünschte er sich nichts anderes, als Daniel das Herz aus der Brust zu schneiden. Er holte mit dem Messer aus.
Keiner konnte sagen, woher der Hund kam. Die logischste Erklärung war noch, dass es sich um ein herrenloses Tier handelte, das sich hinter dem Müllcontainer häuslich eingerichtet hatte und instinktiv auf eine Bedrohung seines Territoriums reagierte. Möglich war auch, dass die Töle irgendwem in der Nachbarschaft gehörte und gerade dabei war, ihre magere Ration im Müll aufzubessern. Oder es geschehen von Zeit zu Zeit einfach Dinge, die sich weder erklären noch begreifen lassen. Dinge wie Liebe und Musik – und hin und wieder ein attackierender Hund.
Dieser war braun und weiß, mindestens fünfunddreißig Kilo schwer und noch übler drauf als Rabidoso. Er schnappte nach dem Arm, der Daniel das Messer in die Brust rammen wollte, und grub seine Zähne ins Fleisch, bis sie auf die Knochen trafen. Als sich seine Kiefer schlossen, warf das Tier seinen Kopf wild hin und her, was die Zähne immer tiefer trieb und die Wunde weiter und weiter aufriss.
Rabidoso schrie und fluchte, während er vergeblich versuchte, seinen Arm aus dem knurrenden Maul des Köters zu befreien. Mit knirschenden Zähnen griff er mit der linken Hand das Messer aus der verkrampften schmerzenden rechten und stach auf den Hund ein. Tatsächlich verletzte er ihn mit einer Wunde, die sich über die ganze linke Flanke zog. Der Hund jaulte vor Schmerz, ließ den Arm los und verzog sich humpelnd hinter den Container.
»Was hatte ich dir gesagt?« Die Worte kamen aus Moogs Mund, doch so tief, alt und grausam klang die Stimme nicht wie seine. »Was verfickt noch mal habe ich dir gesagt?«
Rabidoso war damit beschäftigt, die tiefe Wunde in seinem Arm zu begutachten, und deshalb einigermaßen überrascht, als der große Mann ihn so anging. »Was?«
»Ich hatte dir gesagt, wenn ich noch einmal sehen muss, dass du einen Hund anrührst …« In den Augen des großen Mannes loderte blanker Zorn.
Ärgerlich blickte Rabidoso auf. »Was redest du?« Er hatte gerade überhaupt kein Interesse an dem dauernden Konkurrenzgekabbel mit Moog. Er wandte sich wieder der Wunde zu. Er war sicher, dass sie genäht werden musste. Und dass er eine Spritze brauchte.
Moogs rechte Hand aber packte Rabidosos Trikot und hob ihn daran über seinen Kopf – wie einen kleinen Spielzeugpsychopathen. »Du liebst sie doch so sehr, oder? Dann bestell deiner beschissenen Muerte mal einen schönen Gruß!«
Vielleicht stimmte Rabidosos vollmundiges Gelaber darüber, dass er in seinem Leben nie Angst gehabt hatte. Doch in diesem Moment machte er den Mangel mehr als wett. Panisch tastete er nach seiner Pistole, doch kaum hatte er den Griff gefunden, da knallte ihn der große Mann mit solcher Macht gegen den Müllcontainer, dass er den Stahl verbeulte und Knochen splitterten. Die Pistole fiel dem Mexikaner aus der kraftlosen Hand.
Ohne jeden Unterlass wiederholte Moog die simple Bewegung. Er hob Rabidoso hoch und knallte ihn gegen den Container. Immer und immer wieder, bis der Mexikaner keinen heilen Knochen mehr im Leib hatte. Schließlich hob Moog den leblosen Pimpf ein letztes Mal über seinen Kopf in die Luft und ließ ihn dann einfach fallen.
Im nächsten Moment taumelte der große Mann nach hinten. Er konnte gar nicht sagen, was passiert war. Er wusste nicht, was er getan hatte. Er blickte die Gasse hinunter. Er sah Rabidoso reglos in seinem eigenen Blut liegen, die rote Pfütze wurde größer und größer. Er blickte in die andere Richtung, die Gasse hinauf. Daniel war weg. Das Geld war weg.
In der Ferne hörte Moog Sirenen. Er konnte nicht wissen, ob es Zeugen für das gab, was er hier getan hatte. Er war aber sicher, dass die Bullen seinetwegen kamen. Er betrachtete seine Schuhe. Sie waren voller Blut. Seine Anzughose auch.
Die Sirenen kamen näher.
Er überlegte, ob er sich überhaupt die Mühe machen sollte, wegzulaufen. Wäre seine Flucht den Aufwand wert? Eine Flucht wohin überhaupt? Sein Schicksal war besiegelt. Unwillkürlich jedoch wünschte er, er könnte wenigstens einmal im Leben seinem Schicksal entkommen.
Am Ende der Gasse hörte er Reifen quietschen. Er blickte auf und sah den Wagen. Es war ein kastanienbrauner Monte Carlo. Daniel saß am Steuer.
»Los, steig in den gottverdammten Wagen!«