KAPITEL 39

Jede Stadt auf der Welt hat den einen oder anderen Spitznamen, aber Philadelphia als »Stadt der brüderlichen Liebe« zu bezeichnen scheint doch einigermaßen unangemessen. Bei der letzten Zählung gab es über anderthalb Millionen Philadelphier. Und fast alle suchen sie Streit.

Moog hielt den Wagen am Straßenrand und sah sich den Block an. »Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?«

»212 North 12th Street«, bestätigte Daniel. »Hier ist Sigma Sound. Wenn der Song ›Phillysound‹ sein soll, dann kann man davon ausgehen, dass er hier aufgenommen wurde.«

»Das soll mir reichen.« Der Riese wuchtete sich aus dem Fahrersitz des Lexus hervor und warf die Tür zu.

Rabidoso kletterte auf der anderen Seite aus dem Wagen, war aber nicht ganz so begeistert von dem Plan. »Langsam reicht’s mir mit dem Quatsch. Er führt uns doch nur an der Nase rum. Sperren wir ihn in den Kofferraum, bringen ihn Mr. P., und dann sehen wir mal, was wir aus ihm rausquetschen können.«

Bevor der große Mann antworten konnte, rief eine Stimme: »Cowboys sind Schwanzlutscher!«

Rabidoso, der sein Trikot der Dallas Cowboys mit einigem Stolz trug, fuhr herum und entdeckte eine Gruppe von vier Männern auf der anderen Straßenseite. »Ihr seid Schwanzlutscher!«, giftete er zurück und fügte hinzu: »Chinga a tu madre!« Nachdem das Problem zufriedenstellend geklärt war, drehte er sich wieder zu Moog um. »Wir sollten endlich mit dem ganzen Musikquatsch aufhören und …«

»Härte« bezeichnet das Maß, in dem sich ein Objekt unter Druck oder Gewalteinwirkung seiner Formveränderung widersetzt. Der Schneeball, der über die 12th Street flog, war zu einem Härtegrad gepresst, den man mit einem Vorschlaghammer hätte testen können. Als er Rabidoso traf – knapp über dem rechten Ohr –, ging dieser wie angeschossen zu Boden.

Brüllendes Gelächter schallte über die Straße, die vier Cowboy-Hasser kringelten sich hysterisch. »Lutsch das!«, rief einer aus dem andauernden Gegacker heraus, das in einem Schlachtruf mündete: »E-A-G-L-E-S! Eagles!«

Es war eine Frage des Stolzes, dass Rabidoso schnell wieder auf die Beine kam, aber es ließ sich nicht leugnen, wie benommen er noch war. Er fasste sich ans rechte Ohr und stellte wortlos fest, dass ein blutiges Rinnsal daran herablief.

»Tu es nicht«, warnte Moog, aber selbst der große Mann wusste, dass es nicht der richtige Augenblick war, sich mit dem Psychokiller anzulegen.

Rabidoso verrieb sein Blut zwischen den Fingern, als erregte ihn das Gefühl. »La concha tu madre!«, schrie er, während seine kleinen Cowboy-Boots zielstrebig über die North 12th Street marschierten.

»Lass es!«, rief ihm Moog hinterher, machte aber keine Anstalten, einzugreifen. »Lass es einfach sein!« Rabidoso blieb nicht stehen, aber das hatte Moog auch nicht von ihm erwartet.

Als dieser Killerpimpf sich den vier Eagles-Fans näherte, wuchs deren Gelächter zu einem Chor aus »Ooooooohs« und »Guck ihn dir an! Guck ihn dir an!«.

Der Größte der vier richtete sich auf und streckte die Brust heraus. Aus seinem Mund klang die Herausforderung wie ein einziges Wort: »Waswillstdukleinerscheißer?«

Rabidoso sagte kein Wort, aber seine Antwort war unmissverständlich. Er langte in den Hosenbund seiner Jeans.

Vielleicht hatten die vier Männer auf der anderen Straßenseite gedacht, ihr Opfer sei zu klein, um sich gegen sie zu wehren. Vielleicht hatten sie angenommen, dass eine Auseinandersetzung auf die Fäuste beschränkt bliebe – und Tritte, wenn der kleine Bursche erst am Boden lag. (Schließlich waren sie hier in Philly.) Aber offensichtlich hatte sich keiner von ihnen gedacht, dass es zu einer Schießerei kommen könnte, denn sie wirkten alle komplett verblüfft, als er seine 9 mm zückte und die Schüsse abfeuerte.

Bamm. Bamm. Bamm.

Es ging alles so schnell, dass Daniel, der noch beim Lexus stand, erst klar wurde, wieso die Männer umfielen, als drei von ihnen schon am Boden lagen.

Moog wollte erst die Straße überqueren, dann überlegte er es sich anders, weil er nicht in einen Mehrfachmord verstrickt werden wollte. Er drehte sich zum Wagen um und rief Daniel zu: »Steig ein! Wir müssen hier weg!«

Der vierte Eagles-Mann – der Einzige, der noch stand – blickte Rabidoso in die Augen, doch sah er nichts als den Teufel. Er fuhr herum und rannte so schnell er konnte, ohne sich um seine gefallenen Kumpel zu kümmern.

Rabidoso lief ihm hinterher, dabei blieb er alle vier, fünf Schritte stehen, um die nächsten Schüsse abzugeben.

Bamm. Bamm. Bamm. Bamm.

Die ersten gingen weit daneben, doch der dritte und vierte trafen ihr Ziel und erlegten den Mann wie einen Rehbock am Montag nach Thanksgiving. Er schlug auf die matschige Straße, zuckte ein-, zweimal, dann rührte er sich nicht mehr.

Rabidoso hörte auf zu rennen und ging langsam zu ihm. Einen Moment beugte er sich leicht über ihn und genoss das entsetzte Wimmern des Mannes. »Großer Gott. Bitte! Ich hab Frau und Kinder, Mann! Bitte, tut es nicht!«

Rabidoso ging neben ihm in die Hocke und sah ihn sich an. »Machst du dir Sorgen, weil du sie zurücklässt? Deine Frau und die Kinder?«

Blut und Schleim liefen dem Mann aus Mund und Nase, als er ein kraftloses »Ja« hervorwürgte.

»Ich sag dir was …« Rabidoso griff nach der Brieftasche des Mannes und klappte sie auf. »Ich sag dir was, Anthony Esposo, 1411 Carning Street. Ich bin ja kein Ungeheuer. Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, wie deine Frau und deine Kinder allein zurechtkommen sollen, wenn ich dir hier jetzt ein Ende mache.«

»Danke«, sagte der Mann in der Annahme, es ginge hier um Gnade.

»Du kannst in Ruhe sterben, denn wenn ich hier fertig bin, fahre ich direkt zu dir nach Hause und mach die Fotze und die beiden kleinen Pisser kalt!« Der Mann fing an zu jammern. Rabidoso schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Bamm!

Auf dem Bordstein begann einer der zuerst getroffenen Männer vor Schmerz zu schreien. »Jesus! Jesusmaria!«

Moog wusste, dass das Morden jetzt kein Ende nehmen würde. Er ließ den Wagen an und rief Daniel zu: »Steig verdammt noch mal ein!«

Sprachlos stand Daniel da. Moogs Stimme riss ihn aus seiner Erstarrung. Er lief zum Lexus, riss die Tür auf, doch dann erstarrte er gleich wieder.

»Steig in den Wagen!«, befahl Moog. »Wir müssen …«

Was sie sich auch erhofft hatten, als sie nach Philly kamen – es war endgültig alles hinüber. Die Hoffnung war das fünfte Opfer von Rabidosos Wutanfall. Nach einem vierfachen Mord konnten sie unmöglich in der Stadt herumspazieren und sich ihrer musikalischen Schnitzeljagd widmen. Jetzt blieb ihnen nur noch ein einziges Ziel: Vegas.

Wenn er überhaupt bis Vegas kam. Daniel war soeben Zeuge eines Vierfachmordes geworden. Würde Rabidoso ihn am Leben lassen?

Nein, wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, sich oder seinen Sohn zu retten, musste er hier weg. Und zwar sofort.

Hinter sich hörte er Moog schreien: »Erickson! Komm zurück!« Dann folgten ein paar Schüsse, mit denen Rabidoso beendete, was er begonnen hatte. Einen kurzen Moment herrschte Stille, dann hörte er das Heulen von Polizeisirenen.

Daniel achtete nicht mehr darauf. Er rannte einfach immer weiter.

Er rannte, wusste aber, dass er weder schnell genug noch weit genug laufen konnte. Ab sofort würde man ihn suchen. Jeden Stein würde man umdrehen. Er musste ein Versteck finden. Außerdem eine Möglichkeit, aus der Stadt herauszukommen. Sein Verstand raste, er suchte die Umgebung ab. Der Fischlaster, der ganz hinten in der kleinen Gasse abseits der Race Street parkte, schien ihm beides zu bieten.

Nach seiner letzten Fahrt in einem Truck sparte sich Daniel die Mühe, den Fahrer um Erlaubnis zu bitten, ob er einsteigen durfte. Stattdessen schob er die hintere Ladeluke auf, kletterte in den leeren Laderaum und setzte sich am anderen Ende mit dem Rücken gegen die Wand. Unruhig wartete er darauf, dass der Fahrer seine Lieferung beendete und ihn irgendwohin brachte – weit, weit weg.

Ganz allein im Dunkeln drifteten seine Gedanken auf einmal zu Connie. In eine Zeit, in der sie beide viel zu verliebt (oder zu jung) gewesen waren, als dass die Welt ihnen irgendetwas hätte anhaben können. Und dann in die Zeit ihres Endes, als sie sich schwer angeschlagen in ihre jeweiligen Ecken schleppten, nachdem die Welt sie doch auseinandergerissen hatte.

Er überlegte einmal mehr, wo sein Sohn sein konnte. Und wieso er nichts von ihm gehört hatte. Er fürchtete, dass Zack zu den Millionen Leuten gehörte, die die Story über den Irren auf seinem Amoklauf quer durchs Land angeklickt hatten.

Und dann machte Daniel sich Sorgen, dass noch andere wie Rabidoso da draußen waren. Andere, die ihn suchten, die ihn finden würden – ihn oder Zack.

Und was konnte er jetzt dagegen tun? Alles, was hier in Philadelphia auf ihn gewartet hatte, war nun für immer unerreichbar. Das Rätsel würde ein Geheimnis bleiben. Er konnte nichts mehr tun. Rein gar nichts.