DREI
»Verantwortung«, Otto Winkelmann paffte stolz an seiner Pfeife, »ist das grundlegendste Überlebensrezept der Natur. Heinz’ Geburtstagsgeschenk wird ihm helfen, zu lernen, was dieses Wort wirklich bedeutet.«
Kraus hatte bereits einiges darüber zu hören bekommen, als er zuvor von der Arbeit nach Hause gekommen war. Stefan und Erich hatten sich auf ihn gestürzt und ihm damit in den Ohren gelegen, dass Winkelmanns ihrem Sohn ein Zehnliter-Aquarium zum Geburtstag geschenkt hatten, mit ganz vielen Guppys. »Können wir nicht auch so eines bekommen?«, hatten sie gejammert. Jetzt, beim Abendessen, erfuhr Kraus, dass Heinz, kurz nachdem das Aquarium aufgebaut worden war, auch eine Lektion über Schmetterlinge und Blumen und Bienen bekommen hatte, in gewisser Weise jedenfalls. Denn in nur wenigen Minuten hatte einer dieser Guppys seinen dicken Bauch verloren und war spindeldürr geworden. Dafür schossen ein Dutzend silbrig glänzender Pfeile im Wasser herum.
»Kann das denn wirklich stimmen?«, fragte Ottos Schwägerin ungläubig ihren Ehemann. »Legen Fische denn keine Eier?«
»So, es geht lo-hos!«. Frau Winkelmann stürmte durch die Terrassentür, praktisch unsichtbar hinter den dampfenden Serviertellern.
Die Gäste am Tisch nahmen Haltung an und verliehen ihrer Begeisterung lautstark Ausdruck.
Zu Ehren von Heinzis Geburtstag ließ sie den wenigen Auserwählten – als da wären Vicki, Kraus und ihre Verwandten, die Klempers – das exklusive Vergnügen ihrer scharf gewürzten Rippchen zuteil werden.
Unwillkürlich fühlte sich Kraus in die Gruppentrance hineingezogen, als seine Nachbarin das Tablett abstellte. Er hatte zwar nach dem Mittagessen im Präsidium nicht allzu viel Appetit, aber einige Rituale waren zu verführerisch, um ihnen zu widerstehen.
»Du bist wahrhaftig ein Meisterkoch, Irmgard.« Vicki applaudierte, als wäre es die Premiere in der Oper. »Niemand würzt Rippchen so wie du.«
Ihrem Gastgeber Otto Winkelmann fiel dazu noch etwas Denkwürdigeres ein. »Wisst ihr noch, wie oft wir von einer solchen Mahlzeit nur träumen konnten? Erst während des Krieges, dann während der Revolution und dann ...«
»Also wirklich, Otto«, platzte seine Schwägerin heraus. »Warum musst du immer an solchen Dingen rühren? Ich mag nicht einmal daran denken.« Frau Klemper legte ihre dicken Finger auf ihren Busen und schnüffelte an dem Fleisch. »Ich weigere mich schlicht, jemals wieder an diese schrecklichen Zeiten zurückzudenken.«
»Das ist idiotisch, Magda.« Ihr Ehemann verdrehte die Augen, als hätte sie etwas zutiefst Peinliches von sich gegeben. »Erinnerung ist das Einzige, was uns vor dem Vergessen bewahrt. Stimmt doch, Otto, oder?« Felix Klemper stopfte sich eine Serviette zwischen seinen dicken Hals und den Hemdkragen. Er war Direktor irgendeiner zweitklassigen Versicherungsfirma am Hermannplatz und liebte es, wie Kraus sich erinnerte, mit seinem dummen Geschwätz zu demonstrieren, wie überlegen er seiner Gemahlin war. Dieser Mann war ein waschechter Flegel.
Und seine Frau war auch nicht gerade eine Leuchte.
Die Rippchen jedoch waren in scharfem Pfeffer, Senf und Meerrettich gekocht und sahen wirklich großartig aus. Und sie waren scharf genug, um einem eine Woche lang Verdauungsstörungen zu bereiten. Vielleicht ist ein solcher Reizzustand ja nur ein natürlicher Teil des Lebenszyklus, überlegte Kraus, dessen Magensäfte bereits strömten, als ein übervoller Teller in seine Richtung gereicht wurde. Er gab keinen Pfifferling auf die aufgeblasenen, angeheirateten Verwandten der Winkelmanns, stellte jedoch fest, dass er regelmäßig mit ihnen zu Abend aß.
Wie die meisten Mietblocks im bürgerlichen Wilmersdorf war auch der in der Beckmannstraße 82 bis 84 rund um einen zentralen Hinterhof erbaut, in dem ein Flecken Gras und ein paar Bäume wuchsen. Sieben Jahre lang wohnten die Familien Kraus und Winkelmann bereits Tür an Tür im dritten Stock. Sie teilten sich einen gemeinsamen Balkon, und ihre Jungen waren gleich alt. Obwohl die eine Familie jüdisch und die andere christlich war, hatte sich ihrer beider Leben miteinander verwoben wie das Efeu, das an den Mauern des Hinterhofs hinaufwuchs.
Kindergeburtstage wurden stets gemeinsam gefeiert. Zum Glück war es an diesem Herbstabend warm genug, um den von Heinz Winkelmann in leichten Sommerjacketts auf der Terrasse zu feiern. An den Rankgittern über ihren Köpfen blühten immer noch Rosen. Die Kinder, die nicht einmal an ihren Geburtstagen Delikatessen wie scharf gewürzte Rippchen bekamen, hatten bereits ihr aus Klößen bestehendes Abendessen verdrückt und waren im Hof zu hören, wo sie Cowboy und Indianer spielten. Die Erwachsenen waren bereits bei der dritten Flasche Riesling angelangt und konnten es kaum erwarten, endlich zu schlemmen. Aber als sie sich gerade auf das Fleisch stürzen wollten, erstarrte Frau Klemper, das Messer in der Hand, und sah sich mit vor Verlegenheit gerötetem Gesicht um. »Seid ihr wirklich alle sicher, dass man diese Rippchen ungefährdet essen kann?«
Die Wucht des folgenden Schweigens hätte den ganzen Mietblock dem Erdboden gleichmachen können.
Das Entsetzen in den Augen von Frau Winkelmann verdeutlichte, dass ihre Schwägerin ihr das Messer auch gleich in die Kehle hätte rammen können. Jedenfalls hatte sie den ganzen Abend ruiniert, all ihre Stunden vor dem heißen Ofen, ja, Heinz’ neunten Geburtstag vollständig zunichtegemacht.
Hortsthaler hatte recht gehabt, das begriff Kraus plötzlich. Die Angst vor der vergifteten Wurst terrorisierte Berlin tatsächlich.
Am Nachmittag waren zwei weitere Menschen gestorben und zwölf andere in Krankenhäuser eingeliefert worden. Der Gesundheitsminister hatte ganz offiziell den Verkauf sämtlicher Wurst verboten, bis die Quelle der Vergiftung gefunden worden war. WURST IN BERLIN – AUS!, titelten die Nachmittagsblätter in Schlagzeilen mit so großen Lettern wie bei der Abdankung des Kaisers.
Vickis Blick sagte Kraus, dass sie ihm nicht in den Rücken fallen wollte, als sie jetzt einen Rettungsversuch unternahm. Er hatte ihr ein paar Einzelheiten verraten, die er erfahren hatte, seit er heute auf den Fall angesetzt worden war. Obwohl Vicki normalerweise nicht einmal im Traum daran dachte, solche Informationen bei einem gesellschaftlichen Ereignis preiszugeben, erforderten es diesmal, so bat ihn ihr flehentlicher Blick, die außergewöhnlichen Umstände.
»Selbstverständlich ist das Fleisch ungefährlich, Frau Klemper.« Die Augen unter ihren langen, dunklen Wimpern schimmerten. »Das Problem ist ausschließlich auf Wurst begrenzt. Das stimmt doch, Liebling?«
Der schimmernde Blick richtete sich auf Kraus.
»Ja, vollkommen.« Er unterstützte Vicki instinktiv. »Das Fleisch ist absolut unbedenklich.«
Er wusste nicht mit Sicherheit, ob das stimmte, aber er wusste, dass sein Wort genügte, um jegliche Diskussionen zu beenden und die Feier der Winkelmanns zu retten. Grund genug, es zu geben. Seit sieben Jahren hatten sich die Familien durch Geburten, Todesfälle, Windpocken, gebrochene Knochen, Hochkonjunktur und wirtschaftliches Chaos begleitet. Eine kleine, harmlose Lüge, ein gelinder Machtmissbrauch war da gewiss verzeihlich. Frau Klemper jedenfalls nahm seine Bemerkung geradezu als kaiserliches Edikt und hätte vor Dankbarkeit fast geknickst.
»Also dann, wenn das ein Kriminalbeamter sagt!« Sie nickte Kraus zu, wartete jedoch darauf, dass er als Erster zugriff. Er fügte sich, und Sekunden später stürzten sich alle auf die Rippchen. Was ein Gespräch über vergiftete Wurst offenbar nicht auszuschließen brauchte.
»Die Frühausgabe von Berlin am Mittag war in dem Punkt ganz eindeutig.« Otto Winkelmann nahm Messer und Gabel in die Hand. »Die Bakterien wurden identifiziert.« Er kaute und warf seiner Frau einen ehrfürchtigen Blick zu. »Liebes, du hast dich diesmal wirklich selbst übertroffen.«
»Du meinst die E.coli-Bakterien?« Frau Klempers Wimpern flatterten zustimmend. »Er hat wirklich recht, Irmgard. Deine Soße sollte zum Nationalschatz erklärt werden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Behauptung in einer späteren Ausgabe wieder zurückgenommen wurde.«
»Laut dem Volksbeobachter sind es eindeutig keine E.coli-Bakterien.« Herr Klemper hatte Irmgards Nationalheiligtum bereits über die ganze Serviette auf seiner Brust verteilt. »Sondern es sind Salmonellen. Gibt es keine Kartoffeln mehr? Sind wir wieder bei der Rationierung wie in Kriegszeiten?«
Kraus wusste, dass es weder E.coli noch Salmonellen waren.
»Aber warum dauert es so lange, das herauszufinden?« Frau Klemper hob die Hand mit ihren dicken Fingern, unfähig sich vorzustellen, dass ein solcher Prozess mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen konnte.
»Schockierend, wirklich schockierend.« Irmgard Winkelmann ging um den Tisch herum und legte ihrem Bruder noch mehr Kartoffeln nach. »Dass so etwas in Berlin passieren konnte.«
Dass nichts den Verteidigungsring durchbrechen konnte, der die Fleischversorgung der Stadt schützte, war eine nicht ganz unbegründete Vorstellung, wie Kraus mittlerweile wusste. In der kurzen Zeit, die er heute im Gesundheitsministerium verbracht hatte, hatte er erfahren, wie eindrucksvoll das Kontrollsystem war, das dieses Ministerium vor Jahrzehnten eingeführt hatte, und dass es in Anbetracht der Größe der fleischverarbeitenden Industrie nur sehr selten durchbrochen wurde. Selbst während des Krieges hatte es, wie Vicki sich erinnerte, trotz der vierjährigen Blockade durch die Alliierten, bei der eine Million Berliner am Rand des Hungertodes standen, keine ernsthafte Vergiftung bei den Fleischvorräten gegeben. Genau genommen hatte es keine wirklich bedeutende Vergiftung in Berlin gegeben, seit Hunderte Bewohner beim Ausbruch der Trichinose-Bakterien vor neunzig Jahren gestorben waren. Was prompt dazu geführt hatte, dass diese Gesundheitsmaßnahmen überhaupt erst eingeführt worden waren.
Bis jetzt hatte es keine Vergiftungsfälle gegeben. Und das trotz all dieser Kontrollen.
Wie üblich hatten die unzähligen Zeitungen der Stadt nur Bruchstücke der ganzen Geschichte richtig verstanden. In diesem Fall waren das die Zahl der Opfer, ihr Alter et cetera. Was jedoch die ursächlichen Krankheitserreger anging, hatten die Zeitungen in ihrem Bemühen, die Konkurrenz auszustechen, fast alles falsch dargestellt. Dieses Mal jedoch war es nicht ihre Schuld. Das Gesundheitsministerium, so hatte Kraus erfahren, führte die Öffentlichkeit absichtlich an der Nase herum.
Kurz nach seinem Gespräch mit Dr. Weiß war er zu dem gewaltigen Granitgebäude des Gesundheitsministeriums in der Nähe des Wilhelmplatzes gefahren. Dort hatte er eine fieberhafte Geschäftigkeit wahrgenommen, als befände man sich im Krieg. Techniker rannten die Gänge entlang. Schreibmaschinen klapperten. Niemand wollte dieses Wochenende nach Hause gehen. Seine Ansprechpartnerin, die Leiterin des medizinischen Krisenstabes, Frau Dr. Riegler, hatte ihn förmlich vor ein Mikroskop gezerrt.
»Das ist eine Riesenschweinerei.« Sie hatte ihm das Okular eingestellt. »E.coli und Salmonellen sind die reinsten Schmusekätzchen gegen das da.«
Kraus hatte einen Haufen zuckender, stabförmiger Gestalten gesehen.
»Listeria monocytogenes«, flüsterte Doktor Riegler, als wäre es zu schrecklich, um es laut auszusprechen. »Zehnmal tödlicher als die meisten gewöhnlichen Krankheitserreger in Nahrungsmitteln. Dieses widerliche kleine Bazillus überlebt selbst in der größten Hitze und Kälte. Und noch lange, nachdem man sie vernichtet geglaubt hat ... kommen sie zurück. Man muss ständig säubern, prüfen. Säubern. Prüfen.«
Kraus fand zwar, dass die Stäbchen recht harmlos aussahen, aber das galt auch für mehr als einen Mörder, den er verfolgt hatte.
»Was passiert, wenn sie einen Menschen infizieren?«
»Übelkeit, Erbrechen, Durchfall. In ernsten Fällen ... Fieber. Im schlimmsten Fall Fieberkrämpfe. All das haben wir in den letzten zehn Tagen zu sehen bekommen.«
»Zehn?« Kraus hob den Kopf vom Okular. Frau Doktor lächelte ihn etwas gequält an. »Wie kann das sein? Die ersten Berichte sind erst gestern hereingekommen.«
»Wir melden nichts, was wir nicht sicher wissen.« Ihr Lächeln erlosch. »Sonst gäbe es eine Massenhysterie. Sie sehen ja, wie schlimm es jetzt schon aussieht, Herr Kriminalsekretär.« Ihre Stimme schwoll autoritär an. »Wie viele andere Bakterien sind auch Listeria allgegenwärtig. Der Hauptinfektionsweg verläuft über Nahrungsmittel. Aber die Ursache könnte alles mögliche sein, angefangen von Gemüse über Fleisch, Geflügel, Fisch oder Milchprodukten. Wir haben zehn Tage gebraucht, bis wir diese Wurst als Quelle ausfindig gemacht haben.« Sie umklammerte ihr Klemmbrett. »Wir konnten schließlich nicht die ganze Stadt so sehr in Angst und Schrecken versetzen, dass keiner mehr etwas zu essen wagt.«
Dem musste Kraus zustimmen. Vor allem, da dies eine Frau sagte, die es gegen alle Widrigkeiten geschafft hatte, die Karriereleiter bis dorthin hochzusteigen, wo sie sich jetzt befand. Denn die Zahl von Ärztinnen in Berlin war ausgesprochen gering. Und Dr. Riegler war klug und gebildet. Woher kam dann also dieser nervöse Tick? »Wegen der Vielzahl der Todesfälle«, sagte sie, und Kraus registrierte, dass unter ihrem linken Auge ein Muskel zuckte, wie eins dieser kleinen Bakterien unter dem Mikroskop, »muss wohl auch die Möglichkeit einer kriminellen Absicht in Betracht gezogen werden.«
Offensichtlich stand sie unter großem Stress, weil die ganze Stadt sich auf sie verließ und sie jetzt auch noch die Kriminalpolizei am Hals hatte. Aber auf der Universität hatte Kraus in einem Kurs über Physiologie und Psychologie gelernt, dass unwillkürliche Muskelkontraktionen manchmal verrieten, was der Mund sich weigerte auszusprechen. Jetzt fragte er sich unwillkürlich, was der Mund der Frau Doktor so dringend verschweigen wollte.
Warum grinste Winkelmann denn so?
»Da sich jetzt die Kriminalpolizei der Sache angenommen hat«, er hob sein Glas in Richtung Kraus, »darf man wohl sicher sein, dass der Fall der vergifteten Wurst schnell gelöst werden wird.«
»Hört, hört.« Die anderen prosteten ihm zu. »Auf die Kriminalpolizei!«
Kraus hob ebenfalls sein Glas und hoffte, dass sein Nachbar recht hatte. Winkelmann war der größte Bewunderer von Kraus, natürlich. Er gab gern damit an, dass er Kraus’ Karriere von seiner Zeit als Grünschnabel auf der Polizeischule bis zu seiner Arbeit als erfahrener Kriminalbeamter im Präsidium am Alex verfolgt hatte. Und das alles in nur sieben Jahren. Kraus fühlte sich dann immer verpflichtet, seinen Nachbarn daran zu erinnern, dass Winkelmann in derselben Zeit von einem einfachen Lagerarbeiter zum Besitzer eines Papier- und Schreibwarenladens aufgestiegen war. Nur wirkte Kraus’ Karriere im Vergleich dazu wahrhaft abenteuerlich, und gewisse Episoden daraus zum Besten zu geben war angesichts eines so verzückten Publikums nicht gerade unangenehm. Winkelmanns Augen traten hervor, wenn Kraus berichtete, wie er auf den Wasserturm am Prenzlauer Berg steigen musste, um die Drahtzieher eines Menschenhändlerrings zu fangen. Oder wie er sich in einem Speiseaufzug versteckt hatte, um den Mietskasernenmörder von Neukölln auszuspionieren. Selbst Kraus’ Jungs lauschten seinen Geschichten nicht mit einer solchen Intensität. Vicki wollte sie sowieso nie hören. Sie war stolz auf seinen Ruf, aber der rein physische Aspekt seines Berufs machte ihr Angst. Manchmal hatte Kraus den Eindruck, sie täte lieber so, als wäre er Abteilungsleiter im Kaufhaus Tietz oder so etwas ähnliches. Wie hatte Freud das noch gleich genannt ...?
»Elsie, ich breche dir jeden gottverdammten Knochen in deinem ...!«
Von oben bis unten staubig vom Spiel, waren die Kinder wieder in die Wohnung zurückgeschlichen. Vom Balkon aus war sehr gut zu sehen, wie die zwölfjährige Tochter der Klempers im Wohnzimmer ein Rad schlug und dabei mit den Füßen haarscharf an der Vitrine vorbeiflog, in der Irmgard Winkelmanns Figürchen aus Meißner Porzellan verwahrt wurden. Nach Klempers Drohung huschte das Kind hastig wie ein Eichhörnchen ins Dunkel zurück.
»Seht ihr, wie sie gehorcht?« Der Versicherungsdirektor richtete die Serviette um seinen Hals. »Weil sie weiß, Papa ist der Chef. Und warum weiß sie das?«
»Weil sie gut erzogen ist«, platzten seine Frau und seine Schwester gleichzeitig heraus. Dann sahen sie sich an und kicherten verlegen.
»Es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen.« Klemper drohte ihnen mit dem Finger und lief rot an. Er hasste es offenbar, wenn man über ihn lachte, und riss sich jetzt die Serviette vom Hals. »Hätte ich so etwas gemacht, hätte mein Vater mich verprügelt, bis mein Hintern gequalmt hätte.« Seine Augen blitzten anklagend. »Und glaubt ja nicht, dass mir das geschadet hat.«
Aufgescheucht von seiner hitzigen Stimme versuchte Frau Klemper, seine Temperatur ein wenig zu senken. »Du hast vollkommen recht, Felix.« Sie sah sich um und bat die anderen, auch ein bisschen kaltes Wasser aufs Feuer zu gießen.
Aber es war bereits zu spät. Klemper kochte über.
»Erst neulich nachmittags«, er verdrehte die Augen, »in der Tram, der 41, saß ein Kind neben mir und aß eines dieser ekelhaften Puddingteilchen.« Seine weißlich angelaufenen Lippen begannen zu zittern. »Natürlich ist der ganze Pudding auf meine Hosenbeine getropft. Und was hat die Mutter getan? Jedenfalls hat sie mir nicht angeboten, die Reinigungskosten zu übernehmen, das kann ich euch versichern.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um sie mir nicht beide zu greifen und ihnen den Hals umzudrehen.«
Kraus blickte zur Seite. Er hatte all das schon oft gehört ... und zwar jedes Mal, wenn Klemper da war. Dass Kinder sich schämen sollten. Dass sie Angst vor Autorität haben sollten. Dass ihnen jegliche Unabhängigkeit ausgetrieben werden musste. Und das alles nur zu ihrem Besten. Martin Luther hatte die berühmten Worte gesprochen, dass er lieber einen toten als einen ungehorsamen Sohn hätte. In dieser Hinsicht, dachte Kraus, unterscheiden sich jüdische Deutsche vielleicht gar nicht so sehr von vielen ihrer protestantischen Nachbarn.
Er konnte sich noch daran erinnern, wie er einmal – er musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein – weggelaufen war, um sich den Eiffelturm anzusehen. Er hatte sein Taschengeld gespart und eine Zugfahrkarte gekauft. Er hatte es fast bis zur französischen Grenze geschafft, wo ein Schaffner ihn schließlich erwischt und ihn dann zurück nach Berlin gezerrt hatte. »Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du nach Hause kommst«, hatte er ihm die ganze Zeit über gedroht. »Ich bin auch mal weggelaufen, als ich ein Kind war, und ich kann es immer noch fühlen.« Am Bahnhof Zoo hatten Kraus’ Eltern auf ihn gewartet und ihn mit ihren Küssen beinahe erstickt. Der Schaffner hatte vollkommen verdattert daneben gestanden.
Kraus versteifte sich, als er sich an etwas nicht so weit Zurückliegendes erinnerte.
An die Bibliotheksmitteilung wegen der markierten Bibelpassage.
Wie ironisch. Bevor er heute Feierabend gemacht hatte, hatte er noch eine Antwort auf seine Nachfrage erhalten. Kinder des Zorns, wurde darin erklärt, war ein Begriff, den man mit einer unbedeutenden theologischen Doktrin assoziierte, die als »völlige Verderbtheit« bekannt war. In seinem Brief an die Epheser beschrieb der Apostel Paulus die Ungetauften als Wesen, die von ihrer Natur her »Kinder des Zorns« wären. Die Fanatiker in etlichen protestantischen Glaubensgemeinschaften zitierten diesen Satz als Beweis der Erbsünde: dass alle Menschen schon bei der Geburt das Böse in sich trügen, unfähig, Erlösung zu finden außer durch Gottes Gnade. Diese Fanatiker glaubten, so fuhr die Bibliotheksmitteilung fort, dass die betreffende Passage die bittere Wahrheit betonte, dass Kinder, die ungetauft starben, auf alle Ewigkeit verloren wären; eben deshalb, weil Säuglinge völlig verderbt geboren wurden. In der Bibel jedoch, hieß es in der Mitteilung weiter, war so eine Idee niemals angesprochen worden. Völlige Verderbtheit war ein strikt menschliches Dogma. Was vermutlich ganz gut ist, dachte Kraus.
Obwohl das ja jetzt alles keine Rolle mehr spielte. Er sank auf seinem Stuhl zurück.
Es war schließlich nicht länger sein Fall.
»Mutter ...!« Der ohrenbetäubende Schrei drang auf den Balkon. »Die Kleinen!«
Alle stürzten hinein.
Sie drängten sich um das Aquarium; es war nicht zu übersehen, dass alle Guppyjungen verschwunden zu sein schienen. Sie waren weder oben noch unten im Aquarium. Und schwammen auch nicht um das Rheinschloss aus Keramik herum, mit seinen Rittern zu Pferde auf der Zugbrücke.
»Wonach sucht ihr denn?« Elsie, die Akrobatin, tauchte plötzlich aus dem Schatten auf. Ihre Augen funkelten seltsam. »Diese Guppybabys sind verschwunden.« Sie schien sich fast darüber zu freuen. »Weil ihr euch nicht ordentlich um sie gekümmert habt. Neugeborene Guppys brauchen einen Platz, wo sie sich verstecken können, oder sie müssen in ein anderes Aquarium verlegt werden. Sonst«, sie zuckte mit den Schultern, und ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, »frisst ihre Mutter sie auf.«
Ihr Vater gab ihr eine Ohrfeige. »Lügnerin!«
Ihre Mutter packte sie am Arm. »Haben wir dich dazu erzogen, solche Dinge zu sagen?«
»Das ist keine Lüge!«, weinte das Mädchen. »Nach der Geburt hat die Mutter großen Hunger und frisst ihre Babys. Alle ohne Ausnahme.«
»Das ist lächerlich!« Die Augen von Herrn Klemper traten fast aus ihren Höhlen. »Das widerspricht allen Naturgesetzen.«
»Wie kommt das dann in mein Biologiebuch?«, höhnte Elsie.
Kraus wollte seine Jungs instinktiv abschirmen. Aber der Ältere, Erich, hatte seinem jüngeren Bruder Stefan schon beschützend den Arm um die Schulter gelegt. Und Kraus merkte, dass keiner der beiden auf die Klemper-Tochter achtete. Ihre Blicke waren auf Heinz Winkelmann gerichtet, dessen Haut so weiß wie der Sand in seinem neuen Aquarium geworden war.
»Stimmt das?«, wollte er wissen. »Frisst die Mutter ihre Babys?«
Niemand schien das noch abstreiten zu wollen. Nach einem endlos scheinenden Moment presste der dickliche Junge, der heute neun Jahre alt geworden war, seine Hände auf den Bauch, als wäre er gebissen worden, und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
Seine Eltern starrten ihn einfach nur an, zu schockiert, um sich rühren zu können.
Der Schwager, Klemper, fühlte sich nach einer Weile offenbar genötigt, sein eigenes Kind zu entlasten und eine pädagogische Weisheit zum Besten zu geben. »Wenn du deinem Jungen erlaubst, so weiterzuschreien, Otto, wirst du sein Leben ruinieren, sowohl für ihn selbst als auch für das Vaterland.«
Heinz kreischte noch lauter.
»Otto besitzt eben nicht deine erzieherischen Fähigkeiten, Liebster«, erklärte Frau Klemper ihrem Mann.
»Aber er verwandelt den Jungen noch in eine Schwuchtel.«
Kraus beobachtete, wie Winkelmann einen Moment lang standhielt, sich dann jedoch der machtvollen Logik seines Schwagers beugte. Sein Gesicht verwandelte sich in einen Steinblock.
»Das hört jetzt auf.« Dann wandte er sich an seinen Sohn. »Was fällt dir ein, dich so aufzuführen? Wir Deutschen weinen nicht. Wir stellen uns der Wahrheit wie sie ist.« Seine normalerweise sanften blauen Augen waren so kalt wie Stahl, während Heinzi hinter den Beinen seiner Mutter Zuflucht suchte.
»Vielleicht bist du ein bisschen zu hart mit dem Jungen«, meinte Kraus in dem Versuch, die Wut seines Nachbarn ein wenig zu zügeln.
Otto warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. »Nein. Ein Junge muss lernen, dass das Leben ein Kampf ist ... in dem nur die Kräftigsten überleben. Wenn diese Babys ihn nicht überlebt haben, dann deshalb, weil sie nicht stark genug waren.«
»Aber seht ... seht doch.« Vicki deutete in das Aquarium. »Eines ist noch da, Otto. Siehst du, hier oben, im Turm des Schlosses.«
»Rette es, Papa«, jammerte Heinz. »Bevor sie es findet.«
Nach einem Blick auf seinen Schwager wurden Winkelmanns Augen wieder härter. »Keineswegs. Wenn dieses Baby überlebt, dann deshalb, weil es stark genug ist, nicht, weil wir uns eingemischt haben und ...«
Wie ein Pfeil schoss die Mutter heran und machte die ganze Diskussion überflüssig.