FÜNF

Die Glastüren drehten sich unaufhörlich, aber immer noch tauchte kein Fritz auf. Nicht, dass er jemals pünktlich gekommen wäre. Aber für einen Mann, der ständig versuchte, einem zurückzuzahlen, was man für ihn in der Vergangenheit getan hatte – ihm zum Beispiel drei oder viermal das Leben zu retten –, sollte man wenigstens erwarten, dass er sich um ein wenig Pünktlichkeit bemühte. Kraus warf einen Blick auf seine Uhr. Zum Teufel, was sollte die Eile? Er holte tief Luft und sah sich in dem glanzvollen Café Josty um. Das Einzige, was heute auf der Tagesordnung stand, war ... gar nichts.

Seit seinem Besuch in der Wurstfabrik war fast ein Monat verstrichen, und die Gesundheitsinspektoren untersuchten immer noch die Lieferanten im Viehhof. Sie prüften und prüften, hatten aber bis jetzt absolut nichts gefunden. Auf Kraus’ Drängen hin hatten sie eine Razzia auf dem Markt der freien Händler in der Landsberger Allee gemacht, die Waren untersucht und den Markt anschließend geschlossen. Aber von Listerien keine Spur. Zum Glück hatte es wenigstens keine neuen Todesfälle gegeben, und die Zahl der Erkrankungen ging ebenfalls zurück. Vielleicht verlief die ganze Angelegenheit ja im Sande.

Kraus bedankte sich beim Kellner, als der ihm sein zweites Kännchen Kaffee brachte. Wenigstens hatte er mit Horthstaler geredet. Und ihm von seiner gefährlichen Begegnung auf dem Markt der freien Händler berichtet, die möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn er einen Kollegen dabei gehabt hätte, wie es Vorschrift war. »Ich wusste nicht, dass Ihnen das so wichtig ist, Kraus; ich werde mir noch mehr Mühe geben, jemanden für Sie zu finden.« Der Kommissar hatte ihn freundlich angelächelt. Aber das kurze Zucken seiner vollen Lippen hatte Kraus klargemacht, dass er sich nicht zu viel davon versprechen sollte.

Er war es müde zu warten. Er hatte die Bakterien satt, und auch Dr. Riegler, die ihm ständig erzählte, dass ihr kleines Kätzchen zu Hause seine Lieblingswurst vermisste. Er hatte den ganzen verdammten Fall satt. Dann hob er den Blick zu der verzierten Decke aus gepresstem Blech. Immer wieder schweiften seine Gedanken zurück zu diesem Knochensack. Irgendwann hatte er spät nachts wach gelegen und sich gefragt, was jemanden dazu bewegen konnte, ein solches Knochenarrangement anzufertigen. Ein heidnischer Ritus? Oder irgendein okkultes Sakrament? In Berlin herrschte kein Mangel an bizarren Fixierungen. Andererseits war da ja noch die Bibel. Kraus hatte sogar seinen Cousin im Institut für Psychoanalyse zu Rate gezogen.

»Die planvolle Art und Weise dieser Anordnung«, hatte Kurt, sichtlich fasziniert von dem Fall, gesagt, »lässt auf eine hochgradig zwanghafte Persönlichkeit schließen, die sich zur Perfektion getrieben fühlt. Diese Art von Zwang, Dinge zu arrangieren, Ordnung zu schaffen, wird oft von dem Drang getrieben, ein angsteinflößendes inneres Chaos in Schach zu halten. Ich würde sagen, du hast da einen Fall mit einem sehr gestörten Individuum, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«

Natürlich war das Problem, dass dieses Individuum gar nicht mehr Kraus’ Fall war.

Obwohl er anscheinend auch nicht so einfach davon lassen konnte.

Schwarzer Kaffee ergoss sich dampfend aus der silbernen Tülle, als er sich eine weitere Tasse einschenkte.

Der Kaffee war, wie alles hier, absurd überteuert, aber als er sich in dem legendären Café umsah, kam er zu dem Schluss, dass es auch seinen Preis wert war. Und sei es nur wegen des Spektakels. Während er den Kaffee in kleinen Schlucken trank, schmeckte er die bittere Süße auf seinen Lippen. Das Josty am Potsdamer Platz war der Treffpunkt im wild schlagenden Herzen dieser Metropole. Als echter Berliner fiel es ihm schwer, nicht wenigstens ein bisschen sündigen Stolz darüber zu empfinden, dass er sich hier so heimisch fühlte.

Im Sommer war der angesagteste Platz die Terrasse. Geborgen in einem kleinen Birkenhain blickte man aus der Vogelperspektive auf Europas vielbefahrenste Kreuzung. Jetzt, nachdem die Kälte des Winters langsam herankroch, bot das Obergeschoss einen noch bequemeren Ausguck. An diesem Nachmittag war der mit einer goldfarbenen Blättertapete geschmückte Raum überfüllt von Leuten, die sich in Zeitungen vergruben oder bei einem vielschichtigen Baumkuchen, dem König der Kuchen, plauderten. Vicki würde sagen: Wie angeberisch die Leute aussehen, dachte Kraus. Er registrierte die modische Eleganz und das pfauenhaft gespreizte Gefieder rund um ihn herum: Männer mit breiten Revers, bunten Krawatten und juwelenbesetzten Manschettenknöpfen, das geölte Haar zu einem scharfen Scheitel gezogen. Frauen mit langen Perlenketten, jungenhaften Frisuren und kurzen Kleidern mit Seidenstrümpfen, die ihre Beine zeigten.

Er konnte sich an eine Zeit in diesem Café erinnern, in der Frauen es nicht einmal gewagt hätten, auch nur einen Knöchel zu entblößen. Er war mit seinen Eltern hier gewesen, um die Jahrhundertwende zu feiern, als er fünf Jahre alt war. Seine Mutter war diese Treppe hinaufgeschritten und hatte dabei ihren Rock hochgehalten, und die Straußenfedern auf ihrem Hut hatten praktisch den Staub von der Decke gefegt. Sein Vater hatte weiße Handschuhe getragen, graue Gamaschen und einen Bowler, den er lässig schräg über einem Auge trug. Wie anders war Berlin damals gewesen. Das Kaiserreich. Alles war weit geregelter und rigider gewesen ... aber es hatte sich irgendwie auch sicherer angefühlt. Wenn es auch eine falsche Sicherheit gewesen war.

Jetzt drehte sich Berlin wie ein wild gewordenes Karussell. Der Potsdamer Platz war immer noch das Zentrum, und das Café Josty war immer noch der Mittelpunkt des Zentrums. Aber alles raste in einem solchen Tempo vorbei, dass es sich manchmal anfühlte, als würde die Stadt gleich aus der Achse fliegen.

Kraus’ Blick schweifte aus dem Fenster. Durch die Doppelscheiben konnte man die berühmte Kreuzung unterhalb des Cafés einsehen, mit all ihrem turbulenten Nachkriegswahnsinn ... und musste doch nichts hören. Es war fast wie ein Stummfilm. Ein futuristisches Epos. Hier liefen zwischen dem blitzenden Neon und den gigantischen Plakaten alle großen Hauptstraßen, die das Zentrum von Berlin mit seinen westlichen Vierteln verbanden, zusammen und bildeten einen künstlichen Strudel, der Fahrzeuge und Menschenmassen gleichermaßen aufsog, sie miteinander verwob und sie dann wieder ausspie. In seinem Mittelpunkt stand ein fünfseitiger, eiserner Turm mit der ersten elektrischen Ampel Europas. Er wirkte wie ein Wächter über dem Chaos. Ströme von Fahrrädern und lange, gelbe Straßenbahnen fegten darum herum, mit Werbung beklebte Doppeldeckerbusse fuhren vorbei. Menschen strömten aus dem Bahnhof Potsdamer Platz heraus oder hinein; es war eine der betriebsamsten Haltestellen Berlins. Direkt um die Ecke stand das gigantische Kaufhaus Wertheim mit seinem verglasten Atrium und dreiundachtzig Fahrstühlen. Und ein Stück weiter den Block hinunter erhob sich ein erstaunlicher neuer Büroturm aus Glas und Stahl, dessen geschwungene Front dem Verlauf der Straße folgte.

Kraus’ Hals versteifte sich leicht. Ein langer, schwarzer Sportwagen fegte wie ein Raumschiff durch den Verkehr vor dem Café, schnitt Personen- und Lastwagen gleichermaßen. Vielleicht hätte es ihn nicht überraschen sollen. Denn so groß diese Stadt auch sein mochte, in mancherlei Hinsicht war sie trotzdem eine Kleinstadt, und es gab nicht viele Mercedes SSK auf den Straßen. Trotzdem zuckte er unwillkürlich zusammen, als er die unverkennbare Spiegelung von Dr. von Hesslers silberner Augenklappe hinter dem Lenkrad erkannte.

»Du wirkst, als hättest du den Teufel gesehen.«

Kraus zuckte zusammen.

Es war Fritz, der sich endlich ihm gegenüber hinsetzte. Er trug einen Dreiteiler, hielt einen Gehstock in der Hand, und sein dünner, blonder Schnurrbart kräuselte sich in einem spöttischen Lächeln.

»Vielleicht habe ich das auch. Du bist vierzig Minuten zu spät, Mensch!«

»Dieser Verkehr ist einfach grauenvoll.«

»Dein guter alter Freund jedenfalls konnte sich problemlos den Weg hindurchbahnen. Was hat er eigentlich im Krieg gemacht, hat er Panzer gefahren?«

»Welcher gute alte Freund?« Fritz versank in dem Sessel und zog sich die Handschuhe aus, einen Finger nach dem anderen. »Ich habe so viele davon.«

»Von Hessler.«

»Ach, der ist völlig verrückt. War immer schon so. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er davon überzeugt, dass er endlich einen Weg gefunden hatte, den Lauf der menschlichen Geschichte zu verändern. In gewisser Weise hoffe ich, dass er wirklich an so einer Sache dran ist.« Fritz warf die Handschuhe auf den Tisch. »Wir könnten es gut gebrauchen.«

»Was soll das denn heißen? Hey ... bevor ich es vergesse, ich wurde instruiert, dich auf jeden Fall daran zu erinnern: Vicki bedauert die Geschichte mit Silvester wirklich. Wir bringen die Kinder immer in dieser Nacht zu ihren Eltern und, na ja ...«

Fritz lächelte bedauernd. »Sylvie wird am Boden zerstört sein, aber sie kommt bestimmt darüber hinweg. Immerhin ist es kein gewöhnliches Silvester.« Seine Lippen zuckten. »Es bricht ein neues Jahrzehnt an. Und nach dem, was ich so höre«, sein Schnurrbart zuckte heftig, »dürften es sehr wahrscheinlich für eine ganze Weile die letzten fröhlichen Tage sein.«

»Was sollen all die Blitze des Untergangs bedeuten, Jeremias?«

»Entschuldige. Ich komme gerade von einer großen Pressekonferenz im Wirtschaftsministerium. Die Lage ist verdammt ernst. Eine ganze Reihe wichtiger Auslandsanleihen wurden gekündigt.«

Kraus wartete auf weitere Enthüllungen, aber Fritz schwieg.

Er verstand nicht.

Das lag nicht etwa daran, dass er kein Genie war, was die Mechanismen der Wirtschaft anging. Aber das Jahr 1929 war ein Jahr derartig spektakulären Wachstums gewesen, einer fast schon euphorischen Hochkonjunktur, dass es nahezu unmöglich zu begreifen war, wie etwas so Geheimnisvolles wie Auslandsanleihen diesen Ausdruck tiefster Sorge in Fritz’ Augen herbeiführen konnte. Nach den wahrlich schrecklichen Jahren des Krieges, der Revolution und der großen Inflation war dieses letzte halbe Jahrzehnt förmlich ein Gottesgeschenk gewesen. Die Wirtschaft boomte. Die Gehälter schossen in den Himmel. Die Arbeitslosigkeit war praktisch auf null gesunken. Sicher, was sie über den Aktienmarkt in New York gelesen hatten, war schrecklich. Die Tage des wahnsinnigen Spekulierens waren offensichtlich zu Ende. Aber es war schwer zu glauben, dass ein paar Auslandsanleihen ...

»Da liegst du ziemlich falsch.« Fritz’ düstere Stimmung war unerbittlich. »Deutschland ist so abhängig von Fremdkapital wie ein Drogenabhängiger, Willi. Genauer gesagt, von amerikanischem Kapital. Und zwar weit mehr, als die meisten Deutschen auch nur ahnen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Geld da gerade vernichtet worden ist. Das hier ist kein ganz gewöhnlicher Kollaps. Sondern der Boden hat nachgegeben. Was bedeutet, keine weiteren Investitionen. Keine weiteren Kredite. Keine weiteren Warenbestellungen. Mach dich auf etwas gefasst, mein Freund. Das hier wird ein ausgewachsener Erdrutsch.«

Kraus hielt sich an der Stange auf der Plattform fest, als die Straßenbahn über die belebte Leipziger Straße schwankte. Mittlerweile herrschte Zwielicht, und die Feiertagsbeleuchtung tauchte Berlins Einkaufsmeile in einen goldenen Schimmer. Angesichts der Menschenmassen, welche die Trottoirs überströmten, sich in den Geschäften und Kaufhäusern die Klinke in die Hand gaben, deren spektakuläre Schaufenster mit Pelzmänteln, Juwelen, Uhren, Lederwaren, den modernsten Kameras und den besten Spielzeugen nur so überquollen, fiel es ihm schwer zu glauben, dass Fritz nicht auf ein bisschen ministerielle Propaganda hereingefallen war. Aber in der Stimme seines Freundes hatte echte Angst mitgeklungen.

Oder aber er und Sylvie hatten wieder gestritten.

Als die Straßenbahn über den Fluss ratterte, unter dem fast vollen Mond, der hoch über der Stadt hing, brachten die funkelnden Kuppeln des Polizeipräsidiums in der Ferne das zwingende Rätsel dieser Knochen wieder zu ihm zurück. Die grimmigen Bilder aus seiner Erinnerung schienen sich in dem kräuselnden Wasser unter der Brücke zu spiegeln. Knochen, die wie langstielige Rosen zusammengebunden waren. Finger und Zehenknochen, einer nach dem anderen, verbunden fast wie ... Würste. Wieso hatte er nichts mehr von dem Fall gehört? Er hatte zwar nicht erwartet, dass Freksa ihn ins Vertrauen zog ... aber völliges Stillschweigen bei den Konferenzen der Abteilung? Und was war mit den Zeitungen? Das war doch genau die Art von Neuigkeit, für die sich die Berliner Presse geradezu überschlug. Aber jetzt waren fünf Wochen vergangen, und kein einziges Wort war verlautet. Seit wann scheute sich Freksa vor Schlagzeilen? Vielleicht war er mit dem Fall nicht weitergekommen. Oder aber er hatte ein Ass im ...

Der Gedankengang wurde unvermittelt unterbrochen.

Auf der anderen Seite der Spree erregte ein kleines Schild vor einer Kirche seine Aufmerksamkeit. PREDIGT HEUTE, SIEBZEHN UHR ... PASTOR H. P. BRAUNSCHWEIG. Als er das Thema der Predigt las, überlief ihn ein Frösteln. Er warf einen Blick auf seine Uhr: kurz nach fünf. Er wusste, dass er es nicht tun sollte. Es war Freksas Fall. Aber vielleicht war es, wie seine Großmutter zu sagen pflegte, Gottes Wille. Es sollte so sein. Er riss an der Glocke, damit die Straßenbahn hielt, und sprang herunter. Was hätte er sonst tun können? Das Thema der Predigt lautete »völlige Verderbtheit«.

Die evangelische Kirche auf der Spandauer Straße war nicht viel größer als eine Kapelle. Ein Dutzend Menschen verteilte sich auf den hölzernen Bänken, und alle konzentrierten sich auf die große, graue Gestalt auf der Kanzel, die beobachtete, wie Kraus eintrat.

»Man sollte nicht der irrigen Annahme verfallen«, die grauen Augen des Pastors folgten Kraus, als der seinen Hut abnahm und sich in eine der hinteren Bänke setzte, »dass diese völlige Verderbtheit oder völlige Korruption, oder, wie manche es nennen, diese völlige Unfähigkeit bedeutet, dass die Menschen vollkommen schlecht sind. O nein. Das würde bedeuten, dass man das Thema von hinten angeht. Völlige Verderbtheit ist keine Anklage. Ganz im Gegenteil: Es ist eine Bekräftigung. Eine spirituelle Betonung von Gottes Herrlichkeit.«

Hier ist es so heiß wie in der Hölle, dachte Kraus und knöpfte seinen Mantel auf.

»In Epheser zwei, eins bis drei sagt uns die Bibel: ›Und auch euch, die ihr tot waret durch Übertretungen und Sünden, in welchen ihr weiland gewandelt habt ... und taten den Willen des Fleisches und der Vernunft und waren auch Kinder des Zorns von Natur ...‹«

Schon wieder dieser Satz. Er zuckte durch Kraus’ Körper. Der graue Blick schien sich auf ihn zu fixieren, als wüsste der Pastor ganz genau, warum Kraus durch diese Türen getreten war.

»Diese Passage meint nicht, dass Menschen böse sind, sondern dass Menschen nicht in der Lage sind, Gott so zu lieben, wie Gott geliebt werden möchte. Die grundlegenden Instinkte der Menschen veranlassen sie, selbstsüchtig zu sein und Gott zu ignorieren. Aber ohne Gott ist selbst das Gute, das jemand zu tun versucht, verdorben. Nur Gott kann die Unfähigkeit des Menschen überwinden, seine völlige Verderbtheit. Durch seine göttliche Gnade können aus den Kindern des Zorns Kinder der Gnade werden.«

Kraus’ Wangen brannten.

Er wartete, bis die letzten Gemeindemitglieder hinausgegangen waren, dann trat er an die Kanzel. Der Pastor sammelte seine Notizen ein. Als er Kraus sah, senkte er seinen grauhaarigen Kopf und betrachtete ihn neugierig. »Sie sind neu hier.« Er schien zu versuchen, in Kraus’ Seele zu blicken. »Wurden Sie hierher geführt? Hat etwas von dem, was ich gesagt habe, Sie berührt?«

Normalerweise zog Kraus es vor, mit den Leuten ehrlich umzugehen. Aber wenn das Spiel hieß, wir lösen ein Verbrechen, dann war eine Täuschung oft eine höchst fruchtbringende Taktik. Also zückte er nicht seine Polizeimarke, weil er spürte, dass er bei diesem Mann möglicherweise weiterkam, wenn er dessen Ego ein bisschen streichelte.

»Sehr aufmerksam von Ihnen, Herr Pastor. Ja. Ich habe etwas wirklich schrecklich Böses erlebt. Und als ich Ihr Plakat gesehen habe, wurde ich hierher gezogen, um herauszufinden, ob Sie mir helfen können, zu verstehen. Es ist mir vollkommen unverständlich, dass menschliche Wesen, die so viel Liebe und Freundlichkeit besitzen und ein so großes Verlangen haben, Gutes zu tun, auch so, wie Sie es nennen, verdorben sein können.«

»Wie heißen Sie, mein Lieber?«

»Willi.«

»Willi. Wollen Sie mich in meine Studierstube begleiten? Trinken Sie ein Glas mit mir. Ich brauche immer einen kleinen Schluck nach meinen Predigten.«

Der Geistliche schlug Kraus auf die Schulter und führte ihn in eine kahle Kammer hinter der Kapelle. »Die Menschen sind bei weitem nicht so verdorben, wie sie sein könnten.« Er bedeutete Kraus, sich hinzusetzen. »Jeder hat etwas Gutes in sich.« Er schenkte zwei Gläser mit Pfefferminzschnaps ein. »Das kann man nicht leugnen.« Er stieß mit Kraus an und lächelte bevor er seinen Schnaps in einem Zug kippte.

Kraus nippte vorsichtig. Schließlich hatte er im Moment ja nichts Besonderes im Büro zu tun.

»Aber obwohl die Menschen nicht völlig verdorben sind«, der Pfarrer hustete und zog seine grauen Brauen zusammen, »hat sich die Verderbnis, die in ihnen steckt, auf jeden Teil von ihnen ausgedehnt und auf alles, was sie tun. Nehmen Sie dies als Beispiel.« Er deutete auf die Flasche.

»Übrigens ausgesprochen köstlich.« Kraus war dankbar für die minzige Wärme, die plötzlich seine Brust durchströmte. Der Schnaps war eine Wucht. Er trank einen größeren Schluck.

»Genau meine Meinung. Aber fügen Sie einen einzigen Tropfen Zyanid hinzu, dann sind wir beide tot.« Der Pfarrer lächelte traurig. »Denn obwohl die Flasche nicht damit gefüllt ist, breitet sich dieser einzige Tropfen Verderbnis auf alles aus. Verstehen Sie die Analogie? Die Menschen mögen nicht vollkommen böse sein, aber das ursprüngliche Böse, mit dem sie geboren wurden, erstreckt sich auf alles, was sie tun. Das meint ›völlige Verderbnis‹.«

Dass Kraus ein zweites Glas ablehnte, hielt den Pfarrer nicht davon ab, das seine neu zu füllen. »Könnte es nicht trotzdem möglich sein«, Kraus sah zu, wie der Gottesmann das zweite Glas ebenfalls in einem Zug leerte, »dass einige Menschen überhaupt keine Güte besitzen, dass sie wirklich und wahrhaftig vollkommen verdorben sind?«

Der Pfarrer klopfte sich ein paar Mal gegen die Brust und sah ihn dann blinzelnd an. »Ich verstehe nicht genau, worauf Sie hinauswollen.«

Kraus spürte plötzlich die Wirkung des Schnapses und war überrascht, wie sehr er sein Gehirn vernebelte.

»Ich meine damit zum Beispiel jene, die Gewaltverbrechen begehen.«

»Sie meinen, wie Kain und Abel ...«

»Ich meine, Pastor Braunschweig, heute, hier in Berlin ... wo jemand kleine Jungs ermordet.« Kraus hatte nicht vorgehabt, damit herauszuplatzen, aber Schnaps lockerte immer seine Zunge. »Er kocht ihre Knochen und benutzt ihre getrockneten Sehnen, um sie zu bizarren ...«

Er unterbrach sich, als er begriff, dass er zu schnell und zu weit gegangen war. Der Pastor wurde kreidebleich. Die Wärme in Kraus’ Herz verwandelte sich in Beklommenheit. Ihm wurde klar, dass er eine Grenze überschritten hatte. Wenn man im Präsidium erfuhr, dass er sich in Freksas Fall einmischte, konnte es ziemlich unangenehm für ihn werden. Ach verdammt, dachte er. Der Schnaps mochte vielleicht der Auslöser sein, aber er wollte verflucht sein, wenn er jetzt aufhörte.

Außerdem würde Freksa dieser Spur ohnehin niemals folgen.

»Herr Pastor, würde Ihnen jemand einfallen, jemand aus Ihrer Kirchengemeinde oder ein Zuhörer bei Ihren Predigten, der ein Interesse an dem Thema der völligen Verdorbenheit zeigte und möglicherweise in der Lage wäre, ein solches ...«

Der Pastor war mittlerweile kreideweiß vor Verwirrung. Kraus wurde klar, dass er nicht erwähnt hatte, dass sich eine Bibel in dem Jutesack befunden hatte, auf dem diese Passage aus dem Brief an die Epheser umrahmt war: Kinder des Zorns. Aber jetzt war es zu spät. Braunschweig wirkte plötzlich so, als fürchtete er, dieser mörderische Wahnsinnige könnte Kraus selbst sein.

»Herr Pastor, ich bin Kriminalsekretär Kraus von der Berliner Kriminalpolizei.« Er zückte seine Dienstmarke, wenn auch etwas spät.

»Ein Polizist?« Braunschweig wich zurück, als wäre er von einem Schwefelhauch getroffen worden. »Wie können Sie mich so täuschen? Sie tun, als wären Sie hier, weil Sie spirituelle Anleitung suchen! Und dabei sind Sie nicht einmal ein Christ.« Seine Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder, dann röteten sich seine Wangen sogar. »Als Sie hereingekommen sind, dachte ich, was will dieser Jude hier? Jetzt verstehe ich. Eine ausgesprochen hinterhältige Art und Weise, eine Ermittlung durchzuführen, das muss ich schon sagen.« Er zog die grauen Brauen vor Empörung zusammen. »Aber vielleicht muss man das ja von Ihresgleichen erwarten.«

»Ich darf Sie vielleicht daran erinnern, dass es gegen das Gesetz verstößt, Informationen vor der Kriminalpolizei zurückzuhalten. Außer natürlich bei Geistlichen. Deshalb kann ich Ihnen nicht befehlen, zu reden. Und ich werde auch nicht versuchen, Ihre Vorstellungen zu berichtigen, was man von mir oder ›meinesgleichen‹ erwarten kann. Aber ich versichere Ihnen, dass in dieser Stadt kleine Jungen ermordet werden, Herr Pastor. Und dass ein ausgesprochen perverses Individuum ...«

»Verschwinden Sie!« Braunschweig spie die Worte fast aus.

Kraus nahm seinen Hut. »Also gut.« Er zuckte mit den Schultern. »Danke für den Schnaps.«

Als er die Tür erreichte, änderte Braunschweig plötzlich seine Meinung. Und seinen Tonfall.

»Ach, um Himmels willen ... Ich habe das nicht so gemeint, Herr Kriminalsekretär.«

Kraus machte eine Pause.

»Sie haben mich nur überrumpelt, das ist alles. Sie sollten niemanden so überraschen. Bleiben Sie noch auf einen Schnaps, Herr Wachtmeister. Setzen Sie sich.«

Kraus merkte, dass der Mann etwas auf dem Herzen hatte.

Der Pastor trank rasch einen weiteren Schnaps, dann noch einen.

»Ich kenne ganz bestimmt niemand, der zu etwas so Grauenvollem fähig wäre, wie Sie es mir gerade beschrieben haben, aber ich kann Ihnen etwas anderes sagen.« Er sah Kraus an, hustete, und seine Augen waren trübe, aber er war ganz offensichtlich scharf darauf, sich etwas von der Seele zu reden. »In jeder Glaubensgemeinschaft gibt es Verrückte. Und ich habe im Laufe der Jahre genug davon gesehen, das können Sie mir glauben.« Er warf einen Blick aus dem Fenster, als wären all diese Verrückten wieder da und hätten sich draußen vor dem Fenster aufgestellt. »Normalerweise achte ich nicht mehr darauf, wenn sie erst einmal verschwunden sind, aber in diesem Fall ...« Er drehte sich zu Kraus herum. »Etliche meiner Schäfchen haben sich einer Gemeinschaft angeschlossen, die direkt einem dieser überzogenen Romane entsprungen zu sein scheint, nur ist dem nicht so. Es ist alles viel zu real.« Seine buschigen Augenbrauen hoben sich dramatisch. »Es ist ein satanischer Liebeskult. Ja wirklich, das stimmt!« Er beugte sich vor. »Man hat mir geschildert, was dort alles passiert.« Er musste sich am Tisch festhalten. »Mit Kindern!« Seine Worte wurden immer undeutlicher.

Braunschweig versuchte, seinen blutunterlaufenen Blick auf Kraus zu richten, hatte jedoch Schwierigkeiten, ihn zu fixieren. »Ihr Anführer ist schrecklich charismatisch, eine sehr verdorbene Gestalt ... ein früheres Gemeindemitglied, und dazu ein ziemlich wichtiges, wie ich beschämenderweise zugeben muss.«

In einem unsicheren Gemisch aus Dankbarkeit und Entsetzen schob Kraus eine Hand in seine Brusttasche. War das alles nur das Geschwafel eines Betrunkenen? Es klang so. Andererseits ... er zog sein Notizbuch hervor. »Sprechen Sie weiter, Herr Pastor. Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Wie heißt er?«

»Es ist kein Er, Kraus. Es ist meine frühere Frau, Helga Braunschweig.«