SECHS

Vicki steckte ihren Kopf ins Badezimmer. »Das Wurstverbot ist aufgehoben.«

Kraus stand unter der rauschenden Dusche und war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Was?«

»Wurst ... Sie wird wieder verkauft!«

Er riss die Augen so weit auf, dass ihm Shampoo hineinlief. Er spülte sie hastig aus. »Bist du sicher?«

»Es kam gerade im Radio. Sie haben die Bakterien gefunden. Lässt du mir noch etwas heißes Wasser übrig, Liebling?«

Wäre ja nett gewesen, wenn ihn jemand vorab informiert hätte. Kraus drehte die Dusche zu.

Beim Frühstück sah Erich ihn mit seinen großen, braunen Augen über den Toast hinweg an.

»Vati, ich habe mich entschieden.«

»Hast du das?«

»Ja. Ich weiß jetzt, was ich zu Hanukkah haben möchte.«

»Und was wäre das? Pass auf, dass du nicht alles voll krümelst.«

»Ein Modellflugzeug, eine Fokker Dreidecker, wie der Rote Baron sie im Krieg geflogen hat.«

Wenigstens ist er von dem Aquarium abgekommen, dachte Kraus. »Das halte ich für sehr klug, Erich. Es gibt im KaDeWe eine ganze Abteilung für Modellflugzeuge. Ganz sicher haben sie dort auch die Maschine des Roten Barons. Wir gehen Samstag hin, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«

»Kann ich mitkommen?«, wollte der Kleine wissen.

»Selbstverständlich, Stefan«, versicherte Kraus. Dann jedoch fiel ihm ein, dass er Samstag eigentlich vorgehabt hatte, ein bisschen in diesem grotesken »Liebeskult« herumzustochern, von dem Pfarrers Braunschweig ihm erzählt hatte. Konnten die Behauptungen des Pfarrers wirklich stimmen? Es kam ihm zu abartig vor. Selbst für Berlin. Aber er musste ständig an das denken, was Braunschweig noch gesagt hatte: »... und auch noch mit Kindern.« Was genau konnte das bedeuten? Er schreckte davor zurück, es sich genauer vorzustellen. Ganz gewiss hatte sich bei dem Priester die Grenze zwischen Fakten und Fiktion durch all den Schnaps verwischt. Aber er hatte Kraus eine Visitenkarte zugesteckt. Eine vollkommen verrückte Karte mit allen Arten von Pentagrammen und ägyptischen Symbolen darauf: MISSION DER GÖTTLICHEN STRAHLUNG, BLEIBTREUSTRASSE 143, CHARLOTTENBURG. Das Viertel war jedenfalls ziemlich vornehm. Aber zuerst kamen die Kinder. Die Frage war nur, welche Kinder? Seine eigenen oder diejenigen, deren Knochen von einem Verrückten gekocht worden waren, der immer noch frei herumlief? Was er eigentlich hätte tun sollen, war: die ganze Angelegenheit Freksa zu übergeben.

Als das Telefon klingelte, zuckte er zusammen. So früh am Morgen?

Es war Frau Dr. Riegler.

»Tut mir leid, dass ich Sie nicht informiert habe, Kommissar.« Sie klang ein bisschen verlegen. »Wir haben es erst gestern verifiziert. Und außerdem, sagen wir ... die Politik hatte die Hände im Spiel.«

Kraus wollte nicht wissen, was sie damit meinte. Ihn interessierte nur, wo sie die Bakterien gefunden hatten. »War es ein freier Händler?«

»Wir geben eine Pressekonferenz um zehn. Thaer Straße 92. Centralviehhof. Sie sollten kommen.«

Vom Bahnsteig der S-Bahn-Station aus konnte Kraus auf die außerirdisch wirkende Landschaft des Viehhofs hinabsehen, der auf der anderen Seite eines breiten Schienengeländes lag. Er war vollständig von einer hohen Ziegelmauer umgeben, die seinen eher unappetitlichen Anblick verbarg. Das riesige Gelände und die Markthallen mit ihren gläsernen Dächern, die makellos sauberen Viehhöfe, die hohen Rampen, die Tunnel und die ultraeffizienten Schlachthäuser gehörten zu Berlins Wundern der Ingenieurskunst. Das war bereits Kraus’ zweiter Ausflug hierher. Er konnte sich noch sehr lebhaft an seinen ersten vor einigen Wochen erinnern, eine wirklich großartige Besichtigungstour. Zwei Tage, nachdem er Strohmeyers Wurstwerke besucht hatte, hatte dieser Rundgang sein Bild von der Fleischindustrie der Hauptstadt abgerundet, vom lebenden Tier bis zum Würstchen.

Der Direktor des Viehhofs, Gruber, hatte ihn höchstpersönlich in einem glänzenden Daimler am Bahnhof abgeholt, ihn seiner Bewunderung für die Kriminalpolizei versichert und ihm seine hoffnungslose Sucht nach Kriminalromanen gestanden. Es war eine gern verwendete Taktik, Kriminalbeamten, die auf dem Hinterhof im Dreck stocherten, zu schmeicheln, das wusste Kraus. Aber Gruber hatte wirklich ein bisschen dick aufgetragen. »Ihr Jungs vom Alex seid die Besten.« Er hatte Kraus die Hand geschüttelt, als wäre er ein Filmstar. »Und wir hier vom Viehhof sind auch nicht viel schlechter, wenn ich unser eigenes Loblied singen darf. Gesundes Fleisch ist heutzutage ebenso wenig Luxus wie Gesetz und Ordnung, meinen Sie nicht auch? Wir alle arbeiten für das Gemeinwohl.«

Der massige Mann mit dem dünnen Schnurrbart sonderte Stolz auf seinen Beruf aus praktisch jeder Pore ab.

»Vor 1882«, dozierte er, als sie über die Eldenaer Straße zum Eingang des Viehhofs chauffiert wurden, »konnte jeder in Berlin Tiere schlachten, wo immer er wollte. Das war, mit Verlaub, eine ziemliche Schweinerei. Dann wurde alles hierher verlegt, in eine von der Stadt kontrollierte Institution. Heute sind hier nahezu elfhundert Firmen ansässig, kleine und große, die nach unseren Regeln und unter unserer Aufsicht arbeiten und Räume anmieten. Ein für alle höchst vorteilhaftes Arrangement.«

Sie fuhren durch den Haupteingang. Die Straßen dahinter waren mit Lastwagen, Pferdefuhrwerken und Handkarren verstopft und wurden von adretten, tiefroten bis honiggelben Ziegelgebäuden im traditionellen norddeutschen Stil gesäumt. Gruber zeigte Kraus das Verwaltungszentrum, das Telegrafenbüro, die Archive, die Viehbörse und die Veterinärlabors. Es gab Restaurants, Cafeterien, Kaffeehäuser und Bierhallen. Dazu Geschäfte, die jegliche Art von Bedarfsartikeln verkauften, angefangen von Hackmessern und Haken bis zu hohen Gummistiefeln und Schürzen. Es gab sogar einen Kiosk von Loeser & Wolff, Berlins bekanntesten Tabakhändlern ... falls dem Herrn Kriminalsekretär nach einer Zigarre gelüstete?

»Auf einhundertzwanzig Morgen Land finden wir hier siebenundfünfzig Gebäude und fünfundzwanzig Kilometer gepflasterte Straßen. Fünftausend Menschen verdienen hier ihr täglich Brot. Der Viehhof selbst beschäftigt Tierärzte, Fleischinspektoren und Laboranten, wir haben sogar unsere eigene Feuerwehr.«

Auf der Ostseite des Marktes befanden sich die Viehhöfe und die Verkaufshallen. Im Westen lagen die Schlachthäuser und die Fabriken für die Schlachtnebenprodukte. Die beiden Komplexe waren durch eine Reihe von Tunneln miteinander verbunden, durch die man das Schlachtvieh von einer Halle in die andere treiben konnte. Es war Mittwoch, Markttag, deshalb schlug Gruber vor, dass sie kurz vorbeifuhren und sich ansahen, wie es funktionierte.

Der riesige Viehmarkt mit seinem gläsernen Dach war so gewaltig, dass Kraus kaum in der Lage war, das andere Ende zu sehen. Und es war so laut, dass er seine eigene Stimme nicht hören konnte. Endlose Reihen von Pferchen waren mit zahllosen Rinderrassen gefüllt, und eine ebenso große Anzahl von Männern mit Hüten und Staubmänteln schrien Gebote und Gegengebote. Gruber zeigte Kraus, wie die Makler der Schlachter den Blick, die Mäuler, sogar die Atmung der Tiere untersuchten, an denen sie interessiert waren. Eine gesunde Kuh hatte glänzende Augen, eine feuchte Nase und atmete leicht. Eine kranke hatte verkrustete Nüstern, trübe Augen und ließ die Zunge aus dem Maul hängen. Sowie man ein krankes Tier entdeckt hatte, wurde es in einen besonderen Quarantäne-Hof gebracht, geschlachtet, sterilisiert und an die Armen als Freibankfleisch verkauft. Gruber versicherte Kraus nachdrücklich, dass es nur sehr wenige kranke Tiere überhaupt bis zum Viehhof schafften.

Wie alle anderen Beteiligten an diesem Fall hatte der Direktor des Viehhofs versucht, Kraus davon zu überzeugen, dass es unmöglich auf seinem Terrain zum Ausbruch der Listeria gekommen sein konnte. Das war ein vollkommen verständlicher Impuls.

»Unsere Tiere kommen aus ganz Europa. Veterinäruntersuchungen und Fleischinspektionen sind ein unerlässlicher Bestandteil unserer Arbeit. Bevor irgendein Schlachtvieh jemals die Ställe erreicht, ganz zu schweigen die Fleischbörse, wird jedes Tier auf den Rampen untersucht. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Er hatte Kraus zum Entladebahnhof mitgenommen, dem gewaltigen Bahnhof innerhalb des Viehhofs, der direkt mit der Ringbahn verbunden war, dem Gleissystem, das Berlin umgab. Hier teilten sich die Gleise und führten zu fünf Rampen. An jeder dieser Rampen konnte ein Frachtzug mit zwanzig Waggons entladen werden. In einer besonderen Desinfektionsanstalt befand sich eine Apparatur, die fünfzig leere Waggons pro Stunde reinigen konnte. Wenn sie funktionierte, wie sie sollte, lief dieser Prozess wie ein Uhrwerk, prahlte Gruber.

Bei dem schrillen Ton einer Dampfpfeife drehten beide gleichzeitig den Kopf herum. Eine riesige, schwarze Lokomotive fuhr gerade mit ihrer Fracht herein.

»Ich würde gern behaupten, ich hätte das für Sie engagiert, Herr Kriminalsekretär. Aber diese Transporte kommen mit großer Regelmäßigkeit herein. Jetzt können Sie das ganze Schauspiel in Ruhe verfolgen.«

Ein Zug mit zwanzig hölzernen Waggons rumpelte heran. Er kam, wie Kraus an einem Schild sah, aus einer Stadt in Polen. Die Reise, erklärte Gruber, hatte elf Stunden gedauert. Ohrenbetäubendes Kreischen ertönte, als die Bremsen den Zug zum Stillstand brachten. Der Zugführer sprang von der Lokomotive und blickte an dem Zug entlang. Als Helfer an jedem einzelnen Waggon bereitstanden, blies er in eine Pfeife. Gleichzeitig flogen die zwanzig versiegelten Türen auf, und als wäre ein Damm gebrochen, strömte eine Flut aus rosafarbenen Schweinen aus jedem Waggon. Sie quietschten, schnappten, schrien und grunzten, während sie von Männern mit Stöcken weitergetrieben wurden. Dann wurden sie durch Pferche einzeln über die Rampe getrieben, wo sie von anderen Männern in langen Segeltuchschürzen bereits erwartet wurden. Das waren die Gesundheitsinspektoren. Bevor die Tiere in eine Koppel gelassen wurden, mussten sie sich einzeln einer Musterung unterziehen. Die meisten schafften es und warteten dann in den Koppeln auf ihren Weitertransport zu den Viehhöfen und auf den Markttag. Die wenigen, die es nicht schafften, wurden sofort eine Rampe hinab zur Entsorgung getrieben. In beiden Fällen war ihr Schicksal besiegelt. »Jedes Tier, das hier ankommt«, meinte Gruber kichernd, »verlässt den Viehhof nur in Hälften, Keulen oder Koteletts.«

Anschließend waren sie durch ein Tor in die westliche Zone gefahren, über Alleen mit gigantischen Bauwerken aus roten Ziegeln, von denen jedes mehrere Fußballfelder lang war und an deren Enden riesige Schornsteine standen. Es hätten Fabriken, Maschinenhallen oder Geräteschuppen sein können. Tatsächlich waren es jedoch, wie Gruber erklärte, die Schlachthäuser. Es gab davon sieben, und jedes verarbeitete achttausend Tiere pro Tag. Nahezu drei Millionen im Jahr. Der glänzende schwarze Daimler kam zum Stehen.

Die Straße vor ihnen wurde von einer Herde Schafe blockiert, die aus einem Tunnel direkt aus den Markthallen aufgetaucht waren. Es waren Hunderte, die blökend von Männern mit Stöcken nummerierte Rampen hinauf und dann weiter in das nächste Ziegelgebäude getrieben wurden. Dort drängten die Männer sie dann einzeln durch die Schwingtüren.

»Wollen Sie sehen, wie es abläuft?«, erkundigte sich Gruber.

Kraus warf einen Blick auf die wolligen, weißen Leiber, die sich aneinanderdrängten, als sie sich durch die Türen quetschten. Ein Mann mit hüftlangen Gummistiefeln und einer langen, weißen Schürze stand neben der Tür und rauchte. Kraus warf einen Blick auf dessen blutbespritzte Schürze und schüttelte den Kopf. Er musste das nicht sehen. Andererseits war es für einen Mann, der selbst etliche Menschen getötet hatte, ein wenig peinlich, so zu kneifen.

Gruber lächelte nur. »Die meisten Besucher wollen die Schlachtung nicht sehen. Das verstehe ich. Aber ich versichere Ihnen, dass wir es so human wie möglich machen. Letztendlich kann man sagen, dass die Tiere gar nicht mitbekommen, was mit ihnen geschieht. Sie werden durch Schiebegitter isoliert, ruhiggestellt, betäubt, aufgehängt und dann ausgeblutet, durch einen Schnitt durch die Kehle. Danach werden sie gehäutet, ausgeweidet und zerhackt. Dann werden sie von einem Schienensystem an der Decke an Haken in die Kühlhäuser transportiert. Dort wird jeder Tierkörper nach Parasiten oder anderen Zeichen einer Erkrankung abgesucht. Dann werden sie in ihre Bestandteile zerlegt und nach Fleisch und Nebenprodukten sortiert. Das da drüben ist eines der Kühlhäuser.« Gruber deutete auf ein gewaltiges, fensterloses Gebäude am Ende der Straße. »Die Temperaturen hier steigen nie über anderthalb Grad. Schlachter mieten getrennte Bereiche und holen sich dann Nachschub, wie das Geschäft es erfordert. Wenn das Fleisch den Viehhof verlässt, gehen die besseren Teile zum Großhandelsmarkt gegenüber auf der Landsberger Allee, wo sie wiederum von Händlern gekauft werden, die sie zu den Zentralmarkthallen am Alexanderplatz oder direkt an Einzelhändler liefern.«

»Was ist das?« Kraus deutete auf einen sechseckigen Turm, der etliche Stockwerke hoch war und aussah wie eine mittelalterliche Burg.

»Der alte Wasserturm. Er wird nicht mehr benutzt. Sieht unheimlich aus, stimmt’s?« Gruber lachte. »Vielleicht sollten wir ihn für einen dieser Vampirfilme verpachten. Der neue steht da drüben, über dem Maschinenhaus. Fünf Turbinen mit jeweils vierundachtzig PS betreiben unser hydraulisches System. Natürlich sind wir, was Sauberkeit angeht, penibler als die Armee. All unsere Fabriken, Schlachthäuser, Laderäume und Viehhöfe sind nicht nur mit hervorragender Ventilation und Licht ausgestattet, sondern verfügen auch über Wasseranschlüsse mit maximalem Druck. Alles muss ständig abgespritzt werden. Selbst die Böden haben ein Drainagesystem, damit die Abwässer entsorgt werden können.«

»Abwässer?« Kraus spürte ein merkwürdiges Kribbeln. »Wohin werden sie geleitet?«

Gruber schien diese Frage höchst befremdlich zu finden. »In die Kanalisation natürlich.« Er strich über seinen Schnurrbart. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen einen unserer interessantesten Bereiche: das Areal mit den Nebenprodukten.«

Hinter einer Kurve, im südlichen Teil des Viehhofs, befanden sich Dutzende von Betrieben, die sich darauf spezialisiert hatten, die Teile weiterzuverarbeiten, die kein Fleisch waren. Alles außer den Exkrementen, hatte Gruber ihm versichert, wurde gesammelt und verwertet. Mägen, Lungen, Milz, Nieren, Leber, Hirn, Fettgewebe, Hufe, Häute, Borsten, Drüsen ...

»Wir haben hier eine ganze Straße mit Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Kutteln zu säubern, die dann als Wursthäute weiterverwendet werden. Sie sind notwendig für die Herstellung von Wurst und Würstchen, was Sie ja zweifellos bereits bei Ihrem Besuch bei Strohmeyer gesehen haben. Da drüben ist die Talgschmelze, ein ganzer Häuserblock mit kleinen Betrieben, in denen den ganzen Tag Fett zu Talg geschmolzen wird. Das wird zum Beispiel für Kerzen benutzt.«

Der Gestank war bemerkenswert. Der schwere, ölige Rauch, der aus einigen dieser Betriebe drang, war so ziemlich das Widerlichste, das Kraus jemals gerochen hatte. Trotz seiner Erfahrungen auf dem Schlachtfeld.

»In dieser Straße liegen die Häutesalzereien, wo die Häute zu Leder verarbeitet werden. Und in dieser kleinen Gasse hier haben sich Firmen angesiedelt, die Borsten für die Bürstenindustrie sterilisieren. Das besonders würzige Aroma, das Sie zweifellos bemerkt haben, kommt von da drüben, den Leimfabriken. Ein bisschen weiter hinten wird Blut verarbeitet, und dahinter arbeiten die Knochenkocher.«

Knochenkocher? Bei diesem Wort durchlief Kraus erneut ein Kribbeln.

»Kommen Sie, Kommissar, spielen Sie nicht den Überraschten. Die Nutzung von Knochenfett ist so alt wie die Zivilisation. Die Butter des armen Mannes. Seien Sie dankbar, wenn Sie es niemals verwenden mussten. Viele Menschen in dieser Stadt müssen sich aber damit behelfen. Und das Knochenmark, na ja, das muss ich Ihnen wohl nicht erzählen ... Einfach köstlich zum Beispiel mit Schalotten und Wildpilzen, gegrillt mit Kräutern oder als Aufstrich auf Toast.« Jetzt, bei seinem zweiten Besuch, erwartete ihn kein Empfangskomitee.

Kraus musste in dem kalten Wind allein über die lange Brücke über die Gleise von der S-Bahn-Station gehen. Der graue Himmel über seinem Kopf war bereits mit dem Rauch aus den Schornsteinen der Schlachthäuser besudelt. Wenigstens, dachte er, ist die Quelle der Bakterien gefunden worden. Fünfzehn Tote. Eintausendfünfhundert Erkrankte. Ganz bestimmt würden Köpfe rollen.

Als er jedoch durch die Tore des Viehhofs trat, ging ihm nicht Listerien durch den Kopf, sondern Abflussrohre und Knochenkocher. Konnte es eine Beziehung zwischen diesem Ort hier und jenem Jutesack geben? Die Baustelle, wo der Sack hochgespült worden war, lag nicht einmal anderthalb Kilometer von hier entfernt.

Die Pressekonferenz wurde in der Viehbörse abgehalten, und zwar im Speisesaal im ersten Stock, einer gigantischen, feudalistisch wirkenden Halle mit gotischen Gewölben und Strebebögen. Jetzt drängten sich dort Hunderte von Reportern. Kraus erkannte etliche, die ihn interviewt hatten, als er noch an richtigen Mordfällen gearbeitet hatte; Lauterbach von der Morgenpost, Wörner von der Abendzeitung. Auf einem Podest an der Stirnseite saß der zehnköpfige Vorstand des Viehhofs der Menge gegenüber. Die massige Gestalt von Herrn Direktor Gruber war nicht zu übersehen. Schließlich beugte sich der Chef des Centralviehhofs zum Mikrofon und sprach ebenso geschraubt wie an dem Tag, als er Kraus in seinem Daimler herumkutschiert hatte.

»Ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen. Danke, dass Sie gekommen sind. Es ist ein ausgesprochen erfreulicher Anlass. Wir können endlich und voller Zuversicht verkünden, dass diese schwierige Zeit, dieser stadtweite Alptraum, vorbei ist. Unsere Fleischversorgung ist wieder sicher. Danken wir Gott dafür.« Er senkte seinen riesigen Schädel wie zur Andacht, hob ihn nach ein paar Sekunden wieder und strich sich über seinen Schnurrbart. »Nach der Pressekonferenz wird der Vorstand bei einem Imbiss aus frischen Würstchen und Bier feiern. Wir möchten Sie alle dazu herzlich einladen.«

Keine Entschuldigung? wunderte sich Kraus. Kein Schuldeingeständnis?

»Und jetzt möchte ich Ihnen die Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Gesundheitsministeriums vorstellen.« Gruber trat zur Seite.

Als Frau Dr. Riegler ihren Platz vor den Mikrofonen einnahm, wirkte sie bleich. Kraus fand, dass sie nicht so glücklich aussah, wie sie eigentlich sollte.

»Das Auftreten von Listerien ...«, die Lautsprecher pfiffen grell, als sie zu dicht am Mikrofon sprach, und die Zuhörer zuckten heftig zusammen. »Entschuldigung. Verzeihen Sie mir.« Sie räusperte sich. Kraus bemerkte, dass ihre Wange unter dem Auge wieder heftig zuckte. »Das Auftreten von Listerien monocytogenes wurde gestern in einem Abschnitt von Schlachthof sieben bestätigt, der langfristig an die Firma Kleist-Rosenthaler vermietet wurde, einem größeren Lieferanten von Füllmaterial an die Fabriken, in denen die vergiftete Wurst hergestellt wurde. Frühere Tests haben keine positiven Ergebnisse erbracht, weil die Firma nach dem ersten Auftreten der ListerienInfektion energische Bemühungen zur Desinfektion unternommen hat, den Vorschriften des Centralviehhofs entsprechend. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass keiner der Angestellten von Kleist-Rosenthaler von dieser Vergiftung gewusst hat oder Vorschriften verletzt worden sind. Ebenso wenig wurde versucht, etwas zu vertuschen. Es handelt sich nur um ein zufälliges und glücklicherweise höchst seltenes Auftreten dieses Bakteriums.«

Kraus sah, dass Rieglers Gesicht zuckte wie ein Zitteraal.

»Die Frau Doktor sonnt sich wirklich in ihrem Ruhm.«

Kraus drehte sich um. Neben ihm stand Heilbutt, ein Ermittler des Gesundheitsministeriums, der das dortige Labor leitete. Kraus war dem knorrigen alten Kauz schon mehrmals bei seinen Ermittlungen begegnet. Er war ein echtes Relikt aus dem Kaiserreich, stand kurz vor seiner Pensionierung, achtete pedantisch auf das Protokoll und war extrem akribisch. Gleichzeitig verachtete er seine Chefin, die er nur mit einem aufgesetzten russischen Akzent als »die Frau Doktor« ansprach, als wären weibliche Ärzte ein Synonym für den Bolschewismus. Als sie in ihrer Rede den Direktoren des Centralviehhofs für ihre grenzenlose Kooperation dankte, warf er Kraus einen boshaften Blick zu.

»Riechen Sie den Gestank?«

Kraus lächelte, weil er vermutete, dass der alte Kauz die diplomatischen Nettigkeiten der Frau Doktor einfach nur schmähen wollte, was durchaus verständlich war. Immerhin waren viele Leute gestorben. Und wo war der Finger, der auf den Schuldigen zeigte? Aber das Funkeln in Heilbutts Augen wirkte irgendwie düsterer. Was will er mit seinen Worten andeuten?, dachte Kraus. Hatte der Druck, die Krise beenden zu müssen, möglicherweise zu einer etwas voreiligen Schlussfolgerung geführt? Wollte man etwas vertuschen? Und was hatte Riegler am Telefon mit ihrer Bemerkung »Die Politik hatte die Hände im Spiel« gemeint?

»Ich bin ein bisschen überrascht, dass hier im Viehhof Listerien aufgetaucht sind.« Kraus beschloss, ein bisschen herumzustochern. »Ich hätte mein Geld ja auf einen der freien Händler gesetzt.«

Heilbutt kniff die Augen zusammen. »Die unterscheiden sich vielleicht gar nicht so sehr von den lizensierten, Herr Kriminalssekretär«, knurrte er. »Vor ein paar Jahren, während der Inflation, wären Sie nicht mal im Traum darauf gekommen, was alles in der Wurst zu finden war. Wauwau. Ja, ganz recht. Aber man hat nie etwas darüber gehört, weil niemand erkrankt ist; also haben die verantwortlichen Behörden es unter Verschluss gehalten. Aber trotzdem war es genau das. Hundefleisch. Und zwar jede Menge. Wir haben zwar die Quelle niemals identifizieren können, aber sie sprudelte mit absoluter Sicherheit direkt hier im Viehhof. Fragen Sie die Frau Doktor bei Gelegenheit mal danach.«