DREIZEHN

Kraus blickte zum x-ten Mal auf seine Armbanduhr. Schweiß lief ihm über die Stirn. Sein Wagen stand in der Nachmittagssonne. Sollte er es jemals zum Inspektor bringen, bekäme er einen Dienstwagen. Bis dahin musste der Familien-Opel genügen. So oder so: Er war fest entschlossen, das Nest dieses Kerls zu finden, den er bei sich den Ochsen getauft hatte. Dieser große, kahlköpfige Bulle, der ihn letzten Herbst mit dem Messer bedroht hatte, schien so ziemlich mit jedem auf dem Markt bekannt zu sein. Wenn überhaupt jemand wusste, wer hier Kinder zerstückelte, dann er.

Zwei Männer trotteten heran, zwischen sich ein Fass mit einer undefinierbaren Brühe. Kraus versank in seinem Sitz und zog den Hut tiefer in die Stirn. Es wäre zwar nett gewesen, einen abgelegeneren Ort zu finden, vorzugsweise im Schatten. Aber im Augenblick war er da, wo er sein musste: gegenüber vom Eingang des Markts, wo er den schwarzen Lieferwagen des Ochsen im Rückspiegel beobachten konnte. Er saß jetzt seit drei Stunden hier und wäre gern einmal auf die Toilette gegangen. Das hatte er gestern gemacht und prompt diesen Hundesohn verpasst. In solchen Momenten vermisste er einen Kollegen besonders schmerzlich. Nur die Vorstellung, wie diese sechs Zigeuner im Gefängnis schmachteten, linderte sein Selbstmitleid ein wenig.

Aber wenigstens war er jetzt dem Kinderfresser auf der Spur. Davon war er überzeugt. Wer hätte das gedacht, eine Frau! Kaum vorstellbar, so schien es. Aber als Helga von der Drohung dieser Frau berichtet hatte, sie würde ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen, war er davon überzeugt gewesen, dass sie es sein musste, diese Ilse, die Hirtin, hinter der er her war.

Ob sie allein arbeitete? War das möglich? Konnte eine Frau so viele Kinder entführen und ermorden? Ihr Fleisch verkaufen? Das wäre schon für einen Mann schwer genug gewesen. Eine Frau musste doch Komplizen haben, oder nicht? Selbst wenn die möglicherweise gar nicht wussten, was sie da taten. Es sei denn natürlich, er unterschätzte diese Person. Wovor die Hohepriesterin Helga ihn ja auch gewarnt hatte.

»Ich helfe Ihnen, so gut ich es vermag, Herr Kriminalsekretär. Aber hören Sie auf mich«, hatte Helga betont, »um was für ein Verbrechen es sich auch handeln mag, glauben Sie ja nicht, dass dieses Miststück nicht dazu fähig wäre.«

Mit was für einer wahnsinnigen Person hatte er es hier zu tun?

Am nächsten Morgen war Kraus zuerst zum Alexanderplatz geeilt und hatte die zweite Spur aufgesucht, die er im Fall der Hirtin hatte.

»Kai!« Er fand den Jungen am Podest von Berolina, der gigantischen Amazone, die vor dem Haupteingang des Kaufhauses Tietz Wache hielt. Das Dutzend Apachen, allesamt mit Augen-Make-up und lackierten Fingernägeln, pfiff anzüglich, als der Junge in seinem mexikanischen Poncho und seiner gefiederten Buschmütze auf Kraus zuschlenderte.

»Achten Sie nicht auf die.« Kais Kreole funkelte, während sie zu einem belebten Bereich in der Nähe des Geschäftes gingen, damit niemand sie belauschen konnte. »Schön, Sie wiederzusehen, Herr Kriminalsekretär.«

»Du hast mir gesagt, die Wilden Jungs in Neukölln würden über eine Frau spekulieren?«

Der Junge riss seine geschminkten Augen weit auf. »Sie meinen, es gibt sie wirklich ... diese Hirtin?«

»Ich muss mit diesen Jungen reden. Kannst du das arrangieren?«

»Ich könnte Sie sofort hinbringen.«

Die Schwarzen Ritter waren die größte Bande der Wilden Jungs im Arbeiterviertel von Neukölln und hielten Hof in einem Untergeschoss in der Nähe des Hermannplatzes, direkt gegenüber dem gigantischen neuen Kaufhaus Karstadt. Im Unterschied zu Kais Bande, die zusammenhielt, um zu überleben, waren diese Jungs hier ein hartgesottener Haufen aus Taschenund Ladendieben; es waren Jungen, die Mädchen mochten und zu Männern heranwuchsen, die eine Verbrecherkarriere vor sich hatten. Sie waren eine Art Vorschule für den Ringverein, eine Bande erwachsener Krimineller, die regelmäßig Nachschub aus den Reihen der Ritter rekrutierte. Einige dieser Gangster in spe überwanden jedoch ihre Aversion gegen die Polizei, als sie erfuhren, dass ein Kriminalbeamter gekommen war, um sich die Geschichten über die Hirtin anzuhören.

In dem verrauchten Untergeschoss gab es nur Stehplätze. Die wenigen Mädchen, die anwesend waren, wirkten noch abgebrühter als die Jungs. Der Anführer, ein pickelgesichtiger Veteran von siebzehn Jahren, der sich Friedrich der Große nannte, saß in der Mitte einer durchgesessenen Biedermeiercouch, in jedem Arm ein vollbusiges Mädchen. Er begann das Gespräch mit einer ausgedehnten Tirade gegen die Polizei, die sich nicht dafür interessierte, ob sie lebten oder starben.

»Seit Anfang des Jahres sind acht unserer Jungs hier aus der Gegend verschwunden, alle unter vierzehn. Zwei weitere erst letzte Woche, nachdem die angeblichen Verbrecher eingesperrt worden sind. Wie oft wir auch versucht haben, mit euch Polizisten zu reden, keiner hört uns zu. Als würden wir gar nicht existieren.«

»Ja!« Die anderen Jungs schrien durcheinander. »Kein Wunder, dass wir zu Verbrechern werden!«

»Ich bin hergekommen«, versicherte Kraus ihnen, »um all das aufzudecken.«

Er hätte genauso gut eine Granate werfen können, so wuchtig war die Explosion aus Wut und Furcht. Alle redeten auf einmal.

»Sie lockt mit Geld!«

»Sie hat ein Messer!«

»Sie arbeitet mit einem Mann zusammen!«

»Sie arbeitet allein!«

»Hat irgendjemand sie tatsächlich gesehen?« Kraus versuchte, Ordnung in die ganze Angelegenheit zu bringen.

»Sie ist groß und hat kurzes rotes Haar.«

»Sie ist klein und hat langes rotes Haar.«

Alle waren sich zwar sicher, dass die Frau rothaarig war, aber keine einzige Menschenseele hatte sie gesehen. Die Jungen verschwanden, wenn sie entweder allein oder zu zweit waren. Wohin die Frau sie jedoch schaffte und wie sie das machte, oder woher eigentlich der Name Hirtin kam, wusste keiner.

Wer auch immer sie ist, dachte Kraus, sie ist auf jeden Fall äußerst geschickt.

»Von jetzt an«, wies er die Jungen an, »solltet ihr nur in Gruppen von drei oder vier herumlaufen. Verbreitet das unter den Wilden Jungs. Haltet die Augen auf. Sollte jemand diese Hirtin wirklich einmal sehen, will ich das erfahren. Und zwar sofort.«

Damit ging er ein großes Risiko ein, das war ihm klar. Er wollte nicht an die Folgen denken, wenn der Kommissar erfuhr, dass er sich erneut in Freksas Fall einmischte. Und schon gar nicht wollte er sich ausmalen, was Vicki mit ihm machen würde, wenn sie es herausfand. Auf jeden Fall würden sich die Wilden Jungs in ganz Berlin jetzt zu ihrem eigenen Schutz organisieren. Und nach der Hirtin Ausschau halten. Ebenso wie die Hohepriesterin und ihre Leibwächterin Brigitta. Irgendwann würde jemand sie sehen. Hoffte Kraus jedenfalls. In der Zwischenzeit setzte Kraus seine Bewachung des illegalen Marktes fort und saß wartend in seinem kleinen schwarzen Opel. Wenn die verschwundenen Jungen wirklich als Füllmaterial in Wurst landeten, musste es möglich sein, die Spur bis zu der Stelle zurückzuverfolgen, wo das Fleisch zerteilt und zermahlen wurde. Es musste ein wahrhaft gottverlassener Ort sein.

Auf den Hochgleisen lief die elektrische S-Bahn in den Bahnhof Landsberger Allee ein. Sie gehörte zu dem Ring aus Eisenbahnen, die unter anderem für die industrielle Vormacht Berlins verantwortlich waren. Diese Nahverkehrszüge fuhren über dieselben Gleise, von denen vierhundert Meter entfernt eine Spur zum Viehhof abzweigte. Dieselben Gleise, über die Hunderttausende von Menschen transportiert wurden, brachten auch das Vieh aus ganz Europa hierher, um die Einwohner Berlins zu ernähren. Der Lärm des einfahrenden Zuges hallte von den Gebäuden in der Nähe zurück, und Kraus hörte den Warnruf des Schaffners: »Zurückbleiben!« Leute strömten auf die Straße. Als der Zug den Bahnhof verließ, warf er einen Blick in den Rückspiegel.

Da war er. Der Ochse trieb mit seinen mächtigen Armen zwei schlaksige Jungs vor sich her, die ziemlich erschöpft aussahen, aber gleichzeitig erleichtert darüber, diesem höllischen Markt entkommen zu sein. Sie warfen ein paar leere Kisten in den Lieferwagen und kletterten dann selbst hinten hinein. Der Ochse schlug die Tür zu und stieg dann ins Führerhaus.

Der Mann war wirklich fast so groß wie ein kleiner Stier. Seine Gliedmaßen waren zweimal so dick wie die von Kraus und schienen nur aus Muskeln zu bestehen. Es war verblüffend, dass er überhaupt hinter das Lenkrad passte. Kraus holte tief Luft und wartete, bis der Mann an ihm vorbeigefahren war, bevor er seinen Motor startete. Und wie schaffte er es, die ganze Zeit ohne Nummernschild durchzukommen? In dieser Stadt hielten sie einen ja sogar wegen einer schmutzigen Windschutzscheibe an. Kraus achtete darauf, dass sich stets ein Fahrzeug zwischen ihm und dem Lieferwagen befand, und war froh, dass er keine Verfolgungsjagd machen musste. Der Opel fuhr nicht schneller als achtzig, höchstens neunzig Kilometer pro Stunde. Das genügte, um die Kinder zu Opa zu bringen. Aber es wäre schön, irgendwann einen schnelleren Wagen zu kaufen. Angesichts des dichten Verkehrs war Geschwindigkeit allerdings das Letzte, worüber er sich momentan den Kopf zerbrechen musste.

Kraus kroch über die Thaerstraße, dann bog er in die Eldenaer Straße ein und sah, wie der Ochse schließlich durch das Haupttor auf den Centralviehhof fuhr. Kraus ließ einen leeren Lastwagen zwischen sich und sein Opfer einfädeln und reihte sich hinter ihm ein. Auf den Schotterstraßen drängte sich ein Gewühl von Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerken. Die hübschen Gebäude aus roten und goldgelben Ziegeln glühten in der Nachmittagssonne. Siebenundfünfzig Gebäude auf einhundertzwanzig Morgen Land, hatte Direktor Gruber geprahlt. Elfhundert einzelne Firmen. Fünftausend Leute, die hier ihr tägliches Brot verdienten.

Und mindestens ein Massenmörder.

Kraus achtete weiterhin darauf, immer einen Laster zwischen sich und dem Lieferwagen zu lassen, und folgte dem Ochsen vorbei an einem riesigen Viehmarkt mit gläsernem Dach, den Hallen für Schafe und Schweine, den Freiluftpferchen, die sich über mehrere Morgen ausdehnten, und durch den Tunnel, der auf die Südseite des Komplexes führte. Wenn wir an den Schlachthäusern vorbeifahren, sagte er sich, hat sich meine Geduld vielleicht ein wenig ausgezahlt. Denn dann würde er genau dorthin fahren, wo Riegler und Heilbutt den Ursprung der vergifteten Wurst ausgemacht hatten.

Ein Schlachthaus nach dem anderen zog an ihm vorbei, und aus dem Schornstein eines jeden Gebäudes quoll dichter Qualm. Kraus kurbelte das Fenster hoch, aber das half nichts. Der Gestank von frischem Blut und brennendem Fett drang wie Giftgas in den Innenraum des Wagens. Kraus hätte nicht geglaubt, dass Menschen in einem solchen Gestank arbeiten konnten, hätte er nicht drei Jahre an der Westfront gedient.

Plötzlich hielt der Lastwagen unmittelbar vor ihm an und fuhr keinen Schritt weiter. Kraus knirschte mit den Zähnen. Dieses ganze Gebiet war ein Labyrinth aus kleinen Gässchen, in denen der Ochse im nächsten Moment verschwunden sein konnte. Er hupte, was ihm nur eine wütende Geste des Lastwagenfahrers einbrachte. Dann streckte er seinen Kopf aus dem Fenster und betete, dass er an dem Wagen vorbeikam. Zu seiner Bestürzung sah er jedoch, dass die Straße vor ihm von einer Rinderherde blockiert war. Die Tiere trotteten zu Hunderten auf die Rampen eines Schlachthauses. Er konnte es nicht glauben. Nach all dieser geduldigen Warterei! Er sprang aus dem Wagen, stieg auf das Trittbrett und bemühte sich, den schwarzen Lieferwagen durch den Staub ausfindig zu machen, aber es war sinnlos. Alles, was er sah, war dieses braun-weiße Vieh, das dumpf dem Beil des Schlachters entgegenmarschierte.

Kraus fuhr nach Hause, müde, aber keineswegs entmutigt. Er war schon lange genug dabei, um zu wissen, dass ein Fisch, der einem am ersten Tag durch das Netz ging, am nächsten Tag als schönes Filet auf dem Teller landete. Bis dahin verschwanden hoffentlich keine Kinder mehr.

Es war schon dunkel, als er Wilmersdorf erreichte. Er parkte vor dem Mietshaus, in dem er wohnte, und zog die Handbremse an. Dabei fragte er sich, ob sein Hochzeitsgeschenk für Vicki wirklich klug war. Natürlich würde sie es genießen, genauso wie er. Und selbstverständlich hatte er das Recht dazu, sich ein wenig den Wind um die Nase wehen zu lassen. Die Frage war nur: Konnte er es sich leisten? Immerhin hingen Leben von seiner Arbeit ab. Auf der anderen Seite – er betrat die mit einem Teppich ausgelegte Eingangshalle des Hauses und stieg die Treppe hinauf – wollte er auch nicht wie so viele Polizisten vollkommen von seiner Arbeit besessen sein. Und am Ende von seiner Frau geschieden werden.

Zehn Jahre. Mein Gott. Vicki und er hatten wirklich eine zweite Hochzeitsreise verdient.

Oben spielten seine Jungs mit dem neuen Doktor-Koffer, den ihre Großmutter ihnen geschenkt hatte. Sie »operierten« gerade Heinz Winkelmann, der rücklings auf dem Teppich ihres Kinderzimmers lag.

»Vati!«

Kraus umarmte sie. Dabei fiel sein Blick auf das verdammte Modellflugzeug, das immer noch halb fertig auf dem Tisch stand. Was Erich nicht weiter zu bekümmern schien.

»Mach dir keine Sorgen, Vati.« Er hatte Kraus’ Blick bemerkt. »Wir schaffen das schon.«

»Guten Abend, Herr Kriminalsekretär.« Heinz blickte von dem improvisierten Operationstisch hoch.

»Guten Abend, Heinz. Wie geht es zu Hause?«

»Nicht besonders.« Der Junge war noch zu jung, als dass es ihm peinlich gewesen wäre, darüber zu sprechen. »Wegen dieses Börsenkrachs hat mein Vater sein Geschäft verloren. Jetzt haben wir kein Geld mehr.«

Kraus schnürte sich der Hals zusammen. Es war schrecklich ... Wie eine entsetzliche Seuche, die im Hausflur gegenüber wütete und von der er beiläufig erfahren hatte. Der arme Otto. Er hatte so hart für diesen Laden geschuftet. Was würde er jetzt tun?

Vicki wusste es bereits von Irmgard.

»Oh, Willi, ich wünschte, wir könnten ihnen irgendwie helfen.«

»Ich auch.«

Sie waren beide so aufgeregt, dass Kraus nicht dazu kam, ihr von ihrer zweiten Hochzeitsreise zu erzählen, bis sie im Bett lagen. Er umschlang sie von hinten, schmiegte sich an sie und flüsterte es ihr ins Ohr. Dabei beobachtete er, wie ihre Augen zu leuchten begannen.

»So wie vor zehn Jahren? Eine ganze Woche in Venedig? Oh, Willi ...!« Sie drehte sich in seinen Armen herum und brach in Tränen aus. »Du hättest kein schöneres Geschenk aussuchen können!« Einen Augenblick später nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. »Aber, Liebling, lass es uns nicht den Winkelmanns erzählen, einverstanden? Es kommt mir irgendwie unpassend vor. Wir sagen einfach, dass wir meine Großtante Hedda besuchen.«

Dann presste sie ihre Lippen auf seinem Mund, küsste ihn innig, schob sich auf ihn und fuhr mit ihren Fingern durch sein Brusthaar.

Als Kraus beim Frühstück einen Blick in die Zeitung warf, kam ihm Venedig jedoch fast wie ein Wolkenkuckucksheim vor. KINDERFRESSER-PROZESS ANGESETZT! ZIGEUNER ERWARTET DER GALGEN.

Kraus hatte plötzlich keinen Appetit mehr.

Es war Samstag. Ein halber Arbeitstag. Als er gegen acht zum Polizeipräsidium kam, konnte er nur noch daran denken, wie er Freksa aufhalten konnte. Die Aussicht auf das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen bereitete ihm leichte Übelkeit. Als er den Aufzug betrat, verkrampfte sich sein Magen wirklich. Er konnte es nicht glauben. Die einzige weitere Person im Aufzugskorb war dieser große, blonde selbstzufriedene Nazi persönlich. Am liebsten wäre Kraus wieder hinausgetreten und hätte auf den nächsten Aufzug gewartet, doch gleichzeitig wäre er am liebsten vorgestürmt, hätte den Kerl gepackt und zu Boden geschleudert. Aber er knirschte nur mit den Zähnen und blieb einfach stehen, bis sich die Türen schlossen. Freksa warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, zog dann eine Zeitung hervor und schlug sie auf.

Als der Aufzug ruckelnd losfuhr, hatte Kraus das Gefühl, als müsste er gleich explodieren. Dieses Gefühl wurde bei jedem Stockwerk schlimmer. Zwei Jahre lang hatte er die Unverschämtheiten dieses Mannes ertragen. Seine Arroganz, seine Beleidigungen. Seine Heimtücke. Diese sechs Zigeuner konnten längst tot sein, bis der echte Kinderfresser erwischt wurde. Vielleicht gab es ja einen Grund, warum sie beide hier alleine in diesem Aufzug gelandet waren.

»Was diese Zigeuner angeht ...« Seine Kehle schnürte sich zusammen, als er auf die Titelseiten von Freksas Zeitung deutete, auf der ein Foto die sechs Angeklagten in der gestreiften Gefängniskleidung zeigte. »Sie sollten dafür sorgen, dass die Anklage fallen gelassen wird, Freksa. Denn ich habe nicht vor, Sie damit durchkommen zu lassen.«

Kraus war erleichtert, dass er es endlich getan hatte, aber trotzdem spürte er, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Das war ein Sturmangriff, wie sie es im Krieg genannt hatten, wenn sie aus den Schützengräben gesprungen waren, um auf den Feind loszurennen. Von jetzt an würde ihm alles, was Freksa in seinem Waffenarsenal hatte, um die Ohren fliegen. Aber es wurde Zeit, sich dem Feuer zu stellen. Und irgendwie fand er, dass es die Sache wert war, als er diesen Ausdruck auf dem großen, breiten Gesicht sah – so als wäre das Äffchen eines Leierkastenmanns plötzlich aufgesprungen und hätte »Das Lied von der Erde« gesungen.

Freksa zwang sich zu einem falschen Lächeln und sah Kraus mit einer Miene an, die sagen wollte: »Wie kann ein Kerl wie ich etwas Falsches tun?« Wahrscheinlich war es derselbe Blick, den er den Mädchen zuwarf, die er ins Bett bekommen wollte. Ganz der Lebemann, immer noch, mit vierzig.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Kraus. Womit soll ich nicht durchkommen?«

»Ich will es so ausdrücken.« Kraus setzte eine ähnlich unschuldige Miene auf wie Freksa. »Versuchen Sie diese Zigeuner vor Gericht zu zerren, Freksa. Versuchen Sie es einfach. Dann werden Sie es schon herausfinden.«

Vielleicht war das dumm. Vielleicht hätte er zuerst zum Kommissar gehen und ihm alles erzählen sollen. Auch wenn das kaum geholfen hätte. Wie dem auch sei, Kraus war klar, dass ein Krieg mit Freksa unausweichlich war. Und wenigstens war er jetzt offiziell erklärt worden.

Später beim Mittagessen taten alle, als wäre nichts passiert. Aber Kraus konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er seine Henkersmahlzeit verspeiste. Horthstaler hatte ihn gewarnt, wiederholt gewarnt, sich nicht in den Kinderfresser-Fall einzumischen. Trotzdem hatte er das getan, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Die einzige Frage war, mit welcher Schärfe der Kommissar ihn zurechtweisen würde.

Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, wischte sich Horthstaler seine dicken Lippen ab und ließ die Serviette fallen. »Bedauerlicherweise müssen wir unser wöchentliches Treffen mit einer höchst unerfreulichen Angelegenheit beginnen. Anscheinend ist ein Mitglied dieser Abteilung zu dem Schluss gekommen, es wäre statthaft, sich nicht nur in den Fall seines Kollegen einzumischen, sondern diesen Kollegen auch zu verleumden und zu bedrohen.«

Obwohl Kraus wusste, was jetzt kam, stieg ihm die Galle hoch. Vier Jahre in der Armee. Sieben bei der Berliner Polizei. Und noch nie war er so zusammengestaucht worden.

»Das ist ganz offensichtlich«, Horthstaler richtete seinen Blick auf ihn und verzog angewidert die Miene, als wäre Kraus ein Insekt, »eine sehr ernste Verletzung der Vorschriften.«

Noch nie hatte Kraus einem Vorgesetzten widersprochen. Aber ...

»Sie kennen die Tatsachen nicht, Herr Kommissar«, sagte er so würdevoll, wie er es vermochte. »Freksas Beweise gegen die Zigeuner sind ...«

»Verleumdung!« Horthstalers Stellvertreter Müller sprang hoch und ballte die Hände zu Fäusten.

Die anderen Kripobeamten erhoben sich ebenfalls.

»Setzt euch, um Himmels willen! Ich regle das!«, blaffte Horthstaler sie wütend an und drehte sich dann zu Kraus herum. »Kraus, Ihr Verhalten ist unerhört! Ich habe Ihnen unmissverständlich befohlen, Ihre große Nase aus dieser Sache herauszuhalten. Aber Sie richten sich buchstabengetreu nach dem Credo Ihrer Rasse, die wegen ihrer aufdringlichen Unverschämtheit so berüchtigt ist.«

Kraus musste alle Kraft zusammenreißen, um sich nicht auf diese Ebene der Diskussion herunterziehen zu lassen. »Kommissar, bitte hören Sie mir zu. Es verschwinden immer noch Kinder. Jemand operiert innerhalb des Vieh ...!«

»Halt!« Horthstaler ballte seine fleischigen Fäuste, als wäre er jetzt ebenfalls bereit, Kraus zu schlagen.

Kraus wusste, dass er den Kommissar in einer halben Sekunde zu Boden werfen konnte, wenn es darauf ankam; wahrscheinlich konnte er es mit allen gleichzeitig aufnehmen. Aber er kämpfte mit aller Macht darum, ruhig zu bleiben.

»Ab sofort haben Sie in dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen, Kraus, weil Sie offiziell aus disziplinarischen Gründen suspendiert sind.«

Der Satz schlug wie eine Kugel in Kraus’ Hirn ein.

Was?

Er umklammerte haltsuchend die Tischplatte.

Er hatte gewusst, dass es schlimm werden würde, aber damit hatte er nicht gerechnet. Nur mit einer unehrenhaften Entlassung konnte man einen deutschen Beamten schlimmer bestrafen; eine Suspendierung war wie eine Fußkette mit einer Kugel daran, die sich, anders als bei einem Sträfling, niemals wieder entfernen ließ. Es gab keine weiteren Beförderungen. Keine Gehaltserhöhung, die Pension war eingefroren. Kraus wurde übel, und er sah undeutlich auf der anderen Seite des Tisches Freksas rachsüchtige Miene. Du kannst von Glück reden, dass du noch so glimpflich davongekommen bist, schien der Blick der blauen Augen ihm zu sagen. Aber pass auf, Kraus. Du stehst jetzt auf der Liste.

»Weil Ihre Personalakte bis jetzt makellos ist«, Horthstalers dicke Lippen öffneten und schlossen sich, »suspendiere ich Sie nur für zwei Wochen. Aber meine Milde hängt ganz von Ihrem Verhalten ab. Gelingt es Ihnen, sich zu beherrschen, können Sie am dreizehnten wieder zur Arbeit erscheinen. Sollte ich jedoch hören, dass diese ungeheuerlichen Verleumdungen gegen den Kollegen in irgendeiner Weise fortgesetzt wurden ...«