Eins

Sir John Cranston saß auf der Fensterbank eines Schlafgemachs in einem Haus an der Milk Street am Rande von Westchepe. Er starrte aus dem Glasfenster, das einen guten Blick auf die Kirche von St. Mary Magdalen bot, und beobachtete einen wohlhabend aussehenden Reliquienhändler, der seinen Stand aufbaute und die Kunden zusammenrief. Cranston lächelte ohne Heiterkeit, als er den Burschen krähen hörte; leise klangen die Worte von der Straße herauf.

»Schaut her, ich habe hier Jesu Milchzahn, den er mit zwölf Jahren verlor! Einen Finger vom Hl. Sylvester! Ein Stück von dem Sattel, auf dem Christus nach Jerusalem einritt. Und in dieser schön beschlagenen Kiste den Arm des Hl. Polycarp - das einzige, was von ihm übrigblieb, nachdem die Löwen ihn in Rom in der Arena in Stücke gerissen hatten. Ihr guten Leute, diese vom Heiligen Vater gesegneten Reliquien können Wunder wirken und tun es auch!«

Cranston sah, wie sich leichtgläubige Zuschauer um ihn drängten. Ein Gauner, dachte er. Er schaute hinüber zu dem Leichnam, der auf dem Vierpfostenbett aufgebahrt lag, sorgsam in ein Leichentuch gewickelt; nur das Gesicht schaute hervor, das mit offenem Mund und halb geschlossenen Augen auf dem Kissen ruhte.

»Es tut mir leid«, murmelte Cranston in das stille Zimmer. Er stand auf, trat an das Bett und betrachtete das graue, eingefallene Gesicht seines ehemaligen Kameraden.

»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Ich, Sir John Cranston, des Königs Coroner in London, ein Mann, der mit Fürsten speist, der Gemahl der Lady Maude aus Tweng in Somerset, Vater der beiden Kerlchen, meiner geliebten Söhne Francis und Stephen, ich bin traurig, weil ich dir nicht helfen konnte. Dir, meinem Waffenbruder, meiner rechten Hand in unseren Schlachten gegen die Franzosen. Jetzt liegst du da, ermordet, und ich kann es nicht einmal beweisen.«

Cranston schaute sich in dem Schlafgemach um und betrachtete die kostbare Einrichtung: silberne Becher, ein fein geschnitztes Lavarium, Schränke und taftgepolsterte Stühle, seidene Kissen und Baldachine und einen Kandelaber aus Goldfiligran.

»Was nützt es einem Mann«, murmelte Cranston, »wenn er die ganze Welt gewänne - nur um dann von seiner Frau umgebracht zu werden?«

Er fischte zwei Pennies aus seiner Börse und legte sie dem Toten auf die Augenlider; dann bedeckte er das Gesicht mit dem Leichentuch. Er seufzte und ging zum Fußende des Bettes. Als es plötzlich hinter ihm raschelte, schrak er zusammen.

»Verfluchte Ratten!« knurrte er, als er den geschmeidigen, langschwänzigen, fetten Nager sah, der unter einen Schrank glitt und an der Holztäfelung scharrte. Ein zweites Tier kam unter dem Lavarium hervor und wich mühelos dem Kerzenleuchter aus, den der wütende Cranston nach ihm schleuderte.

»Verdammte Ratten!« wiederholte er. »Die Stadt ist verseucht von ihnen. Die Hitze lockt sie heraus.«

Er betrachtete den einsamen, verhüllten Leichnam seines Freundes. Als er gekommen war, hatte Sir Oliver Ingham schon seit Stunden tot dagelegen, und zwei Ratten nagten an seiner Hand. Cranston hatte Inghams hübsches junges Weib lautstark beschimpft, aber sie hatte nur verschlagen gelächelt und gesagt, sie habe ihr Bestes getan, den Leichnam ihres Gatten zu schützen, seit er vor einer Weile von einem Diener gefunden worden sei.

»Er hatte ein schwaches Herz, Sir John«, hatte sie gelispelt und dabei eine zarte, weiße Hand auf den Arm ihres »guten Vetters« Albric Totnes gelegt.

»Ein feiner Vetter!« knurrte Cranston. »Ich wette, die zwei haben zwischen den Laken getanzt, während Oliver im Sterben lag. Verdammte Mörderbande!«

Er wühlte in seiner Börse und förderte einen kurzen Brief zutage, den Oliver Ingham ihm am Tag zuvor geschickt hatte. Er setzte sich und las ihn noch einmal, und seine großen, vorquellenden Augen füllten sich mit Tränen.

Ich sterbe, alter Freund. Ich habe die größte Torheit begangen, die ein alter Mann begehen kann: Ich habe eine Frau geheiratet, die vierzig Jahre jünger ist ab ich. Eine Ehe zwischen Mai und Dezember, fürwahr, aber ich glaubte, sie liebt mich. Ich mußte feststellen, daß sie es nicht tut. Aber ihr Lächeln und ihre Berührung haben mir genügt. Jetzt merke ich, daß sie mich betrogen hat und womöglich meinen Tod plant. Wenn ich plötzlich sterbe, alter Freund, und wenn ich allein sterbe, dann wurde ich ermordet. Meine Seele wird zu Gott um Rache schreien und zu Dir um Gerechtigkeit. Vergiß mich nicht.

Oliver

Cranston faltete das Pergament säuberlich zusammen und steckte es ein. Noch hatte er es niemandem gezeigt, aber er glaubte, daß sein Freund recht hatte. Etwas in seinem Blut flüsterte »Mord!«, aber wie sollte er das beweisen? Sir Oliver war am Vormittag von einem Diener tot in seinem Bett gefunden worden, und man hatte nach Cranston geschickt, weil er sein Freund war und noch dazu der Coroner. Bei seiner Ankunft hatte er Inghams junge Frau Rosamund zusammen mit ihrem »Vetter« auf dem Söller beim Essen vorgefunden, und der Arzt der Familie, ein kahlköpfiger, frettchengesichtiger Mann in stinkenden Gewändern, hatte schlicht erklärt, Sir Olivers schwaches Herz habe versagt und seine Seele sei zu Gott gegangen.

Cranston stand auf und ging wieder zum Bett; dort lag noch immer der Krug, den Oliver im Todeskampf vom Tisch gestoßen hatte. Auf sein Drängen hatte der Arzt zuerst am Krug, dann an Olivers liebstem Becher geschnuppert und feierlich verkündet:

»Nein, Sir John. Nichts als Rotwein und vielleicht ein bißchen von dem Fingerhut, den ich Sir Oliver zur Kräftigung des Herzens verschrieben habe.«

»Könnte jemand mehr davon hineingetan haben?« hatte Cranston gefragt.

»Natürlich nicht!« war die schroffe Antwort gewesen. »Was wollt Ihr damit andeuten, Sir John? Eine größere Dosis Fingerhut, und Becher und Krug würden danach stinken.«       

Sir John hatte sich gefügt und nach Theobald de Troyes geschickt, seinem eigenen Arzt - einem Mann, der sich auf seine Kunst verstand und so viele bei Hofe zu seinen Patienten zählte. Theobald hatte Leichnam, Becher und Krug auf das gründlichste untersucht.

»Der Arzt hat recht«, hatte er schließlich gesagt. »Wißt Ihr, Sir John, wenn Sir Oliver zuviel Fingerhut abbekommen hätte, würde sein Leichnam Spuren davon aufweisen. Aber ich kann nur die Wirkung eines plötzlichen Anfalls entdecken, und der Becher enthält nichts als Spuren von Wein und ein wenig Fingerhut, aber nicht mehr, als ein guter Arzt verschreiben würde. Der Krug riecht auch nicht nach Fingerhut.«

»Irgendwelche Spuren von Gewalt?« hatte Cranston gefragt.

»Nicht die geringsten, Sir John.« Theobald hatte den Blick gesenkt. »Nur die Rattenbisse an den Fingern der rechten Hand, Sir John. Als Sir Oliver gestern abend zu Bett ging, fühlte er sich nicht wohl. Seine Diener hörten, wie er über Schwäche, Schwindel und Schmerzen in der Brust klagte. Er schloß seine Kammertür ab und ließ den Schlüssel im Schloß stecken. Die Fenster waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Niemand konnte hinein, um ihm etwas anzutun.«

Sir John hatte gegrunzt und ihn verabschiedet. Nun saß er seit zwei Stunden in diesem Gemach und fragte sich, wie der Mord begangen sein mochte.

»Ich wünschte, Athelstan wäre hier«, seufzte er. »Vielleicht würde er wissen, was hier nicht stimmt. Der verdammte Mönch! Und ich wünschte, er würde den verflixten Kater mitbringen!«

Cranston dachte an Athelstans wild aussehenden Kater Bonaventura, den sein Freund und Sekretär für den besten Rattenfänger von ganz Southwark hielt. Cranston seufzte, bekreuzigte sich, senkte den Blick und sprach ein Gebet für den Toten.

»Gewähre meinem Freund Oliver die ewige Ruhe«, murmelte er, und seine Gedanken wanderten um Jahre zurück… Groß und stark stand Oliver an seiner Seite, als die französischen Ritter die Reihen der Engländer bei Poitiers durchbrachen. Das Schlachtgetöse, das Wiehern der Streitrösser, das Klirren der Schwerter, das leise Schwirren der Pfeile, das Stechen und Hacken, als sie und ein paar andere die ganze Wucht eines letzten Verzweiflungsangriffs der Franzosen auffingen. Der Boden unter ihren Füßen war glitschig vom Blute. Cranston stand breitbeinig da und ließ sein Schwert kreisen wie eine mächtige Sense, als die französischen Ritter zum letzten Schlag herandrängten.

Ein ungeheurer Riese stürmte auf ihn zu; sein Helm hatte die Form eines Teufelskopfes mit breit geschwungenen Hörnern, und die gelbe Feder wogte im Abendwind. Cranston sah stahlumhüllte Arme mit einer gewaltigen Streitaxt ausholen; er sprang beiseite, glitt aus und fiel in den Schlamm. Er erwartete den tödlichen Hieb, aber da stand Oliver über ihm, fing die Wucht der Axt mit seinem Schild auf, griff dann den Feind an und stieß ihm seinen kleinen Hirschfanger zwischen Küraß und Helm.

»Ich schulde dir mein Leben«, hatte Cranston später bekannt.

»Eines Tages wirst du die Schuld zurückzahlen können!« Oliver hatte gelacht, als sie auf dem Schlachtfeld saßen und einander mit zahllosen Bechern von dem Rotwein zuprosteten, den sie aus dem französischen Lager geraubt hatten. »Eines Tages wirst du diese Schuld zurückzahlen.«

Cranston öffnete die tränennassen Augen. Er hob seine rechte Hand und schaute den Toten an. »Verflucht, das werde ich!« knurrte er. Und noch einmal betrachtete er die erbarmungswürdige Gestalt in dem Leichentuch.

»In unseren goldenen Tagen«, flüsterte er, »da waren wir Greyhounds auf der Jagd! Junge Falken, die auf ihre Beute niederstießen! Ah, was für Zeiten!«

Cranston klopfte sich auf den umfangreichen Wanst, zog die Bettvorhänge zu und stapfte aus der Kammer; im Gehen warf er noch einmal einen Blick auf das aufgebrochene Schloß.

Wie ein Koloß stampfte er die Treppe hinunter und marschierte in den Söller, wo Lady Rosamund und ihr »Vetter« Albric auf der Fensterbank saßen und das Maschenspiel spielten. In ihrem schwarzen Damastkleid mit dem sorgfältig geordneten Schleier von gleicher Farbe sah Rosamund jetzt noch schöner aus; ihr schmales Gesicht war zu einer Art Trauermiene verzogen. Cranston funkelte sie nur an, und noch verächtlicher betrachtete er ihren jungen Liebhaber mit seinem glatten Gesicht, den schlaffen Lippen und dem kraftlosen Blick.

»Ihr seid fertig, Sir John?« Rosamund erhob sich, als der glatzköpfige, rotgesichtige Riese auf sie zukam. Sie erwartete, daß er zumindest ihre Hand küssen würde, aber Cranston packte sie und Albric bei den Handgelenken, zog beide von der Bank und mit harter Hand dicht zu sich heran. 

»Ihr, Madam, seid ein mordendes Miststück! Nein, Ihr braucht nicht die Augen aufzureißen und um Hilfe zu schreien! Und Ihr, Sir…« Albric wich seinem Blick aus. »Sieh mich an, Kerl!« Cranston drückte noch fester zu. »Sieh mich an, du mieser Hurensohn!«

Albric hob den Blick.

»Du hast mitgemacht. Wenn du den Mut dazu hättest, würde ich dich zu einem Duell herausfordern und dir den Kopf abschlagen. Vergiß nicht, das Angebot wird bestehenbleiben.«

»Sir John, das ist doch …«

»Klappe!« grollte Cranston. »Da oben liegt der treueste Kamerad, den ein Mann sich nur wünschen kann. Ein guter Soldat, ein schlauer Kaufmann und der allerbeste Freund. Oliver mag ein schwaches Herz gehabt haben, aber er hatte den Mut eines Löwen und den Großmut eines Heiligen. Er hat dich angebetet, du bleiche Stute, und du hast ihm das Herz gebrochen. Du hast ihn betrogen. Ich weiß, daß du ihn ermordet hast. Gott allein weiß, wie du es gemacht hast, aber ich werde es herausfinden.« Cranston stieß die beiden zurück auf ihre Fensterbank. »Glaubt mir, ich werde euch beide tanzen sehen: in Smithfield, am Ende eines Stricks.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.

»Cranston!« rief Rosamund.

»Ja, du Bestie«, antwortete er, ohne stehenzubleiben.

»Ich bin unschuldig am Tode meines Gemahls.«

Der Coroner machte ein unhöfliches Geräusch mit den Lippen.

»In zehn Tagen wird das Testament meines Gatten verlesen werden. All sein Besitz und Reichtum werden mir gehören. Ich werde diesen Reichtum dazu nutzen, Euch vor Gericht zu bringen, wegen Verleumdung und übler Nachrede.«

»In zehn Tagen«, versetzte Cranston, »sehe ich euch beide in Newgate. Den Toten dürft ihr hinausbringen, aber sonst nichts anrühren. Ich habe eine Liste von allem, was da ist!«

Cranston ging in den Korridor hinaus und bemühte sich, seinen Zorn im Zaum zu halten, als er das höhnische Gelächter hinter sich hörte. Inghams alter Gefolgsmann Robert stand an der Haustür; er war bleich wie die Wand.

»Sir John«, flüsterte er, »wie könnt Ihr beweisen, was Ihr da sagt?«

Eine Hand am Türriegel, blieb Cranston stehen und schaute dem Diener in das faltige, müde Gesicht.

»Ich kann und werde es tun«, brummte er. »Aber erzähle mir noch einmal, was gestern passiert ist.«

»Mein Herr war seit Tagen krank und erschöpft, er klagte über Schwindelgefühle im Kopf und Schmerzen in der Brust. Gestern abend stand er vom Essen auf und nahm seinen Weinbecher mit. Ich sah, wie er in die Speisekammer ging und eine kleine Dosis Fingerhut in den Krug gab, die er später mit Wein mischen wollte, wie sein Arzt es ihm verordnet hatte. Dann ging er zu Bett. Er verschloß seine Kammertür, und weil ich mir Sorgen machte, stand ich davor Wache.« Die Stimme des Mannes zitterte. »Ich dachte, ich lasse ihn ausschlafen, aber als die Glocken von St. Mary Magdalen zum Vormittagsgebet läuteten, versuchte ich doch, ihn zu wecken. Ich rief die Diener, wir brachen die Tür auf. Den Rest kennt Ihr.«

»Konnte niemand ihn vor den Ratten bewahren?« fragte Cranston erbost.

»Sir John, das Haus ist voll von ihnen. Lady Rosamund haßt Katzen und andere Tiere.«

Sir John klopfte ihm auf die Schulter. »Deinem Herrn wird Gerechtigkeit werden, dafür sorge ich. Jetzt bete für seine Seele und kümmere dich um seinen Leichnam. Einer meiner Amtsdiener wird kommen und das Zimmer versiegeln.«

Sir John trat auf die Milk Street hinaus. Er ging in die Kirche von St. Mary Magdalen und zündete fünf Kerzen vor der lächelnden Jungfrau mit dem Kinde an.

»Eine für Maude, zwei für die Kerlchen«, flüsterte er und dachte an die prächtigen, stämmigen Söhne, die jetzt schon sechs Monate alt waren. »Eine für Athelstan«, fuhr er fort, »und eine für Sir Oliver, Gott schenke ihm die ewige Ruhe.«

Sir John kniete nieder, schloß die Augen und sagte drei Avemaria auf, bevor er merkte, wie durstig er war.

Schwerfällig wanderte er aus der Kirche, die Milk Street hinunter und in die verlassene Cheapside. Die Standbesitzer hatten für heute geschlossen, ihre Ware in die Vorderräume ihrer Läden geschafft, die Stände abgebaut und die breite Straße den Knochen- und Lumpensammlern überlassen. Eine Hure hielt träge nach Kundschaft Ausschau, Köter balgten sich, und fette Straßenkatzen konnten ihr Glück kaum fassen, als Myriaden von Ratten die Berge von Müll und menschlichem Abfall plünderten. Ein paar Kesselflicker und Hausierer versuchten immer noch, Geschäfte zu machen; sie brüllten Sir John gutmütige Schmähungen zu, und der zahlte es ihnen mit gleicher Münze heim, während er schnurstracks seiner Lieblingsschenke zustrebte, dem Heiligen Lamm Gottes.

In der stickigen, anheimelnden Wärme des Schankraums hellte Sir Johns Miene sich auf. Ein Büttel saß auf Cranstons Lieblingsstuhl mit der hohen Lehne am offenen Fenster mit Blick auf einen freundlichen Garten. Sir John hustete nur, und der Bursche huschte davon wie ein erschrockenes Kaninchen. Sir John setzte sich, klopfte auf den Tisch und betrachtete beifällig das dunkel polierte Holzwerk und die weiß verputzten Wände seiner allerheiligsten Trinkstätte. Er schmatzte und stieß das rautenförmige Gitterfenster ein Stück weiter auf, um den Duft der Kräuterbeete zu genießen. Manche Leute mieden das Heilige Lamm; sie behaupteten, es sei über einem alten Leichenhaus erbaut, und angeblich spukten hier Geister und Gespenster. Aber für Cranston war es sein zweites Zuhause, und die Wirtsfrau verehrte ihn beinahe wie einen Heiligen.   

Vor Jahren war sie einmal von einem Betrüger übers Ohr gehauen worden, der behauptete, er könne Rotwein und Weißwein aus demselben Faß zapfen. Dummerweise hatte sie einer Vorführung zugestimmt. Der Mann hatte ein Loch in die Wand des Fasses gebohrt und sie aufgefordert, es mit dem Finger zuzuhalten, während er das zweite Loch bohrte, aus dem der Weißwein kommen sollte. Und dann hatte die unglückselige Frau dagestanden und beide Löcher im Faß zuhalten müssen, während der Gauner sich aus ihrer Geldbörse bediente. Sie war vor Schreck wie gelähmt gewesen, denn wenn sie die Finger herausgezogen hätte, wäre das ganze Faß ausgelaufen und hätte den Schankraum knöcheltief unter Wein gesetzt, und außerdem wäre sie zum Gespött der Leute geworden.    

Zum Glück war Sir John gekommen. Er hatte dem Schurken eine Kopfnuß verpaßt, ihr geholfen, das Faß zu verstopfen, und als der Kerl wieder zu sich gekommen war, hatte Cranston ihn mit heruntergelassener Hose draußen vor die Schenke gestellt und ihm ein Schild um den Hals gehängt, das ihn als Lügner und Betrüger bezeichnete.

Eben diese Wirtin kam jetzt geschäftig auf ihn zu mit einem großen Becher Rotwein in der einen und einer Schüssel Zwiebelsuppe in der anderen Hand. Geistesabwesend lächelnd dankte Sir John ihr. Er nahm einen Schluck Wein und überlegte, wie er eine andere Betrügerin, die mörderische Rosamund, ihrer gerechten Strafe zuführen könnte. Olivers einsamer Leichnam dort oben in der trostlosen Kammer ging ihm nicht aus dem Kopf, dazu die kichernde Ehefrau und der speichelleckerische »Vetter« im Söller darunter.

Cranston hörte Stimmen und hob den Kopf, als der Reliquienhändler, den er in der Milk Street gesehen hatte, hereingeschlichen kam.

»Ein sündiger Gauner«, brummte er bei sich.

Der Reliquienhändler war alt und hinkte ein wenig, aber er hatte ein durchtriebenes, kaltes, schmales Gesicht, einen bohrenden Blick und einen Mund, so hart und gespannt wie eine Schraubzwinge. Er war gut gekleidet, trug eine teure Samttunika und weiche rote Lederstiefel, und in der Börse an seinem bestickten Gürtel klimperte schwer das Geld. Grinsend winkte er dem Coroner zu, aber der schaute ihn nur wütend an und senkte den Blick auf seinen Becher. Eigentlich sollte er heimgehen und sich auf den Abend vorbereiten, aber das Haus war leer, denn Lady Maude war mit den beiden Kerlchen zu Verwandten im West Country gereist.

»Oh, komm doch mit, John«, hatte sie gebettelt. »Die Ruhe wird dir guttun. Und du weißt, wie sehr Bruder Ralph sich freuen wird, dich zu sehen.«

Cranston hatte betrübt den Kopf geschüttelt und seine zierliche Frau in seine Bärenarme genommen.

»Ich kann nicht, Lady«, hatte er mißmutig erwidert. »Der Rat und der Regent bestehen ausdrücklich darauf, daß ich in London bleibe.«

Lady Maude hatte sich von ihm gelöst und ihn streng angeschaut.

»Ist das auch wahr, Sir John?«

»Bei den Zähnen Gottes!«

»Nicht fluchen«, hatte sie gemahnt. »Sag's mir nur.«

Sir John hatte bei seiner Ehre geschworen, aber es hatte doch eine Lüge daringesteckt. Er konnte Bruder Ralph nicht ausstehen; dieser Mann war so ganz anders als seine Schwester. Ehrlich gesagt, Ralph war der langweiligste Mann, den Cranston je kennengelernt hatte. Seine einzige Leidenschaft war der Ackerbau, und Sir John hatte einmal trocken zu Athelstan gesagt: »Wenn du einmal zwei Stunden lang Ralph bei seinem Vortrag über die Zwiebelzucht zugehört hast, dann reicht das für die Ewigkeit.«

Trotzdem hatte Cranston ein schlechtes Gewissen. Ralph hatte ein gutes Herz, und Sir John vermißte seine Frau und die beiden Kerlchen, wie sie dick und rund auf stämmigen Beinchen auf ihren Vater zugestapft kamen, damit er ihnen die kleinen Kahlköpfe streichelte. Er wunderte sich, weshalb Athelstan immer lachte, aber wenn er den Ordensbruder fragte, machte der immer gleich ein ernstes Gesicht, biß sich auf die Lippe und erklärte kopfschüttelnd: »Es ist nichts, Sir John, gar nichts. Sie sind Euch nur so ähnlich.«

»Sir John! Sir John! Wie geht es Euch?«

Cranston erschrak und blickte auf. Athelstan stand vor ihm; das olivfarbene Gesicht war verschwitzt, das schwarzweiße Habit mit dem schwarzen Strick um den Leib staubig.

»Bei den Zitzen des Satans!« schnaufte Cranston. »Was machst du denn hier, Mönch?«

»Ordensbruder, Sir John.« Grinsend zog Athelstan einen Schemel heran und setzte sich. »Ich bin über die London Bridge gegangen, um meinen Pater Prior in Blackfriars zu besuchen. Er läßt mich wichtige Passagen aus Roger Bacons Werk über die Astronomie abschreiben. Ich war bei Euch daheim, und die Magd sagte, Ihr wäret nicht da. Ach, übrigens frißt Leif, der Bettler, gerade Euer Abendessen.«

Cranston starrte den Bruder an. Du lügst, dachte er. Ich wette, du bist hergekommen, weil du mich suchst. Ich weiß, daß Lady Maude darum gebeten hat. Dennoch war Athelstans Fürsorglichkeit herzerwärmend.

»Du willst mich bestimmt zu einem Becher einladen.«

Geschäftig kam die Wirtin heran.

»Ich habe schon bestellt«, sagte Athelstan. »Rotwein für Mylord Coroner, und einen Humpen vom kühlsten Ale für mich.« Athelstan nippte an dem Schaum und lächelte. »Ihr habt recht, Sir John. Im Himmel muß es Schenken geben.«

»Was machen die Halunken in deiner Pfarrei?« wollte Cranston wissen.

»Sie sind Sünder wie wir alle, Sir John«, antwortete Athelstan. »Bonaventura fängt die Ratten dutzendweise. Benedicta bereitet ein Erntefest vor. Ich habe angeboten, Brot zu backen, bevor mir einfiel, was für ein hoffnungsloser Koch ich bin. Watkin, der Mistsammler, liegt sich immer noch in den Haaren mit Pike, dem Grabenbauer.« Athelstan grinste. »Watkins Frau hat Pike im Kirchenvorraum umgerannt. Sie behauptet, er war betrunken und ist gestolpert. Was beide nicht wissen, ist, daß eine von Watkins Töchtern Pikes ältesten Sohn heiraten will.«

»Wissen die Familien es denn?«

»Noch nicht. Aber wenn sie es erfahren, werdet Ihr das Geschrei bis in die Cheapside hören. Cecily, die Kurtisane, hat einen neuen Beau und deshalb auch täglich ein neues Kleid. Und Huddle bemalt jetzt im neuen Altarraum die Wände.« Athelstan stellte seinen Humpen hin und machte ein ernstes Gesicht. »Da sind noch zwei Angelegenheiten«, fuhr er leise fort und verfiel dann in ein ärgerliches Schweigen.

Oh nein, dachte Cranston, du willst doch wohl nicht das Rattenloch von Pfarrgemeinde verlassen, das du so sehr liebst? Oder hat man dich etwa von deinem Amt als mein Schreiber entbunden?

Cranston musterte den verträumt blickenden Ordensbruder. Wegen früherer Torheiten war Athelstan zum Gemeindepriester von St. Erconwald und zu Cranstons Secretarius ernannt worden. Als Novize hatte er Blackfriars verlassen und war mit seinem heldengläubigen kleinen Bruder nach Frankreich in den Krieg gezogen. Der Junge war gefallen, und Athelstan war heimgekehrt zu dem Schmerz seiner Eltern und dem wütenden Tadel seiner Ordensoberen. 

»Nun, was gibt's denn?« fragte Cranston gereizt.

»Glaubt Ihr an den Satan, Sir John?«

»Jawohl, und da drüben sitzt der Scheißer.« Cranston deutete auf den Reliquienhändler, der mit einem anderen Gauner ins Gespräch vertieft in einer Ecke der Schenke saß. Athelstan lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, Sir John, ich meine den echten Satan.« Die Worte sprudelten aus ihm hervor. »Glaubt Ihr, daß er jemanden in Besitz nehmen kann?«

Sir John richtete sich auf. »Ja, Pater, das glaube ich. Ich glaube, daß es eine Geisterwelt gibt, in der Wesen gegen Christus und Seine Heiligen wüten. Ich glaube allerdings auch, daß der normale Dämon auf seinem Fels in der Hölle hockt und weint, wenn er sieht, zu welchen Schlechtigkeiten der Mensch sich versteigt. Warum fragst du?«

Athelstan spielte mit seinem Humpen. »Vielleicht ist der Satan nach Southwark gekommen. Heute morgen nach der Messe kam eine Frau zu mir und behauptete, ihre Töchter sei besessen. Jede Nacht spreche der Teufel aus ihr und beschuldige ihren Vater, seine erste Frau, ihre Mutter, ermordet zu haben.« Athelstan betrachtete blinzelnd seinen Humpen. »Die Frau hat mich um einen Exorzismus gebeten.«

Sir John bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. »Aber Athelstan, mit solchen Dingen hast du doch jeden Tag zu tun.«

»Oh, das weiß ich«, sagte der Bruder und grinste. »Pemel, die Flamin, behauptet, daß Dämonen, so groß wie ihr Daumen, in den dunklen Ecken ihres Hauses lauern und kichern und über sie reden. Vor zwei Jahren glaubten Watkin, der Mistsammler, und seine Frau plötzlich, das Ende der Welt sei nahe; sie setzten sich mit der ganzen Familie auf das Dach ihres Hauses, und jeder hielt ein Kreuz vor sich, um den Dämon abzuwehren. Aber es passierte weiter nichts, nur das Dach stürzte ein. Watkins Knöchel war verstaucht und sein Stolz verletzt.« Athelstan wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nein, Sir John, diesmal ist es etwas anderes. Ich sehe dieser Frau an, daß in der Familie etwas Böses im Gange ist.«

»Und wirst du den Exorzismus vornehmen?«

»Das kanonische Recht schreibt vor, daß jede Diözese einen offiziell ernannten Exorzisten hat, aber er kann nur im Namen des Bischofs tätig werden und ist für sehr ernste, öffentliche Angelegenheiten zuständig. Es kann Monate dauern, bis seine Dienste zur Verfügung stehen.« Athelstan nahm einen Schluck aus seinem Humpen. »Ich habe Pater Prior um Rat gebeten, und er hat gesagt, daß es meine Pflicht ist, Trost zu geben, so gut ich kann.« Der Bruder zog ein Gesicht. »Sir John, ich glaube, ich habe Angst. Als die Frau mit mir sprach, spürte ich, wie das Böse mir das Mark gefrieren ließ.«

Cranston klopfte ihm mit seiner Bärenpranke auf die Schulter. »Bestimmt wird alles gut«, meinte er. »Und vergiß nicht, Bruder: Kaum etwas kann dem alten John Cranston Angst machen. Zum Teufel!« donnerte er plötzlich, packte Athelstans halbvollen Humpen und schleuderte ihn durch die Schankstube nach einer langschwänzigen, fetten Ratte, die unter einem Faß hervorgeschlüpft war. Der Humpen traf nicht, und die Ratte huschte davon.

»Sir John, das hatte mir gut geschmeckt.«

Cranston murmelte eine Entschuldigung und rief nach einem neuen Humpen.

»Entschuldige, Bruder, aber die Stadt ist verseucht von dem verdammten Ungeziefer. Ich würde mich gern mal mit einem deiner Pfarrkinder unterhalten.«   

»Mit Ranulf, dem Rattenfänger?«

Athelstan lächelte und dankte der Wirtsfrau, als sie ihm einen neuen Humpen brachte; brummelnd entschuldigte sich Sir John auch bei ihr.

»Da habt Ihr eine Auswahl von Rattenfängern«, sagte Athelstan. »Ranulf gründet gerade eine Gilde der Rattenfänger. Sie haben gefragt, ob St. Erconwald nicht ihre Zunftkirche sein kann. In ein paar Tagen wollen sich alle dort treffen, um die Messe und die Zunftbruderschaft zu feiern. Ihr habt recht«, fügte er hinzu, »das warme Wetter hat Eure pelzigen Freunde in wimmelnden, alles verschlingenden Horden hervorkommen lassen.« Er trank und setzte seinen Humpen ab. »Aber warum so aufbrausend, Sir John? Daß Ihr mit einem guten Getränk nach einer Ratte werft, sieht man selten.«    

Cranston trank seinen Weinbecher leer und brüllte nach einem zweiten; dann beugte er sich vor und erzählte Athelstan von dem geheimnisvollen Tod seines Kameraden Oliver Ingham. Aufmerksam betrachtete Athelstan den Coroner. Er sah, daß der sonst so freundliche Mann tief verletzt und betrübt über den Tod seines Freundes war. Anfangs sprach Sir John stockend, wurde aber immer wortgewaltiger, als er berichtete, was er im Hause Inghams erlebt hatte. Als er fertig war, schnaubte er geräuschvoll durch die Nase und trommelte mit stämmigen Fingern auf seinem dicken Bauch.

»Ihr seid sicher, daß es Mord war, Sir John?«

»So sicher, wie ich auf meinem Arsch sitze.«

Athelstan nagte an der Unterlippe und schaute sich in der mittlerweile vollen Schenke um. »Wenn ich Euch helfen kann … ?« erbot er sich.

»Du brauchst nur nachzudenken«, sagte Sir John. »Ich kenne dich, Athelstan. Du spazierst davon, setzt dich irgendwo hin und glotzt die blöden Sterne an, und schon kommt dir irgendeine Idee. Wenn das passiert, komm bitte und sag es mir.« Cranston schlürfte geräuschvoll aus seinem Becher und schmatzte dann. »Du sagtest, es ist noch eine zweite Sache, Bruder?«

Athelstan zog seinen Schemel näher heran. »Sir John, Ihr habt doch sicher von der wachsenden Unruhe auf dem Lande rings um London gehört? Daß die Bauernführer sich zur ›Großen Gemeinschaft zusammenschließen und zum Marsch auf London verschwören? Sie sagen, sie wollen die Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennen, alle Bischöfe und Lords umbringen und Gaunts Kopf auf eine Stange stecken.«

Cranston beugte sich noch weiter vor, denn was sie da redeten, war Hochverrat.

»Ich weiß, Bruder«, raunte er. »Die Steuerlast ist groß und die Ernte noch nicht eingefahren, die Gefängnisse sind voll, die Galgen ebenfalls. Jede Woche kommt neue Kunde von Unruhen in den Dörfern und Angriffen auf königliche Beamte. In Hertford ist ein Steuereintreiber totgeschlagen und an den Galgen gehängt worden, und daneben eine tote Katze, die sie kahlgeschoren und wie einen Bischof angezogen haben.« Er schnaufte. »Aber was kümmert dich das, Bruder?«

»Oh, um Gottes willen, Sir John! Geht durch die Gassen von Southwark, und Ihr seht eine ganze Armee, die nur auf das Zeichen wartet: die Unterdrückten, die Gauner, die Halsabschneider und Diebe. Die leiseste Provokation, und sie strömen über die London Bridge; dann wird die Stadt wochenlang in Flammen stehen.« Athelstan senkte die Stimme noch mehr und spielte mit einem Holzsplitter an der Tischplatte. »Einige meiner Gemeindekinder sind beteiligt. Pike, der Grabenbauer, Tab, der Kesselflicker… dauernd schleichen sie wie die Wiesel zu dieser oder jener Versammlung aufs Land hinaus.«

»Wenn sie erwischt werden«, sagte Cranston leise, »hängt man sie auf.«

»Ich weiß, ich weiß, und das macht mir Sorgen. Es wird einen Aufstand geben und Tote, Mord und grausame Unterdrückung.« Er hielt kurz inne. »Sir John, habt Ihr schon einmal von einem Mann gehört, der sich Ira Dei nennt, der Zorn Gottes?«

Cranston nickte. »Jeder hat schon von ihm gehört«, flüsterte er. »John von Gaunt hat einen furchtbaren Eid geschworen: daß dieser Mann gehängt, gestreckt und gevierteilt werden soll. Weißt du, Athelstan, die Bauern haben recht mit ihren Klagen, und weiß Gott, ihre Lage muß erleichtert werden. Ihre Anführer sind wilde Männer - Jack Straw, der Priester John Bull aber hinter ihnen lauert der Führer des geheimen Rats der Großen Gemeinschaft, die Schattengestalt, die sich selbst Ira Dei nennt. Sein Arm reicht weit und ist sehr stark. Hast du gehört, was in Aldersgate passiert ist?«

Athelstan schüttelte den Kopf.

»In einem schäbigen Haus dort drang eine Grabesstimme aus den Wänden. Hunderte von Bürgern drängten hinzu, um dieser, wie sie meinten, Stimme eines Engels zuzuhören. Als sie schrien: ›Gott schütze unseren Regenten, Herzog John, antwortete ihnen das eingemauerte übernatürliche Wesen nicht. Als dann einer rief: ›Gott schütze unseren jungen König Richardis da antwortete die Stimme: ›So soll es sein.‹ Und als man fragte: ›Was erwartet Herzog John in der Zukunft?‹, da antwortete die Stimme spöttisch: ›Tod und Vernichtung. ‹ Die Garde wurde geholt, und sie fand eine junge Frau in den Mauern, die so tat, als sei sie der Engel. Sie mußte tagelang mit kahlgeschorenem Kopf am Pranger sitzen. Aber Gaunt glaubt«, Cranston klopfte mit dem Finger auf dem Tisch, »daß Ira Dei dahintersteckte. Das zeigt, wieviel Macht und Einfluß er hat, mein guter Bruder.«

»Und was hat Lord Gaunt vor?«

Cranston legte den Kopf schräg, denn die Glocken der nahen Kirche von St. Mary Le Bow läuteten jetzt zum Abendgebet. »Oh, Gaunt macht sich Sorgen. Er kann kein Parlament einberufen, denn das Unterhaus ist ihm feindselig gesonnen. Aber heute abend veranstaltet er ein großes Bankett im Rathaus, und ich muß auch hin.« Cranston holte tief Luft. »Gaunt hofft, zwischen den streitenden Parteien der Gilden Frieden zu stiften. Er ist zum Freund der Londoner Kaufmannsfürsten und ihrer Anführer geworden: Thomas Fitzroy, Philip Sudbury, Alexander Bremmer, Hugo Marshall, Christopher Goodman und James Denny. Sie werden ihre neue Freundschaft in einer Orgie von Leckereien, Wein und falscher Freundlichkeit feiern.« Er räusperte sich. »Du mußt wissen, mein lieber Bruder, daß einer der fähigsten Handlanger Gaunts, der Lord Adam Clifford, sich für seinen Herrn dieser Sache angenommen hat. Jeder der Gildemeister hat einen großen Goldbarren in eine Truhe gelegt, die in der Rathauskapelle steht - zum Zeichen ihres guten Willens und der Unterstützung für den Regenten.« Cranston leerte seinen Becher und stand auf. »Und ich, mein Bruder, muß als Zeuge dieser Farce dabeisein.«

Athelstan blickte in banger Sorge auf. »Es wird also Frieden geben, Sir John?«

»Frieden!« Cranston beugte sich über ihn. »Mein guter Bruder«, flüsterte er heiser, »sag deinen Pfarrkindern, sie sollen sich vorsehen. Gaunt hat vor, Truppen aufzustellen, und glaub mir: In den Straßen von London wird bald Blut fließen, dick, dunkel und rot wie der Wein aus der Kelter!«

Athelstan stellte seinen Humpen hin und stand auf. »Glaubt Ihr das wirklich, Sir John?«

»Ich weiß es! Zu dieser Stunde trifft Gaunt mit den Kaufmannsfürsten im Rathaus zusammen. Der junge König und sein Tutor, Sir Nicholas Hussey, haben dort heute morgen die Messe besucht. Am Nachmittag hat Gaunt mit dem Sheriff, Sir Gerard Mountjoy, über Maßnahmen gegen die Verschwörung der Bauern und ihre Anhänger in der Stadt beraten.« Cranston wischte sich den weißen Bart. »Und zur Buße für meine Sünden«, flüsterte er in einer Wolke von Weindunst, »muß ich heute abend an dem Bankett teilnehmen, das Gaunt seinen neuen Verbündeten gibt.« Er grunzte. »Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte.«

»Was denn für Probleme, Sir John?«

»Nun, abgesehen von Olivers Tod sind Regent und Behörden erbost über einen Schurken, der den hingerichteten Verrätern auf der London Bridge und anderswo die Gliedmaßen stiehlt. Was hat es schließlich für einen Sinn, Leute hinzurichten, mein guter Bruder, wenn man ihre abgehackten, blutigen Glieder nicht als Warnung für andere Möchtegern-Verräter zur Schau stellen kann?« Er schob seinen Arm unter den des Ordensbruders, und sie verließen die Schenke. »Nun, in meiner Abhandlung über die Verwaltung dieser Stadt…« Er schnalzte, und Athelstan schloß die Augen und betete um Geduld. Cranstons großes Werk über die Regierung der Stadt London war fast fertig, und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Vorträge über seine Theorie zur Sicherung von Recht und Ordnung in der Stadt zu halten.

»In meiner Abhandlung werde ich von solchen Praktiken abraten. Verbrecher sollte man innerhalb der Gefängnismauern hinrichten, und die Krone sollte gegen derartige Barbarei ihr Veto einlegen. Die alten Sumerer…« Cranston zog den widerstrebenden Athelstan über die Cheapside. »Also, die alten Sumerer …«, wiederholte er.

»Mylord Coroner! Bruder Athelstan!«

Die beiden drehten sich um. Ein verschwitzter Diener in der Livree der Stadt London stützte sich auf einen leeren Verkaufsstand und rang nach Luft.

»Was ist denn, Mann?«

»Sir John, Ihr müßt rasch kommen. Und du auch, Bruder. Der Regent… Seine Gnaden der König …« 

»Was ist?« blaffte Cranston.

»Ein Mord, Sir John. Sir Gerard Mountjoy, der Sheriff, wurde im Rathaus ermordet!«