Cranston und Athelstan kehrten zum Stall zurück, um ihre Pferde zu holen.
»Noch einen Becher Roten, Bruder?«
»Nein, Sir John. Genug des bösen Trankes für diesen Tag. Sagt, ist Euch eingefallen, woher Ihr Sturmeys Namen kanntet?«
Cranston schüttelte den Kopf. »Aber eins weiß ich jetzt, Bruder: Sturmey wurde ermordet, weil er etwas wußte, das Rätsel der ausgeraubten Truhe lösen konnte.« Cranston starrte zwei Leprakranken nach, die ganz in Schwarz gekleidet die Straße hinunterschlichen, voller Angst, daß man sie erkennen könnte. »Sturmey wurde nach Billingsgate gelockt«, fuhr er fort. »Aber wieso? Was konnte einen angesehenen Schlosser dazu bringen, sich an Verrat und Raub zu beteiligen?«
»Es gibt nur eine Antwort, Sir John. Ich bezweifle, daß er sich hat bestechen lassen; also lautet die Antwort: Erpressung. Wenn Ihr Euer wunderbares Gedächtnis durchforscht, werdet Ihr bestimmt etwas ziemlich Unappetitliches über Master Sturmey herausfinden.«
Cranston nickte. Sie führten die Pferde weiter die Straße hinauf, wo ihre Aufmerksamkeit auf eine Menschenmenge gelenkt wurde, die eine gespenstische, in ein Ziegenfell gekleidete Gestalt umringte. Der Mann hatte langes, graues Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, und die untere Hälfte seines Gesichts war unter einem dichten, buschigen Bart verborgen; seltsame, wahnsinnige Augen musterten die Menge, die fasziniert war von diesem Propheten des Weltuntergangs und dem hohen, brennenden Kreuz in seiner Hand. Das Kreuz, dessen Querbalken mit Pech und Teer bestrichen war, loderte wild, und die Flammen und der schwarze Rauch verliehen den Warnungen des wahnsinnigen Predigers noch mehr Nachdruck.
»Diese Stadt ist verdammt wie Sodom und Gomorra! Wie auf Tyrus und Sidon und die Fleischtöpfe der Ebene wird der Zorn Gottes herniederfahren!« Der Mann schwenkte einen sehnigen Arm in Richtung Cheapside. »Ich bringe das brennende Kreuz in diese Stadt als Warnung vor den Feuern, die noch kommen werden! Also bereuet, ihr Reichen, die ihr euch auf goldenen Polstern räkelt, den Saft der Weintraube trinkt und euch das Maul mit den zartesten Speisen vollstopft!«
Cranston und Athelstan schauten zu, wie der Mann weiterschwadronierte, obwohl jetzt Soldaten in der Livree der Stadt und mit dem Wappen John von Gaunts aus den Gassen zum Tower strömten. Die Soldaten bahnten sich mit der flachen Schwertklinge einen Weg durch die Menge, um den wahnsinnigen Propheten zu verhaften. Der Pöbel leistete Widerstand, die Stimmung war verdrossen; Prügeleien brachen aus, und als Athelstan wieder hinschaute, war der Prediger mit seinem Flammenkreuz verschwunden.
»Kommt, Sir John, ich habe ein Geständnis zu machen.«
Er führte den Coroner weg von dem Tumult.
»Was gibt's, Bruder?«
»Dieser Anführer der Großen Gemeinschaft, Ira Dei - er hat mir eine Warnung zukommen lassen.« Und Athelstan berichtete ausführlich von seinem seltsamen Besucher und auch von der Proklamation, die an seiner Kirchentür gehangen hatte.
Mit schmalen Lippen hörte Cranston ihm zu. Er war so besorgt, daß er sogar seinen wunderbaren Weinschlauch vergaß.
»Wieso kommen sie zu mir?« fragte Athelstan schließlich.
Cranston blies die Wangen auf. »Aus Angst, und um dir zu schmeicheln, Bruder. Aus Angst, weil er weiß, daß du mein Schreiber und Secretarius bist.«
»Und das zweite, Sir John?«
Cranston grinste schief. »Für einen Pfaffen bist du ziemlich bescheiden, Athelstan. Hast du noch nicht gemerkt, wie sehr du bei den Armen und Unglücklichen in Southwark geachtet, ja, verehrt wirst?«
Athelstan errötete und schaute weg.
»Das ist doch lächerlich«, sagte er leise.
»Oh nein, das ist es nicht!« versetzte Cranston und ging weiter. »Vergiß Ira Dei, Bruder. Wenn der Aufstand kommt, dann werden es Priester sein wie du, John More und Jack Straw, die das gemeine Volk führen.«
»Ich werde mich in meiner Kirche verstecken«, gab Athelstan zurück. »Da wir gerade davon sprechen …« Er hielt vor St. Dunstan an und zog Philomels Zügel durch einen Haken an der Mauer.
»Was ist los, Bruder?«
»Ich will nachdenken, Sir John, und beten. Ich rate Euch, desgleichen zu tun.«
Murrend und fluchend band Cranston sein Pferd an, nahm einen großzügigen Schluck aus dem wunderbaren Weinschlauch und folgte Athelstan in den kühlen, dunklen Vorraum der Kirche.
In der Kirche brannten einige Fackeln, vor den Statuen der Hl. Jungfrau und der Hl. Joseph und Dunstan standen Kerzen; durch die bunten Glasfenster strömte Sonnenlicht und ließ die Bilder erstrahlen. Bewundernd schaute Athelstan zu den Fenstern hinauf.
»So eins möchte ich zu gern haben«, flüsterte er. »Nur eins für St. Erconwald.«
Während er die Fenster bestaunte, nahm Cranston einen winzigen Schluck aus seinem Weinschlauch und folgte dem Ordensbruder dann durch das Kirchenschiff zu einer Bank vor dem Lettner. Im Chorgestühl dahinter probten der Kantor und sein Chor die Michaelismesse. Athelstan setzte sich auf die Bank, schloß die Augen und lauschte den Worten.
»Ich sah einen großen Drachen, der erschien in den Himmeln; er hatte zehn Häupter und auf jedem Haupt eine Krone, und sein mächtiger Schweif fegte ein Drittel aller Sterne vom Himmel. Und dann sah ich Michael mit dem Drachen kämpfen.«
Triumphierend sang der machtvolle dreistimmige Chor die lateinische Schilderung vom großen Sieg des Erzengels Michael über den Satan.
Athelstan schloß die Augen und betete zu Gott um Hilfe gegen das Böse, dem er jetzt gegenüberstand: Mountjoy, blutüberströmt in dem schönen Garten; Fitzroy, der sein Leben bei John von Gaunt über den goldenen und silbernen Tellern aushauchte; Sturmey, den der Menschenfischer wie ein Stück Abfall aus dem Fluß gefischt hatte und dessen Leichnam nun da lag, ausgestellt wie ein toter Kabeljau oder Salm.
Er mußte an die Warnung denken, die ihm am Morgen überbracht worden war, und spürte, wie sein Zorn aufwallte. Der Mann, der sich Ira Dei nannte, war ein Lästerer! Wie konnte man Gott und Seinen gerechten Zorn mit Mord und bösem Totschlag in Verbindung bringen? All die Seelen, die da unvorbereitet und ohne Segen in die große Finsternis mußten! Und all das andere Böse in der Stadt? Das besessene Mädchen bei den Hobdens. Der Übeltäter, der die abgeschlagenen Köpfe der Verräter stahl. Und der Freund des alten Jack Cranston, heimtückisch ermordet und den Ratten zum Fraß überlassen. Was hatten diese Dinge mit Gottes Schöpfung zu tun? Mit den Sternen, die am Himmel kreisten? Mit dem grünen, fetten Gras der Wiese? Mit der einfachen Ehrlichkeit und Gottesfurcht vieler seiner Pfarrkinder? Leise murmelte Athelstan die Worte eines Mentors, Pater Paul: »Gott ist niemals fern. Er kann nur durch uns handeln. Des Menschen freier Wille ist Gottes Tür zur Menschheit.« Was also war mit diesen Morden? Er bemühte sich, seine Gedanken zu steuern und nach einem alles durchziehenden Faden zu suchen. Der Gesang hörte auf, und er öffnete die Augen, als Cranston laut schnarchend rückwärts gegen die Bank stieß.
»Sir John, kommt!«
Cranston öffnete die Augen und schmatzte.
»Für mich einen großen Becher Roten!« brüllte er.
»Sir John, wir sind in der Kirche.«
Cranston rieb sich die Augen und kam schwerfallig auf die Beine.
»Mir fallt es schwer zu beten, Bruder. Ich will dir zeigen, was ich tue.«
Wie ein großer Bär tappte er in die Seitenkapelle und blieb vor der holzgeschnitzten Figur der Jungfrau Maria stehen, die ihre Arme um die Schultern des Jesusknaben gelegt hatte. Cranston warf zwei Münzen in eine eisenbeschlagene Kiste und fischte zehn Kerzen heraus, die er wie eine Reihe Soldaten auf dem großen Eisenleuchter vor der Statue aufstellte.
»Zehn Gebete«, murmelte er. »Eins für mich, eins für Lady Maude, eins für jedes der beiden Kerlchen, eins für Gog und Magog. Eins für dich, eins für Boscombe und Leif, eins für Benedicta, und eins für den alten Oliver.«
»Das sind neun, Sir John.«
»Ach ja.« Mit einem Kienspan zündete Cranston die letzte Kerze an. »Und eins für jeden anderen armen Scheißer, für den ich hätte beten sollen.« Er blies den Kienspan mit weindunstigem Atem aus und stürmte durch die Kirche zur Tür. »Das war's, Bruder. Für mich heißt es jetzt: Ab ins › Heilige Lamm Gottes‹!«
Sie banden ihre Pferde los und wanderten in das geschäftige Treiben der Cheapside. Sir John rechnete mit der üblichen hingerissenen Begrüßung in seiner Lieblingsschenke, aber er sah sich enttäuscht. Die Wirtin zeigte nur bebende Erwartung.
»Sir John, eine Nachricht vom Rathaus! Schon mindestens zweimal war ein Bote hier. Ihr sollt sofort kommen!« Ihre Stimme dämpfte sich ehrfürchtig. »Der Lord Regent selbst befiehlt Eure Anwesenheit!«
Fluchend und murrend bahnte Cranston sich den Weg durch die Cheapside zurück, und ein noch bedrückterer Athelstan trottete hinter ihm her. Im Rathaus führte sie ein Kammerdiener in einen kleinen Raum mit Blick auf den Garten, in dem Mountjoy ermordet worden war. Der Diener klopfte an die Tür und schob sie dann hinein. Cranston stolzierte durch die Tür und funkelte den Regenten an, der direkt gegenüber saß, zu beiden Seiten flankiert von Goodman und den Gildemeistern. Athelstan schaute hinauf zu den silbernen und goldenen Sternen, die an die blaue Decke gemalt waren, und betrachtete dann die Holztäfelung ringsum. Ein angenehmes, luxuriöses Zimmer, dachte er, in dem die Großen der Stadt ihre Pläne schmieden. Gaunt winkte sie zu zwei hochlehnigen Polsterstühlen.
»Sir John, setzt Euch. Wir warten schon.«
»Euer Gnaden«, raunzte Cranston und ließ seine Massen auf den Stuhl sinken, »ich war beschäftigt! Der Schmied Sturmey wurde …«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn Gaunt. »Ermordet. Von einem oder mehreren Unbekannten. Sein Leichnam liegt in einem Schuppen in Billingsgate. Und du, Bruder?« Die harten, schlauen Augen musterten Athelstan. »Der Verräter Ira Dei hat sich dir offenbart.« Gaunt lächelte, als er das überraschte Gesicht des Ordensbruders sah. »Wir haben Mittel und Wege, Bruder, um herauszufinden, was in unserer Stadt vor sich geht. Was Sturmey angeht, Sir John, so habt Ihr seine Werkstatt versiegelt, wenn ich recht verstehe?«
Cranston nickte.
»Meine Leute haben die Siegel erbrochen«, erklärte Gaunt. »Wir haben sein Haus durchsucht, aber wir fanden keinen Hinweis darauf, daß Sturmey einen zweiten Satz Schlüssel angefertigt hätte.«
»Und doch hat er es getan«, erwiderte Cranston.
»Woher wißt Ihr das?« blaffte Goodman böse.
»Warum sonst sollte er umgebracht worden sein?«
Goodman verzog das Gesicht.
»Ich glaube«, fuhr Cranston langsam fort, »daß Sturmey erpreßt wurde. Wie viele solche Männer hat er ein Doppelleben geführt.«
Athelstan entdeckte einen Schimmer von Angst in den Augen Goodmans, aber der Bürgermeister senkte gleich den Kopf, und Cranston redete weiter.
»Euer Gnaden, ich könnte jeden der hier Anwesenden - mit Eurer Erlaubnis, natürlich - fragen, wo er sich gestern nachmittag aufgehalten hat, als der Lord Sheriff und Meister Sturmey ermordet wurden. Aber ich habe den Verdacht, daß nichts dabei herauskommen würde.«
»Allerdings«, näselte Denny. »Wir waren alle beschäftigt, Mylord Coroner. Auch wenn Sir Gerard Mountjoy herumsitzen, Wein trinken und sich mit seinen Hunden unterhalten konnte.«
Athelstan griff unter dem Tisch nach Cranstons Handgelenk, und der Coroner schluckte die Frage, die er stellen wollte, rasch herunter.
»Dann frage ich mich, Euer Gnaden«, sagte er statt dessen, »warum man mich herbefohlen hat. Gibt es Neuigkeiten?«
»Ja, zwei«, antwortete Gaunt. »Zum einen: Eine Proklamation ist an das Rathaustor genagelt worden. Eine schlichte Botschaft von Ira Dei. Sie lautet: ›Tod folgt Tod.‹ Wie deutet Ihr das, Sir John? Oder sollte ich Bruder Athelstan fragen, der so seltsam still ist?«
Der Ordensbruder trommelte sanft mit den Fingern auf der Tischplatte. »Es ist die Warnung, Euer Gnaden, daß noch jemand in diesem Raum ermordet werden könnte.« Athelstan schaute in die Runde der Gildeherren, aber seine Antwort schien sie nicht zu beruhigen.
»Ist denn noch ein Mord geschehen?« fragte Cranston. »Wo ist Lord Clifford?«
»Ein dritter war geplant«, antwortete Gaunt. »Lord Adam wurde heute morgen unweit der Bread Street von ein paar Übeltätern überfallen, aber gottlob ist ihm die Flucht gelungen. Jetzt ruht er sich in seinem Stadthaus aus. Ich schlage vor, daß Ihr ihn dort besucht.«
»Ist das alles?«
»Oh nein.« Gaunt stand rasch auf, ohne Athelstan aus den Augen zu lassen. »Du, Bruder, bist ein treuer Diener der Krone?«
»Gottes und der Krone, jawohl.« Er versuchte, seine Panik niederzukämpfen; er war der eigentliche Grund, weshalb diese mächtigen Männer Cranston hatten sehen wollen, und er ahnte schon halb, was sich hinter der selbstgefälligen Genugtuung ihrer Mienen verbarg. Gaunt stand da und zwirbelte seinen Schnurrbart zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Bruder, dieser Ira Dei ist an dich herangetreten. Du arbeitest als Priester bei den Armen von Southwark. Du bist, was seltsam genug ist, sehr beliebt und geachtet. Wenn wir dich dazu aufforderten, ja, wenn der König es befehlen wollte, würdest du Ira Dei dann antworten, in die Große Gemeinschaft des Reiches eintreten und …«
»Sie verraten?« fauchte Athelstan.
»Euer Gnaden!« rief Cranston und stieß seinen Stuhl zurück. »Dieses Ansinnen ist ebenso töricht wie unbedacht. Bruder Athelstan ist mein Secretarius. Ich aber bin ein Beamter der Krone. Man würde ihm immer mißtrauen.«
Gaunt schüttelte den Kopf. »Sir John, Ihr widersprecht Euch«, sagte er, sorgsam seine Worte wählend. »Gestern habt Ihr und Bruder Athelstan noch behauptet, Ira Dei oder einer seiner Schergen sei bei meinem Bankett gewesen. Wenn diese sogenannte Große Gemeinschaft des Reiches sogar die Mächtigsten zu Verrätern machen kann, warum sollte es dann nicht mit einem Dominikaner gelingen, der unter den Armen lebt?«
»Ja, warum nicht?« ergriff Goodman das Wort, und Cranston stöhnte, als er begriff, wie er und Athelstan in diese raffinierte Falle getappt waren.
»Sir John - wie denkt Ihr eigentlich in dieser Sache?« fuhr Goodman fort. »Seid Ihr nicht für die Armen? Tretet Ihr nicht für Reformen in der Stadt und in den Grafschaften ein? Für die Entlastung der Kleinhändler und Bauern?«
»Ihr könnt mich nicht zwingen«, unterbrach Athelstan leise. »Mein Gehorsam gilt Gott und meinem Pater Superior.«
»Und deine Treue zur Krone?« rief Gaunt. »Was deinen Pater Superior angeht, so habe ich seine Erlaubnis übrigens schon.«
»Euer Gnaden, Ihr könnt mich nicht zwingen, gegen mein Gewissen zu handeln.«
Gaunt setzte sich wieder und streckte lächelnd die beringten Hände aus. »Aber, aber, Bruder, was verlangen wir denn? Wir wollen doch nicht, daß du zum Verräter wirst - weder an der Krone noch an der sogenannten Großen Gemeinschaft noch an dir selbst.«
»Was wollt Ihr dann?« fragte Cranston leise.
»Nicht viel«, antwortete Gaunt. »Ira Dei ist mit Bruder Athelstan in Verbindung getreten. Soll unser treuer und loyaler Bruder doch zurückschreiben. Wer weiß? Vielleicht läßt sich der geheimnisvolle Verräter in die Karten schauen?« Gaunt lächelte. »Sicher ist der Verräter kein Dummkopf, und er würde Athelstan nie vertrauen. Aber wie es im alten Sprichwort heißt, Sir John: Keiner kann wissen, was vom Apfelbaum fallt, bevor er ihn schüttelt.«
Athelstan preßte die Lippen zusammen; er wollte sich auf nichts weiter einlassen und machte seinem Zorn erst Luft, als sie die Ratskammer verlassen hatten und im Erdgeschoß des Hauses waren. Cranston war heiterer gestimmt, nicht zuletzt, weil er wieder einen Schluck aus seinem Weinschlauch genommen hatte.
»Nur Mut, Bruder.« Er klopfte Athelstan auf die Schulter. »Vergiß nicht, der Lord Regent muß verzweifelt sein.«
Athelstan blieb am Fuße der Treppe stehen. »Diese Zusammenkunft war ganz fruchtbar, Sir John, nicht wahr?«
Cranston grinste. »Ja. Zwei saftige Happen. Erstens: Woher wußte Denny, daß der Lord Sheriff Wein trank und sich mit seinen Hunden unterhielt? Eine ziemlich eingehende Beobachtung von jemandem, der angeblich nie in die Nähe des Lord Sheriffs kam, wenn dieser sich in seinem Privatgarten sonnte.«
»Und Goodmans Verlegenheit?« fragte Athelstan.
»Ja, ja. Ich glaube, unser toter Schlossermeister hatte ein dunkles Geheimnis, das unser Herr Bürgermeister kennt.« Cranston warf Athelstan einen scharfen Blick zu. »Da ist aber noch etwas, nicht wahr, Bruder?«
Der Bruder schaute weg, aber Cranston sah den Aufruhr in seinem sorgenvollen Blick. Athelstan murmelte etwas.
»Wie bitte, Bruder?«
»Sagt, Sir John, der Lord Regent hat eine Legion von Spionen, nicht wahr?«
»Legion ist das richtige Wort, Bruder. Eher noch ein Schwärm Ameisen, der in der ganzen Stadt umherwimmelt. Niemandem kann man trauen, nicht einmal Leuten wie Leif, dem Bettler. Es sind keine bösen Menschen; sie sind einfach so arm, daß man sie leicht kaufen kann.« Cranston kam näher, und Athelstan bemühte sich, nicht vor dem Weindunst zurückzuweichen. »Du fragst dich natürlich«, flüsterte der Coroner, »wieviel Gaunt über Ira Dei weiß.«
Athelstan wollte antworten, als sie ein Geräusch hörten; sie drehten sich um und erblickten hinter sich Sir Nicholas Hussey, den Lehrer des Königs.
»Mylord Coroner, Bruder Athelstan.« Der glatte, silberhaarige Höfling verbeugte sich leicht. »Wir haben gehört, daß Ihr im Rathaus seid. Seine Gnaden, der König, bittet Euch um einen Augenblick Eurer Zeit.«
Athelstan warf einen verwunderten Blick auf diesen dunkelhäutigen Gelehrten, der von Beruf Rechtsanwalt war. Jetzt wurde spürbar, wie Hussey den König im stillen beherrschte und wie raffiniert er den Knaben manipulierte. Athelstan sah die strahlend blauen Augen des Mannes, klar wie der Himmel an einem Sommertag. Er sah auch die Verschlagenheit und erkannte rasch, daß Hussey womöglich noch gefährlicher war als der Regent, den sie eben verlassen hatten. Auch Cranston blieb stumm und überlegte, wieviel Hussey wohl gehört hatte. Dann lächelte er.
»Es ist uns eine Ehre«, brummte er.
Hussey führte sie durch einen Korridor und zu ihrer Überraschung hinaus in den Privatgarten hinter dem Rathaus, wo Mountjoy ermordet worden war. Der junge König, gekleidet in eine schlichte, lincolngrüne Tunika, das Blondhaar zerzaust, saß auf einer Rasenbank, neben sich einen ledernen Schwertgurt und ein Paar Jagdstiefel mit Sporen. Eine Kinderarmbrust lehnte zu seinen Füßen, und an den Schmutzspuren an Gesicht und Händen erkannte Cranston, daß der junge Mann wohl auf der Jagd gewesen war, vermutlich in den Wäldern und Wiesen nördlich von Clerkenwell. Er und Athelstan verbeugten sich, aber Richard wischte die Artigkeiten mit einer Handbewegung beiseite und deutete neben sich auf die Bank. Schwertgurt und Stiefel schob er weg.
»Sir John, Bruder Athelstan.« Mit leuchtenden Augen winkte der König ihnen, sich zu setzen. »Mein Onkel ist nicht hier, und so kann ich tun, was ich will. Sir Nicholas, wollt Ihr bleiben?«
Der Hauslehrer verbeugte sich. Athelstan sah gerade noch, wie ein Blick zwischen dem jungen König und seinem Mentor hin und her ging. Richard ergriff Cranstons Pranke und beugte sich vor, damit auch Athelstan sein verschwörerisches Flüstern hören konnte.
»Habt Ihr den Mörder schon gefunden?«
»Nein, Euer Gnaden.«
»Und wißt Ihr, wer dieser Ira Dei ist?«
Wieder schüttelte Cranston den Kopf. Richard lächelte.
»Aber mein Onkel ist außer sich. Ich habe ihn brüllen hören«, fuhr er fort. »Er macht allen Vorwürfe. Goodman, der Bürgermeister, und sogar seine Kreatur Lord Clifford sind seinem Tadel nicht entkommen. Glaubt Ihr, jemand wird meinen Onkel ermorden?«
Cranston bedachte den Jungen mit einem strengen Blick. »Euer Gnaden, wie könnt Ihr so etwas sagen?«
»Oh, ganz leicht; mein Onkel wäre gern König.«
»Euer Gnaden, wer immer Euch das einredet, ist ein Verräter und ein Spitzbube. Eines Tages werdet Ihr König sein. Ein großer Fürst, wie Euer Vater.«
Richards Blick umwölkte sich, als Cranston Gaunts Bruder erwähnte, den berühmten Schwarzen Prinzen.
»Kanntet Ihr meinen Vater gut, Sir John?«
Cranston wurde sanft. »Ja, allerdings, Sire. Ich stand an seiner Seite, als die Franzosen in Poitiers versuchten, durchzubrechen.«
Und auf Richards Bitten hin erzählte der Coroner ganz ausführlich von den letzten Phasen des Sieges, den der Schwarze Prinz errungen hatte. Richard lauschte mit aufgerissenen Augen, bis Hussey betonte, daß der Coroner ein vielbeschäftigter Mann sei und sich um andere Dinge kümmern müsse. Richard erlaubte ihnen, sich zu entfernen, und dankte Athelstan und Cranston herzlich. Sie waren im Gehen, als Richard ihnen auf Zehenspitzen durch das Gras nachgelaufen kam und beide am Ärmel festhielt.
»Wenn Ihr Ira Dei findet«, flüsterte er aufgeregt, »bringt ihn zu mir, Sir John.«
Cranston lächelte und verneigte sich. Er und Athelstan durchquerten das Rathaus und traten hinaus in die Hitze der Cheapside.
»Was sollte denn das nun wieder alles?« brummte Cranston bei sich.
Athelstan schüttelte den Kopf. Erst als sie wohlbehalten an einem Fensterplatz in der Schenke zum Heiligen Lamm Gottes saßen, jeder mit einem Humpen kühlen Ales in der Hand, sprach der Bruder wieder.
»Als wir aus dem Rathaus kamen, habt Ihr eine Frage gestellt, Sir John. Habt Ihr schon einmal daran gedacht, daß diese Morde vielleicht gar nicht das Werk des Bauernführers Ira Dei sind, sondern das einer anderen Fraktion am Hof, die den Regenten in Mißkredit bringen will?«
»Du meinst Hussey und andere?« Cranston schüttelte den Kopf. »Darauf, guter Bruder, kann ich nur antworten: Hast du schon einmal daran gedacht, daß der junge König ebenfalls stürzen könnte, wenn Gaunt geht?«
Überrascht lehnte sich Athelstan zurück. »Ist die Lage so heikel, Sir John?«
»Oh ja. Glaubst du, daß die Bauernführer, falls es tatsächlich zur Revolte kommt, zwischen dem einen und dem anderen Fürsten unterscheiden werden? Hast du nicht ihr Lied gehört, Bruder? ›Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?‹« Cranston nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug. »Was mir mehr Sorgen macht, Bruder, sind Leute wie Goodman, Denny und Sudbury, die London gern ohne König sehen würden, regiert von Kaufmannsfürsten wie die Städte, mit denen sie ihren Handel treiben: Florenz, Pisa und Genua. So viele Mitspieler«, murmelte er. »Weiß der Himmel, Bruder, es ist schwer, zwischen den Guten und den Bösen zu unterscheiden.« Er brüllte nach mehr Ale. »Aber bevor Hussey kam, wolltest du wohl sagen, du vermutest, daß Gaunt einen Spion in deiner Pfarrgemeinde hat?«
Athelstans Gesicht wurde verschlossen und schmallippig, und Cranston sah, daß der sanftmütige Bruder einen seiner seltenen Wutanfälle hatte.
»Du hast einen Verdacht?«
»Für den Augenblick, Sir John, und mit Verlaub will ich meine Gedanken für mich und meinen Mund verschlossen behalten. Aber es stimmt, ich habe einen Verdacht.«
Sie blieben noch eine Stunde sitzen; Cranston beschloß, lieber in der Schenke zu essen, als in sein leeres Haus zurückzukehren. Die Schatten wurden länger. Draußen schloß der Markt, und die Stände wurden abgebaut. Als die Taverne sich mit verschwitzten Lehrlingen und heiseren Kesselflickern füllte, die danach lechzten, ihren Durst zu löschen, holten Cranston und Athelstan ihre Pferde und kehrten durch die sich leerenden Straßen zur London Bridge zurück.
Die meisten Leute waren nach Hause gegangen, und so kamen sie mühelos voran. Athelstan bereitete sich in Gedanken auf seinen Besuch bei den Hobdens und den Exorzismus an dem Mädchen Elizabeth vor.
»Hast du so etwas schon mal gemacht?« fragte Cranston neugierig, während er einen bekannten Taschendieb im Auge behielt, der einem müde aussehenden Kesselflicker nachschlich.
»Was gemacht, Sir John?«
»Einen Exorzismus, einen richtigen.«
Plötzlich drehte Cranston sich zur Seite und brüllte quer über die Bridge Street: »Foulpie!«
Der Taschendieb fuhr herum und machte ein erschrockenes Gesicht.
»Foulpie, mein Junge!« donnerte Cranston. »Ich habe dich im Auge, du verdammter kleiner Dieb! Jetzt sei ein braver Junge und verpiß dich!«
Der einäugige Kesselflicker blieb verblüfft stehen und drehte sich um.
»Was ist denn los?« rief er.
Cranston grinste und zeigte auf Foulpie, der schnell wie ein Windhund in Richtung Eastchepe davonrannte.
»Ein Spitzbube, der es auf deinen Tagesverdienst abgesehen hatte.«
Der Kesselflicker grinste dankbar, und der Coroner wandte sich wieder seinem bedrückten Gefährten zu.
»Nun, Bruder?« fragte er zwischen zwei Schlucken aus dem wunderbaren Weinschlauch. »Hast du schon mal den Herrn Satan oder einen seiner Knechte ausgetrieben?«
Athelstan grinste schief und schüttelte den Kopf.
»Ich hab's mal gesehen«, erzählte Cranston. »Einen echten Exorzismus. Vor fünfzehn Jahren, in St. Benet Sherehog. Du kennst die Kirche?«
Athelstan nickte.
»Ein Junge aus dem Spital von St. Anthony of Vienne wurde dort hingebracht. Na« - Cranston bediente sich erneut an seinem Weinschlauch -, »ich habe heute noch Alpträume, wenn ich daran denke, Bruder. Weißt du, der Exorzist war einer von diesen seltenen Menschen, ein wirklich heiligmäßiger Bruder.« Cranston schniefte über seinen eigenen Witz. »Und ich war einer der offiziellen Zeugen, bestellt vom Bischof von London. Sie brachten diesen Bengel -nicht mehr als vierzehn Sommer war er alt - und ketteten ihn an den Chorstuhl, gleich hinter dem Lettner.« Der Coroner räusperte sich. Athelstan hörte jetzt aufmerksam zu. »Dieser Junge«, fuhr er dann fort, »konnte in fremden Zungen reden, sich in die Luft erheben und, was das Schlimmste war, er kannte die Geheimnisse der Menschen.«
»Was ist passiert?« fragte Athelstan neugierig.
»Nun, der Exorzist begann mit seinem Ritual, und der Junge veränderte sich plötzlich. Er wurde wild und schimpfte, und er verfluchte den Exorzisten mit jedem Gossenwort, das er kannte. Nun gibt es da eine Stelle in der Zeremonie, wo der Exorzist…«
»Die feierliche Anrufung?« half Athelstan.
»Richtig. Er ruft den Teufel feierlich an und fragt ihn, bei welchem Namen er genannt werde. Die Stimme des Jungen, die sonst hoch und dünn klang, wurde plötzlich tief und voll. ›ICH BIN DER HERR DER SCHWEINE‹, antwortete er.« Cranston schüttelte den Kopf. »Dann wurde es dunkel im Chor, und alles stank ganz widerlich und verfault. Der Exorzist kam zum Ende des Rituals, wo er den Dämon, der von dem Jungen Besitz ergriffen hatte, befiehlt, auszufahren, und der Dämon antwortete: ›WO SOLL ICH HIN? WO SOLL ICH HIN?«‹ Cranston hielt inne und zügelte sein Pferd.
»Weiter, Sir John, bitte.«
»Nun, es war noch ein zweiter Zeuge dabei, ein junger Anwalt von den Advokateninnungen in der Chancery Lane. Er hatte dem ganzen Vorgang halb spöttisch zugeschaut, und als der Dämon rief: ›WO SOLL ICH HIN? WO SOLL ICH HIN?., da flüsterte dieser schlaue junge Kerl plötzlich: ›Na, er kann zu mir kommen..«
Sir John drehte sich im Sattel um. »Bruder, das ist nicht gelogen. Der besessene Knabe warf sich rückwärts und fiel in eine todesähnliche Ohnmacht. Ich hörte ein Rauschen wie von einem riesigen Vögel, der auf seine Beute herabstößt, und der junge Advokat wurde plötzlich in die Luft gehoben und gegen eine Säule geschleudert. Er war tagelang bewußtlos.« Cranston trieb sein Pferd weiter.
»Warum erzählt Ihr mir das, Sir John? Wollt Ihr mir Angst machen?«
»Nein.« Cranstons Gesicht blieb ernst. »Nur dieses eine Mal habe ich so etwas miterlebt und dabei eine Lektion gelernt. Bruder, ich kann gut unterscheiden zwischen den wahren Mächten der Finsternis und den zahllosen Gaukeleien der Scharlatane. Glaub mir, ich habe alles gesehen. Stimmen in der Nacht, Fußspuren auf staubigen Treppen, Klirren im Keller.« Er grinste. »Also vertraue nur auf den alten John Cranston, Bruder. Bring du dein Ol und dein Weihwasser auf alle Fälle mit, aber laß den alten John tun, was er für richtig hält.«