Fünf

Draußen blieb Cranston stehen und schaute zum Mond hinauf. »Der Teufel soll auf sie pissen!« fluchte er. »Verdammte Säcke! Was für stinkende Scheißkübel! So eine Sauerei! Diese dreckigen, käferköpfigen, fettbäuchigen, verräterischen Schweine!«

Athelstan lächelte. »Mylord Coroner, Ihr sprecht von unseren Brüdern in Christo, den Gildemeistern?«

»Jawohl, Mönch, von denen spreche ich.« Cranston zerrte seinen wunderbaren Weinschlauch unter dem Mantel hervor und trank in herzhaften Zügen. »Oh Gott!« schnaufte er. »Was für eine Sauerei! Wie wurde Fitzroy ermordet, Bruder? Er hat das Gift nicht vor dem Essen genommen, und an seinen Speisen und seinem Besteck fanden sich keine Spuren irgendeiner Droge.«

Athelstan schüttelte den Kopf. »Ihr seid mir voraus, Sir John. Ich denke immer noch über Mountjoys Tod nach.« Der Ordensbruder spähte über die dunkle Cheapside zu den Laternenhörnern an den großen Kaufmannshäusern, und er dachte an die Worte seines alten Lehrers Pater Paul. »Die Wurzel aller Sünden«, hatte der alte Bruder gedröhnt, »ist der Stolz. Und das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß oder Gleichgültigkeit, sondern Macht. Macht verdirbt, und das Streben nach Macht ist ein Weg, der geradewegs in die Hölle führt.«

Und auf diesem Weg sind wir jetzt, dachte Athelstan; hier drängen sich mächtige Männer mit unstillbarer Gier nach den besten Dingen im Leben. Wir alle sind Mörder, schloß er, und ihn fröstelte trotz der warmen Nachtluft. Er fühlte sich wie ein maskierter Schwertkämpfer, der im Stockfinstern in ein Turnier gestoßen wurde, bei dem es von Mördern wimmelte. »Ich will nach Hause«, flüsterte er, ehe er sich versah.

Cranston sah ihn verwundert an. »Aber du bist doch hier zu Hause, Bruder.«

Athelstan lächelte und schüttelte seine Gedanken ab. »Aye, Sir John, aber wir müssen noch einen Schlosser besuchen. Sagt, warum hat Euch Sturmeys Name nachdenklich gemacht?«

Cranston bekreuzigte sich und nahm noch drei Schluck aus seinem Weinschlauch; dann verstopfte er ihn wieder, hakte sich bei Athelstan unter und führte ihn in die Poultry hinauf.

»Ich weiß es nicht«, knurrte er. »Aber der Name läßt ein Glöckchen läuten. Das braucht seine Zeit, Bruder.«

Athelstan hielt sich die Nase zu, denn in diesem Teil der Cheapside stank es immer nach totem Geflügel. Er versuchte, nicht auf die Ratten zu achten, die zwischen den Jauchegruben in der Mitte der Straße hin und her huschten und nach saftigen Bissen stöberten, nach Innereien und den abgeschlagenen Köpfen von Hühnern, Wachteln, Rebhühnern und Regenpfeifern. Zwei weiße Federn schwebten zur Erde, und Athelstan mußte an Engel denken.

»Engel gibt es hier nicht«, murmelte er.

»Da hast du verdammt recht!« bekräftigte Cranston.

Sie fuhren zusammen und sprangen beiseite, als plötzlich zwei alte Frauen mit einem Schubkarren um die Ecke kamen; auf dem Karren lag der Leichnam einer alten Vettel. Athelstan machte ein Kreuzzeichen in die Luft. Eines der beiden alten Weiber drehte sich um und kicherte.

»Hin ist sie«, krähte sie. »An der Ruhr gestorben, und jetzt ab in die Kalkgruben mit ihr.«

»Ich wünschte, ich könnte dem ein Ende machen«, bemerkte Cranston. »Sie werden die Tote irgendwo auf eine Kirchentreppe legen.«

Der Karren rumpelte davon, und die beiden gingen weiter in Richtung Mercery. Zwei Huren standen an der Ecke einer Gasse; ihre safrangelben Kleider und roten Perücken leuchteten wie Signalfeuer in der Finsternis.

»Holla, ihr Damen!« rief Cranston. »Ihr kennt das Gesetz?«

»Welches Gesetz?« erwiderte die größere der beiden. »Wir beten hier nur.«

»Das ist Cranston!« zischte die kleinere, und die beiden Damen der Nacht flüchteten wie Glühwürmchen durch die düstere Gasse.

Athelstan und Cranston bogen in die Lawrence Lane ein, die wie ein dunkler Tunnel wirkte, weil die Häuser zu beiden Seiten so gebaut waren, daß man in den obersten Stockwerken mühelos ans Fenster gegenüber klopfen konnte.

»Gib acht, wo du hintrittst!« warnte Cranston.

Athelstan blickte zu Boden und sah, daß die Gosse in der Straßenmitte übergelaufen war und das Kopfsteinpflaster mit stinkendem Dreck überzogen hatte. Es roch nach Schwefel, den irgendein braver Bürger ausgeschüttet haben mußte, um den Gestank zu bekämpfen. Dunkle Gestalten lösten sich aus den Hauseingängen. Cranston schlug seinen Mantel über die Schulter nach hinten und zog seinen langen walisischen Spitzdolch.

»Guten Abend, ihr Böckchen! Ich bin John Cranston, der Coroner.«

Die unheimlichen Schatten verschwanden.

Sie gingen weiter; Cranston blieb hier und da stehen, um zu den Ladenschildern hinaufzuschauen, die über ihnen an Stangen hingen. Kurz bevor die Lawrence Lane in die Catte Street mündete, blieb er stehen und deutete auf eine Tafel, die an rostigen Ketten knarrte. Darauf stand »Peter Sturmey, Schlosser«. Cranston trat zurück und blickte nach oben. Er sah Kerzenschein in einem der oberen Stockwerke, und so hämmerte er an die Tür.

»Verpißt euch!« schrie jemand von der anderen Straßenseite.

Athelstan und Cranston sprangen schnell beiseite, als der stinkende Inhalt eines Nachttopfes geflogen kam.

»Hau ab!« brüllte Cranston zurück. »Ich bin Beamter der Justiz!«

»Von mir aus kannst du der König selbst sein!« erwiderte die Stimme, aber man hörte, wie das Fenster zugeschlagen wurde, und Cranston hämmerte weiter an die Tür.

Endlich wurde seine Hartnäckigkeit belohnt. Sie hörten Schritte, die mit einer Kette gesicherte Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und das blasse Gesicht einer Magd erschien gespenstisch im Kerzenschein.

»Wer ist da?« fragte sie. »Was gibt es? Habt Ihr Nachricht von meinem Herrn?«

»Mach auf«, sagte Cranston. »Sei ein braves Mädchen. Ich bin der Coroner der Stadt, und dies ist Bruder Athelstan. Wir haben mit deinem Herrn zu reden.«

Die Kette wurde gelöst, und die in einen Mantel gewickelte Magd trat zurück, um sie einzulassen. Der Kerzenschein im Hausflur ließ tanzende, flackernde Schattengestalten zum Leben erwachen.

»Ich will zu deinem Herrn«, wiederholte Cranston sanft.

»Sir, er ist nicht hier. Er ist heute nachmittag fortgegangen und nicht zurückgekommen.«

Athelstan schloß die Augen. »Oh Gott«, flüsterte er.

»Was ist denn?«

Ein zerzauster Junge mit schlaftrunkenem Blick und dem Antlitz eines Engels kam plötzlich aus einer Kammer in den Flur; in der Hand hielt er eine Laterne, die fast so groß war wie sein Kopf.

»Und wer bist du, Sir?« fragte ihn Cranston.

»Perrot«, sagte der Junge. »Master Sturmeys Lehrjunge.«

Er kam näher. Athelstan schätzte ihn auf dreizehn oder vierzehn Sommer, und wieder fühlte er sich an einen Engel erinnert, den Huddle in St. Erconwald an die Wand gemalt hatte.       

»Der Meister ist fort«, sagte der Junge ungerührt. »Er ist kurz nach Mittag weg und nicht zurückgekommen.«

»Und die Herrin des Hauses?«

»Die ist auch fort und kommt nicht wieder.«

»Wieso nicht?«

»Weil sie vor fünf Jahren gestorben ist.«

Athelstan grinste und zog einen Penny aus seiner Börse. Er ließ ihn durch die Luft wirbeln, und der Junge fing ihn geschickt auf.

»Und Sturmeys Sohn?«

»Der ist auch nicht da«, sagten Magd und Lehrling im Chor. »Er ist in York. In wichtigen Geschäften des Königs.«

Cranston nickte, als er die beiden feierlichen Mienen sah.

»Hört mal«, sagte er, »wir können das nicht hier erörtern. Junge, schläfst du in der Werkstatt?«

»Aye.«

»Dann laß uns da hineingehen.«

Der Junge blinzelte und schaute die Magd an; diese nickte.

»Dann kommt«, sagte Perrot. »Aber Ihr dürft nichts anfassen, sonst verprügelt mich der Meister.«

Er führte sie in einen Raum, der am Gang lag, zündete ein paar Kerzen an und zog zwei Schemel für seine unerwarteten Besucher heran. Athelstan nahm Platz und schaute sich um. Noch nie hatte er so viele Schlüssel gesehen. Sie hingen bündelweise an der Wand, dazu Metallstücke, Gußformen und Zangen. An der Wand sah er eine kleine Schmiedeesse. Es roch nach verbranntem Holz und Holzkohle, und alles war von feinem Staub bedeckt. Er schaute unter einen Tisch und sah das Bett des Lehrlings: eine Strohmatratze, ein Kissen, eine Wolldecke und einen ziemlich mitgenommenen hölzernen Reitersmann, vielleicht das Lieblingsspielzeug des Jungen.

»Möchtet Ihr Wein?« fragte die Magd und bemühte sich, älter zu erscheinen, als sie war.

»Nein, nein.« Athelstan lächelte. »Sir John rührt niemals Wein an - nicht wahr, Mylord Coroner?«

»Nein«, antwortete Cranston barsch und schaute Athelstan mit schmalen Augen an. Dann richtete er sich auf. »Ich gebe ein gutes Beispiel.«

Der Junge musterte den riesenhaften Coroner unter gesenkten Lidern und schien nur halb überzeugt.

»Wo ist dein Herr hingegangen?« fragte Cranston.

»Ich weiß nicht. Er ging einfach hinaus.«

»Und wie war er?«

»Sehr aufgeregt«, berichtete der Lehrjunge.

»Weshalb?«

»Oh, wegen der Truhe für die hohen Lords und wegen der Schlüssel.«

»Sag mal«, sagte Cranston, beugte sich vor und versuchte, den Weinschlauch unter seinem Mantel zu verbergen. »Hast du deinem Meister geholfen, die Truhe zu machen, die Schlösser und die Schlüssel?«

»Oh ja.«

»Und wie viele Schlüssel hat er gemacht?«

»Sechs.«

»Nicht mehr - für den Fall, daß mal einer verlorengeht?«

»Oh nein. Mein Meister hat gesagt, das sei verboten.«

»War denn Besuch in der Werkstatt?« fragte Athelstan. »Jemand Geheimnisvolles in Mantel und Kapuze vielleicht?«

»Nein.« Der Junge lachte. »Weshalb?«

Sein Blick war flackernd, und er schlug die Augen nieder. Du verbirgst uns etwas, dachte Athelstan, aber es hat nichts mit dieser Sache zu tun.

»Und wer von den hohen Herren war hier?«

»Na, gestern kamen sie alle«, sagte Perrot. »Mit ihren Mänteln, Stiefeln und Biberpelzmützen war das ganze Haus voll. Sie mußten Truhe und Schlüssel zum Rathaus bringen. Draußen waren Soldaten mit einem Karren.«

»Ja«, fuhr Athelstan fort, »aber bevor dein Meister die Schlüssel und die Schlösser fertig hatte, hat ihn da einer der hohen Herren allein besucht?«

»Ich glaube nicht«, antwortete der Junge. »Ich wohne und schlafe hier. Der Meister bringt seine Besucher immer her, wenn er nicht gerade im Garten arbeitet. Da geht er gern allein hin. Er sagt, er liebt die Abwechslung.«

»Aber er hatte Besuch?« Athelstan blieb hartnäckig.

»Zwei große, dicke Kerle«, antwortete der Junge. »Der Bürgermeister und der Sheriff. Die kamen in den letzten Wochen ein paarmal zusammen und wollten sehen, ob mein Meister seine Arbeit tat.«

»Sonst niemand?«

»Nein, Pater.«

Athelstan sah die junge Magd an, die neben dem Jungen stand. »Und ihr habt beide nichts Geheimnisvolles oder Ungewöhnliches gesehen?«

Sie schüttelten den Kopf.

»Was ist aus den Gußformen geworden?« Cranston scharrte mit den Füßen. »In denen die Schlüssel gegossen wurden.«

»Die wurden vernichtet«, erklärte der Junge stolz. »Als die hohen Herren kamen, um Truhe und Schlüssel abzuholen, standen sie da und schauten zu, wie ich sie mit dem Hammer zerschlug.«

Cranston schaute Athelstan an, und der schüttelte den Kopf.

Der Coroner erhob sich schwerfällig, reckte sich und gähnte. Dann fischte er zwei Pennies aus der Tasche und gab sie dem Jungen und dem Mächen.

»Sehr gut«, brummte er. »Aber wenn euer Meister zurückkommt, dann sagt ihm, er soll zu Sir John Cranstons Haus in der Cheapside kommen. Ich muß mit ihm sprechen.«

Die Magd und der Lehrling nickten.

Cranston und Athelstan gingen wieder hinaus in die Lawrence Lane und hinunter zur Ecke Mercery.

»Ihr wißt, daß er niemals zurückkommen wird, Sir John?«

Cranston blies die Wangen auf. »Aye. Morgen werde ich die Behörden anweisen, unter den Töten, die in der Stadt aufgefunden werden, nach ihm zu suchen.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Bruder, du kannst gern heute bei mir übernachten.«

Athelstan schaute hinauf zum sternklaren Himmel. »Danke, Sir John, aber ich muß zurück.«

Er sah Cranston nach, der ihm einen Abschiedsgruß zubrüllte, wie ein mächtiger Bär die Cheapside hinaufschlurfte und sich plötzlich umdrehte.

»Bruder, ich begleite dich noch zur Brücke!«

»Nein, nein, auf keinen Fall, Sir John. Mir passiert schon nichts. Wer wird einen armen Ordensbruder überfallen?«

Cranston sah den Priester die Mercery überqueren und die Budge Row hinuntergehen.

»Aye!« murrte er. »Wer wird einen armen Ordensbruder überfallen? Die Stadt ist voll von Mistkerlen, die so etwas tun!«

Er wartete, bis Athelstan außer Sicht war, und folgte ihm dann durch die Budge Row, den Walbrook hinunter in die Ropery und zur Bridge Street. Am anderen Ende standen die Wachen in einem Lichtkreis an der Zufahrt zur Brücke; sie hatten ihre Fackeln auf Stangen gesteckt. Cranston hörte ihre Stimmen, als sie den Ordensbruder befragten. Einer lachte, und sie ließen Athelstan durch. Der Coroner seufzte erleichtert, aber er spitzte noch einmal die Ohren, als er hinter sich leise Schritte hörte.

»Also, ihr Nachtvögel«, knurrte er über die Schulter, »ich bin Old John, der Coroner der Stadt. Wenn ihr euch nicht verpißt, hänge ich euch eure Eier um den Hals.« Als er sich umdrehte, war die Straße leer. Breitbeinig stellte sich Cranston über die Gosse, um sich zu erleichtern, und als er beendet hatte, was er sein »devoir« nannte, schloß er den Hosenlatz und schmatzte. Er schlug das Kreuz und nahm einen großzügigen Schluck aus seinem wunderbaren Weinschlauch. Dann fielen ihm die beiden Hunde Gog und Magog ein, und er fragte sich, was Lady Maude wohl von ihnen halten würde. Er stöhnte und beschloß, daß ein zweiter großzügiger Schluck nicht schaden könne.

*

Athelstan saß an seinem Tisch im kleinen Pfarrhaus gegenüber der Kirche von St. Erconwald in Southwark. Bei seiner Rückkehr hatte er alles in guter Ordnung gefunden. Die Kirchtür war verschlossen, und jemand hatte einen kleinen Topf Honig in eine Mauernische gestellt - offenbar ein Geschenk von einem seiner Pfarrkinder. Sein altes Pferd Philomel lag auf der Seite und atmete schwer durch geblähte Nüstern, als träumte es von seiner früheren Glorie als vollblütiges Schlachtroß in den Kriegen des alten Königs. Athelstan blieb eine Weile in der Stalltür stehen und redete mit ihm, aber der alte Gaul schnarchte weiter, und der Bruder setzte seinen Rundgang über das kleine Kirchengelände fort. In seinem Garten war, soweit er sehen konnte, alles in Ordnung. Bonaventura, der große Mauser, dieser einäugige Prinz der Gassen, war offenbar unterwegs zu nächtlichem Liebeswerben oder auf der Jagd.

Jetzt schaute sich Athelstan in der kärglichen Küche um. Die Wände waren zum Schutz vor den Fliegen frisch gekälkt. Er schloß die Augen und roch den Duft der Kräuter, die mit den frischen grünen Bingen auf dem Boden verstreut lagen. Dann warf er einen Blick auf den Kessel über dem Feuer. Er erhob sich halb, um zu sehen, ob die Hafergrütze, die er kochte, nicht zu dick oder zu klumpig wurde. Seufzend ging er in die Speisekammer und holte einen Krug Milch. Sie roch noch frisch, und so goß er sie in den Kessel und rührte die Grütze sorgfaltig um, ganz so, wie Benedicta es ihm eingeschärft hatte.

»Wenn ich doch kochen könnte«, murmelte er.

Einmal hatte er Cranston zum Frühstück bewirtet, und der Coroner hatte geschworen, daß Athelstans Hafergrütze, wenn man sie mit einem Katapult schleuderte, jede Stadtmauer einreißen könnte. Er trug den Krug zurück in die Speisekammer, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und trat an seinen Tisch, der mit Pergamenten übersät war. Jedes Fetzchen Pergament war mit den Einzelheiten eines Mordes beschrieben.

»Was haben wir denn hier?« fragte Athelstan spielerisch. »Wie hat Rosamund Ingham Sir Johns Freund Sir Oliver getötet? Keine Spuren von Gewalt. Kein Hinweis auf Gift.« Er rieb sich die Wange. »Wurde der Mann überhaupt ermordet? Oder war Cranston nur wütend, weil er mitansehen mußte, wie sein alter Freund zum Hahnrei gemacht wurde?«

Aber nein, dachte er, trotz seines buschigen weißen Schnurrbarts, des roten Gesichts, des mächtigen Glatzkopfes und des noch größeren Bauches war Cranston schlau und verschlagen wie eine Schlange. Sir John hatte einen Riecher für Missetaten; wenn er glaubte, daß ein Verbrechen begangen worden war, dann hatte er meistens recht.

Athelstan nahm ein anderes Stück Pergament zur Hand und studierte seine Skizze vom Rathausgarten, wo Mountjoy ermordet worden war. »Wie um alles in der Welt …?‹‹ murmelte er. Auf der einen Seite befand sich der hohe Spalierzaun, an dem der Sheriff gelehnt hatte, zu seiner Linken eine kahle Mauer, zur Rechten der von den Hunden bewachte Gartenzaun und vor ihm der Holzzaun des Ganges zwischen Rathaus und Küche. Wie hatte der Täter in einen derart umschlossenen Raum eindringen und den stämmigen Mountjoy erstechen können, ohne daß der Sheriff oder seine furchterregenden Hunde Krach geschlagen hatten?

Und schließlich war da noch Fitzroy, getötet von unsichtbarer Hand. Wer konnte Gift verabreichen, ohne zu offenbaren, wie? Wer war dieser Ira Dei? Wer von diesen mächtigen Politikern war der Verräter?       

Athelstan schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Rechnungsbüchern seiner Gemeinde zu. Er war müde, aber nach seiner Rückkehr aus der Stadt hatte er nur ein paar Stunden geschlafen, bevor er aufgestanden war und oben in seiner kleinen Schlafkammer bei Kerzenlicht seine Gebete verrichtet hatte; dann hatte er sich gewaschen und angekleidet. Er zog die Rechnungsbücher herüber. Er hatte Mord, Intrigen und Geheimnisse satt, und die Bücher mußten abgeschlossen werden, bevor er an St. Michaelis mit dem Gemeinderat zusammenkam.

Athelstan nagte an seinem Federkiel. Der Machtkampf in seinem kleinen Gemeinderat tobte genauso wild wie der der Gildeherren. Watkin, der Mistsammler, Mugwort, der Glöckner, Tab, der Kesselflicker, der Maler Huddle, Ursula, die Schweinehirtin, Cecily, die Kurtisane, und Tiptoe, der Schankbursche aus der Taverne zum Gescheckten, wehrten immer noch eine erbitterte Attacke ab, die von Pike, dem Grabenbauer angeführt wurde. Auf der Seite des letzteren standen Jacob Arveid, ein freundlich blickender Deutscher mit einer hübschen Frau und einer Schar von Kindern, Clement aus der Cock Lane, die Flamin Pemel und Ranulf, der Rattenlanger. Athelstan und die Witwe Benedicta bemühten sich, währenddessen den Frieden zu erhalten.

Benedicta … da stand sie vor seinem geistigen Auge; ihr kohlschwarzes Haar umrahmte ein glattes, olivfarbenes Antlitz, das dem Maler Huddle immer als Modell für die Jungfrau Maria diente.

Athelstan starrte in die hungrigen Flammen des Feuers und dachte an Pater Pauls Warnung: »Vergiß niemals: Nicht das körperliche Verlangen nach einem Weibe wird dich heimsuchen, sondern die blanke, leere Einsamkeit, der bittersüße Geschmack der Sehnsucht nach jemandem, den du niemals besitzen kannst.« Er zuckte zusammen, als eine dunkle Gestalt zum Fenster hereinschlüpfte.

»Ah, guten Morgen, Bonaventura, mein treuestes Pfarrkind.«

Der große Kater tappte leise zu seinem Herrn und warf hungrige Blicke auf die Hafergrütze, die über dem Feuer blubberte. Athelstan stand auf und holte ihm ein Schäfchen Milch aus der Speisekammer. Der Kater schleckte sie zierlich auf und machte es sich dann vor dem Feuer gemütlich, während sein Herr sich weiter über seine geplagten Pfarrkinder Gedanken machte. Er brauchte Frieden im Gemeinderat, vor allem, wenn er Watkins Töchter und den Sohn von Pike, dem Grabenbauer, trauen sollte.

»Oh Gott!« sagte er zu dem inzwischen dösenden Bonaventura. »Das wird sein, als fahre der Fuchs unter die Hühner!«

Bonaventura bewegte träge den Kopf; das eine gesunde bernsteingelbe Auge blickte seinen Herrn voller Mitgefühl an. Athelstan zog die Kontobücher näher zu sich heran. Er fragte sich, ob die Frau mit der besessenen Stieftochter noch einmal gekommen war, und ihn schauderte bei dem Gedanken, was ihn dort erwarten mochte. Er hustete, tauchte den Federkiel ins Tintenfaß und begann, die Spalten auszufüllen; er trug ein, was er für die Ausschmückung der Kirche ausgegeben hatte, nachdem der Altarraum mit neuen Platten ausgelegt worden war.

 

- die Zehn Gebote ausgebessert 3 s

- den Pontius Pilatus gefirnißt und einen neuen Vorderzahn eingesetzt 5d

- den Himmel erneuert, die Sternbilder berichtigt & den Mond geputzt 20s

- den Sohn des Tobias gesäubert 4s 6d

- die Flammen der Hölle aufgehellt, dem Teufel ein neues linkes Horn gemacht & den Schwanz gereinigt 3s

- Ausgaben für die Verdammten 2s 6d

- dem Jonas eine neues Hemd gemalt & den Rachen des Wales entsprechend vergrößert 10s 6d

- für Adam und Eva neue Feigenblätter gemacht 15s 

Athelstan betrachtete seine Liste und lächelte. Gerade wollte er weiterschreiben, als es plötzlich leise an der Tür klopfte. Er stand auf, öffnete und schaute hinaus. Es war die Zeit der Schlaflosen, kurz vor dem Morgengrauen: Der Himmel wurde allmählich hell, und die Schatten begannen zu verschwinden.

»Wer ist da?« rief er und schaute sich um. Für Kinderstreiche war es noch zu früh. »Wer ist da?« wiederholte Athelstan. Nur der Wind, der an einem losen Fensterladen an der Kirche rüttelte, störte die Stille. Athelstans Nackenhaare sträubten sich. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er starrte auf den Weg neben der Kirche. War es irgendein Gauner? Ein Betrunkener aus den Bordellen von Southwark? Plötzlich sah er, daß die kleine Pforte zur Kirche halb offen stand. Er packte den Knüppel, den Cranston ihm gegeben hatte, und ging darauf zu.

»Bruder Athelstan!«

Die Stimme schien hinter der Kirche hervorzukommen, und wachsam ging der Ordensbruder um die Ecke, gefolgt von einem noch neugierigeren Bonaventura. Wieder rief die Stimme seinen Namen, und Athelstan spähte über die Grabsteine hinweg.

»Wer ist da?« rief er erbost. »Hier ist kein Spielplatz, sondern ein Gotteshaus und ein Gottesacker.«

»Dreh dich um, Bruder Athelstan!«

»Warum sollte ich?«

Ein Armbrustbolzen schlug neben seinem Kopf in die Kirchenmauer.

»Du hast mich überzeugt«, rief Athelstan und drehte sich um; er schloß die Augen und ballte die Faust. »Was willst du?«

»Ich bringe eine Botschaft vom Zorn Gottes. Du bist ein Ordensmann und ein Priester des Volkes. Was machst du dich gemein mit den fetten Lords der Erde?«

»Wenn du der Zorn Gottes bist«, spie Athelstan, »dann bin ich Seine Gerechtigkeit!« 

»Hüte dich vor Seinem Zorn«, sagte die Stimme klar und deutlich.

Athelstan schaute Bonaventura an, dem dieses neue Spiel zu gefallen schien.

»Cranston hat recht«, flüsterte er ihm zu. »Du taugst wirklich zu gar nichts.«

»Hüte dich«, wiederholte die Stimme.

Endlich brach sich Athelstans feuriges Temperament Bahn. »Ach, mach doch, daß du wegkommst!« rief er, stapfte den Weg an der Kirche entlang zurück zu seinem Haus und schlug die Tür dröhnend hinter sich zu.

Eine Zeitlang stand er mit dem Rücken zur Tür und bemühte sich, seine zitternden Knie zu beruhigen. Wer wagte es, ihn hier zu verhöhnen? Was würde Cranston tun, wenn er das erfuhr? Athelstan marschierte in die Speisekammer, goß einen Becher Wein ein und stürzte ihn hinunter, bevor er sich wieder an den Tisch setzte.

»Gottverdammt!« flüsterte er. Er klappte das Rechnungsbuch zu, räumte die übrigen Manuskripte beiseite und trug alles zu der großen, eisenbeschlagenen Truhe. Während er die Papiere hineinlegte und den Schlüssel im Schloß drehte, mußte er an den waghalsigen Raub im Rathaus denken. Hoffentlich war Sturmey noch am Leben. Wenn Cranston und er den Dieb fänden, würden sie auch den Mörder ausfindig machen. Er fuhr zusammen, als es laut an der Tür klopfte.

»Pater! Pater!«

Athelstan ging zur Tür und öffnete. Draußen stand Ursula, die Schweinehirtin; ihr sonst so heiteres rotes Warzengesicht war tränenüberströmt.

»Oh, Ursula«, sagte Athelstan. »Doch nicht etwa deine Sau? Ich kann nicht schon wieder kommen und sie segnen.«

»Nein, nein, Pater, es geht um meine Mutter. Sie stirbt!«

»Bist du sicher?« fragte Athelstan. »Ich habe Griselda schon mindestens dreimal die Letzte Ölung gespendet«

»Nein, Pater, sie sagt, sie stirbt. Sie kann es fühlen.«

»Dann komm.«

Athelstan schloß die Haustür und eilte hinüber zur Kirche. Drinnen war es kühl und dunkel und duftete nach Kerzentalg und Weihrauch. Das erste Morgenlicht beleuchtete Huddles Bilder an den Wänden, als Athelstan durch den Lettner in den Chor eilte. Er beugte das Knie und öffnete die Tabernakeltür, um das Viaticum und die Phiole mit dem Heiligen Ol herauszunehmen. Dann holte er Stola, Mantel, Zunder und eine Kerze aus der Sakristei und gab die Sachen Ursula, die im Vorraum der Kirche wartete. Er zündete die Kerze an, legte den Mantel um und schloß die Kirchentür ab; die Schweinehirtin beschirmte mit ihren großen, groben Händen die Kerzenflamme.

Er folgte Ursula durch die schmalen, gewundenen Gassen von Southwark zum Haus der Schweinehirtin, einer kleinen, zweigeschossigen Hütte hinter dem Kloster von St. Mary Overy. Wie immer räkelte sich die mächtige Sau, Ursulas Haustier und die Sonne ihres Lebens, vor dem Feuer, während Griselda in der anderen Ecke hinter einem Vorhang auf einem Strohsack lag, den Kopf zurückgelegt; ihre Hakennase ragte in die Luft, und ihre Augen waren halb offen. Athelstan hätte sie bereits für tot gehalten, wenn sich ihre knochige Brust nicht leise gehoben und gesenkt hätte. Athelstan hockte sich neben sie und stellte das Viaticum und das Heilige Ol auf einen dreibeinigen Schemel. Ursula blieb hinter ihm stehen und hielt die Kerze. Natürlich mußte auch die Sau sehen, was da vor sich ging, und als sie Athelstan erkannte, dessen Kohlbeet sie mit schöner Regelmäßigkeit plünderte, begann sie aufgeregt zu grunzen und zu schnüffeln.

»Ach, um Gottes willen, geh weg«, flüsterte er. »Ursula, um des lieben Herrgotts willen, gib ihr Kohl oder sonst etwas.«

»Sie ißt keinen Kohl«, versetzte Ursula knapp, packte die Sau beim Ohr und zog sie weg.

»Aye«, murmelte Athelstan bei sich. »Das verfluchte Vieh mag ihn nur, wenn er frisch ist!«

»Seid Ihr das, Pater?«

Athelstan beugte sich über die alte Frau; ihre Wangen waren eingefallen, die dicken, blutlosen Lippen geöffnet. Aber in den kleinen Knopfaugen leuchtete immer noch das Leben.

»Ja, Mutter Griselda, ich bin's, Athelstan.«

»Ihr seid ein guter Priester«, keuchte die Alte, »Ihr kommt, um die alte Griselda zu besuchen. Wollt Ihr meine Beichte hören, Pater?«

Athelstan grinste. »Wieso - was hast du denn angestellt, Mutter, seit ich sie dir das letzte Mal abgenommen habe? Wie viele junge Männer waren es diesmal?«

Die Lippen der Alten verzogen sich zu einem zahnlosen Lächeln.

»Was hast du denn Wollüstiges und Liederliches getan?« fuhr Athelstan fort und betrachtete die alte Frau. »Komm, Griselda, du hast längst deinen Frieden mit Gott geschlossen.«

Athelstan öffnete die goldene Pyxis, nahm die weiße Hostie heraus und schob sie der Sterbenden zwischen die Lippen. Dann salbte er ihr Haupt und Augen, Mund, Brust, Hände und Füße, während die Kiefer der Alten die dünne Oblate zermahlten. Endlich war er fertig. Ursula ging hinüber und schürte das kleine Feuer, und Griselda griff nach Athelstans Hand.   

»Werde ich in den Himmel kommen, Pater?«

»Natürlich.«    

»Wird mein Mann auch da sein?«

»Warum nicht?«

»Er hat die Weiber geliebt, Pater. In seiner Jugend war er schön wie die Sonne. Sein Haar war wie reifes Korn, und seine Augen blau wie der Himmel. Aber er war kein schlechter Mann, Pater, und ich habe ihn geliebt.« Sie hustete, und gelber Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel. Athelstan nahm einen Lappen und tupfte ihr behutsam die Lippen ab.

»Gott weist keinen ab«, sagte er langsam, »der geliebt hat oder geliebt wurde.«

Die Alte hustete wieder. Athelstan sah sich um.

»Ursula, einen Becher Wasser!«

Doch da fühlte er, wie die Finger, die seine Hand umfaßten, sich lösten. Er schaute hinunter. Griseldas Kopf hatte sich zur Seite gesenkt. Er tastete nach dem Pulsschlag an ihrem Hals, aber da war nichts. Er sah Ursula an, die ihm den verschrammten Becher entgegenhielt. Tränen rannen ihr über die fetten Wangen.

»Sie hat uns verlassen«, sagte er leise. »Sie ist dahin. Uns vorausgegangen.«

Er blieb noch eine Weile, um Ursula zu trösten. Seinen Protesten zum Trotz bestand sie darauf, ihm eine dicke Speckseite zu geben. Mit Mantel und Stola unter dem einen und der Speckseite unter dem anderen Arm wanderte Athelstan zurück zu seiner Kirche.

Gerade erwachte Southwark zum Leben. Die Kleinhändler und Kesselflicker rumpelten mit ihren Handkarren zur Brücke hinunter, und schwitzende, fluchende Fuhrknechte plagten sich damit, ihre Ware, die sie vom Land hereinbrachten, über den Fluß zu schaffen, bevor die großen Märkte öffneten. Vor dem Hospital von St. Thomas bettelten zwei Aussätzige in schwarzen Lumpen um Almosen, während die Bezirksbüttel und Schergen nächtliche Ruhestörer, die sie erwischt hatten, an Händen und Füßen gefesselt zum Pranger hinunterführten. Zwei Betrunkene, die aus einem oberen Fenster gepißt hatten, hatte man Rücken an Rücken aneinandergebunden und ihnen die Hosen auf die Knöchel heruntergelassen; man würde sie durch die Straßen treiben und bis zur Mittagsstunde mit Abfall bewerfen lassen; dann würde ein Freund sie losschneiden dürfen. Die Behörden hatten offenbar auch ein Bordell ausgehoben; auf einem Karren saß eine ganze Ladung aneinandergefesselter Huren mit kahlgeschorenen Köpfen und mürrischen Gesichtern, die zum Fluß hinuntergebracht wurden, um ihre Strafe in Empfang zu nehmen. Ein gelber, magerer Hund knurrte Athelstan an; zähnefletschend sprang er nach dem Speck. Athelstan scheuchte ihn davon, bog in eine Gasse ein und klopfte bei Tab, dem Kesselflicker, an.

Seine grauhaarige Frau öffnete mit besorgter Miene. Athelstan drückte ihr die Speckseite in die Hände.

»Pater«, sagte sie leise, »das kann ich nicht.«

»Doch, das kannst du.« Er deutete auf die Kinder mit den schmutzigen Gesichtern, die an ihrem zerlumpten Rock hingen. »Und sie können es ganz gewiß. Aber du darfst Ursula nichts verraten.«

Er setzte seinen Weg fort und wollte gerade an seiner Kirchtür vorbeigehen, als er das Stück Pergament sah, das dort flatterte. Athelstan las die gekritzelten Worte: 

Der Zorn Gottes wird brüllen aus den Wolken wie der Blitz.

Fluchend riß er das Blatt herunter und warf es in den Dreck; ohne auf Pikes Grüße zu achten, stapfte er wütend zu seinem Haus.