Drei

»Lady Maude wird mich umbringen!« murmelte Sir John. Er saß mit Athelstan auf einer Gartenbank und schaute zu, wie die beiden großen Wolfshunde, die dem Cranston'schen Haushalt bereits eine Heidenangst eingejagt hatten, im Garten herumtollten. Ab und zu kamen sie gerannt, legten dem Coroner die großen Pfoten auf die fetten Beine und leckte ihm das Gesicht, bis der Garten von Cranstons wüstesten Flüchen widerhallte.

Boscombe hatte keine zweite Einladung gebraucht; er hatte seine kläglichen Habseligkeiten in ein Bündel geschnürt und war Sir John nach Hause gefolgt. Jetzt stand er in der Haustür, gewaschen, umgezogen und mit einem vollen Becher Rotwein in der Hand.

»Guter Mann! Braver Mann!« brummte Cranston. »Du stehst bereits hoch in meiner Gunst.« Er hob einen runden Zeigefinger und schaute seinen neuen Diener an. »Fünf Dinge sind mir wichtig«, knurrte er. »Erstens: Lady Maude. Ihr muß immer und überall gehorcht werden. Zweitens: Die Sorge um meine Söhne, die beiden Kerlchen. Drittens: Bruder Athelstan hier, mein Freund.« Sanft klopfte er dem Ordensbruder auf die Schulter. »Viertens: Mein Arbeitszimmer, in dem ich meine große Abhandlung aufbewahre, ist mein Heiligtum. Und fünftens: Mein Weinschlauch. Genau gesagt, gibt es zwei. Der eine hängt hinter der Tür zur Speisekammer, der andere in meiner Kammer. Sie müssen jederzeit gefüllt sein, aber Lady Maude darf niemals erfahren, daß es zwei gibt.« 

»Selbstverständlich, Sir John.« Boscombe verschwand so lautlos, wie er gekommen war.

Cranston nahm einen Schluck Wein. »Er wird sich machen«, stellte er fest. »Aber was ist mit den verdammten Hunden, hm? Beim Sack des Satans, Athelstan, die sehen aus, als könnten sie die Kerlchen und Lady Maude mit einem Bissen verschlingen.«    

Athelstan nagte an der Unterlippe. Er sah Sir Johns Problem, aber nicht den Schimmer einer Lösung.

»Das alles wird davon abhängen«, sagte er langsam, »wie Lady Maude entscheidet, Sir John.« Er verbiß sich das Lachen. »Wenn Ihr Glück habt, setzt sie die beiden Hunde vor die Tür. Aber wenn sie wütend ist, müßt Ihr vielleicht mit.«

Cranston rülpste. Die beiden Hunde drehten sich um und schauten ihn an.

»Bei den Zähnen der Hölle, Jungs«, rief Cranston ihnen zu, »wie soll ich euch denn nennen? Wißt ihr, daß dieser erbärmliche Dreckskerl Mountjoy, möge Gott ihn verfaulen lassen, sich nicht mal die Mühe gemacht hat, euch Namen zu geben? Na, ich habe mir zwei einfallen lassen: Der mit dem blauen Halsband wird Gog heißen, und der mit dem roten Magog.«

Die beiden Hunde fanden offenbar, es sei an der Zeit, ihrem neuen Herrn wieder einmal zu danken, denn sie kamen auf ihn zugesprungen. Athelstans Herz tat einen angstvollen Satz, aber Cranston hob die Hand, und die beiden Hunde legten sich hechelnd vor ihn und ließen sein fettes, rotes Gesicht nicht aus den Augen.

»Woher habt Ihr dieses Talent mit Hunden? Die würden Euch aus der Hand fressen«, meinte Athelstan und zog vorsichtig die Füße unter die Bank.

»Schon als Dreikäsehoch habe ich mich mit Hunden gut verstanden«, sagte Cranston. »Mein Vater war ein harter Mann. Wenn ich etwas falsch gemacht hatte, sperrte er mich in den Hundezwinger.« Wie immer widerstrebte es ihm, über seine Jugend zu sprechen, und er deutete auf das Schreibzeug auf dem Tisch vor Athelstan. »Aber das ist nicht so schwierig wie dieses Problem, was?«

Athelstan nahm die grobe Zeichnung des Rathausgartens zur Hand. »Wie …?« murmelte er, während Cranston ihm geräuschvoll ins Ohr atmete. »Wie konnte dieser Mord geschehen?«

»Was kümmert uns das?« grollte der Coroner. »Überlegen wir lieber, wer es war. Bei den Zitzen der Hölle!« knurrte er und beantwortete sich seine Frage gleich selbst. »Der Möglichkeiten sind Legion, und auch diese Hurensöhne und Hosenlätze kommen in Frage, die ein schönes Halsband aus Hanf mehr als verdient haben!«

Athelstan starrte den Coroner an. »Ich wußte nicht, daß sie Euch so wichtig sind, Sir John.«

Cranston redete sich in Rage. »Sie sind eine Bande von miesen, runzligen, doppelzüngigen, angemalten Scheißhaufen!« Er schob Athelstans Pergament beiseite und zerkrümelte die Reste eines Stücks Brot, an dem er geknabbert hatte. »Heute nachmittag im Rathaus, mein lieber Mönch …«

»Ordensbruder, Sir John.«

»Ist doch dasselbe«, murmelte er. »Heute nachmittag haben wir die wunderbarste Sammlung von Gaunern kennengelernt, die je dieses Königreich zierten.« Cranston legte ein Stück Brot auf den Tisch. »Da haben wir die Gildemeister, die Handlanger des Teufels. Voll öliger Schmiere - wenn man eine Fackel dranhält, brennen sie ewig. Sie hassen einander und verabscheuen die Krone, und jeder von ihnen würde London nur gar zu gern regieren. Jeder einzelne könnte Mountjoy ermordet haben - oder alle zusammen!

Und zweitens« - wieder legte er ein Stück Brot auf den Tisch - »haben wir Gaunts Partei. Gott allein weiß, was dieser durchtriebene Fürst im Schilde führt. Vielleicht will er die Krone, vielleicht auch nur ihr Herr sein. Er will den Londoner Pöbel beherrschen, und dazu braucht er das Gold der Gildemeister. Und als nächstes« - ein drittes Stück Brot erschien - »haben wir die Partei des Königs. Unser junger Prinz ist noch nicht volljährig, aber seine Anhänger, Hussey zum Beispiel, würden nur zu gern die Macht des Regenten brechen und sich an seine Stelle setzen. Außerdem haben wir die Große Gemeinschaft des Reiches, die Bauernführer mit ihrem geheimen Rat und dem mysteriösen Anführer, der sich Ira Dei nennt. Und schließlich noch das Unbekannte: Wurde Mountjoy vielleicht aus persönlichen und nicht aus politischen Motiven ermordet?«

Cranston senkte die Stimme. »Wer weiß? Es könnte Boscombe gewesen sein oder jeder andere aus London. Ich wette, wenn du eine Versammlung derer einberufst, die den Sheriff gehaßt haben, dann gibt es in der St.-Paul-Kathedrale keine Stehplätze mehr, und die Warteschlange derer, die hineinwollen, würde bis zur Themse hinunterreichen.«

»Aber, Sir John, auf der Messerklinge stand der Name Ira Dei.«

»Aber, aber, mein schlauer Ordensbruder!« dröhnte Sir John. »Spiel mir nicht den Unschuldsengel. Bestimmt tauchte irgend so ein Mörder auf, als all diese Honoratioren im Rathaus versammelt waren, und fragte nach dem Weg zum Sheriff, damit er ihn umbringen könnte! Es liegt doch auf der Hand«, stellte er fest und richtete sich auf. Sein weißer Schnurrbart zitterte. »Ich spreche nur laut aus, was diese scheinheilige Bande von Schweinehunden insgeheim weiß: Der Mörder war bereits im Rathaus. Weder der Regent noch dieser Fettkloß Goodman hat gesagt, daß ein Fremder in ihrem vermaledeiten Rathaus gesehen wurde.«

Athelstan grinste. »Concedo, oh Aufmerksamster unter den Coroners. Die Sache wird also um so verzwickter?«

»Natürlich.« Cranston nahm die Brotstücke vom Tisch. »Und was ist«, überlegte er, »wenn es ein Bündnis zwischen all diesen Gruppen gibt? Eine unheilige Verbindung wie zwischen Pilatus und Herodes?«

»Wenn das der Fall ist«, sagte Athelstan, »dann haben wir es mit einer Serie von komplexen Verstrickungen zu tun, die sich jeder logischen Analyse widersetzt. Die Gildemeister sind vielleicht nicht einig. Vielleicht sind sie unentschlossen, vielleicht sogar tückisch, und machen sowohl Gaunt als auch der Bauernpartei den Hof.«

»Oder, schlimmer noch«, erwog Cranston, »die Gildemeister könnten Gaunt, dem König und den Bauern den Hof machen.« Er wedelte die Patschhand. »Vielleicht ist nur einer der Gildemeister ein Verräter. Oder hat Gaunt den Mountjoy umbringen lassen, weil er der einzige Wurm an ihrer Rose war?«

Athelstan hob die Hände. »Ich stimme Euch zu, Sir John. Wie Sir Gerard ermordet wurde, ist ein Geheimnis. Wer ihn ermordet hat… nun, es könnte jeder gewesen sein. Also bleibt uns die Frage: Warum?«

»Und die haben wir schon beantwortet.« Cranston stand auf, klopfte sich mit der flachen Hand auf den Bauch und strahlte seinen Schreiber an. »Vielleicht hat Sir Gerard dem Regenten zuviel Schwierigkeiten gemacht? Eines wissen wir jedenfalls. In diesem Spiel geht es um Macht, und der Sieger wird König im Schloß und kann zusehen, wie seine Feinde vernichtet werden. Ich kann nur sagen: Wir dürfen niemandem trauen.«

»Ich glaube folgendes«, sagte Athelstan. »Da der Mord just an dem Tag geschehen ist, als Gaunt seine Allianz mit der Stadt besiegeln wollte, muß ich daraus schließen, daß Sir Gerards Tod nicht auf eine Privatfehde zurückzuführen ist, sondern diese Allianz zerstören und die Saat der Zwietracht und des Mißtrauens säen soll. In diesem Fall…«

»In diesem Fall - was?«

»In diesem Fall, teurer Coroner, wird es, ehe wir beide sehr viel älter sind, noch einen Mord geben.«

Cranston fluchte leise, fegte die letzten Brotreste vom Tisch und schaute zu, wie Gog und Magog langsam herankamen, um zu sehen, was ihr Herr ihnen da anbot. Die Glocken von St. Mary Le Bow begannen zu läuten. Sir John blickte zum Himmel; es wurde dunkler.

»Komm, Bruder. Wir sind zum Bankett des Regenten im Rathaus eingeladen.«

»Sir John, ich sollte in meine Pfarrei zurück.«

Cranston grinste. »Bei den Zitzen des Teufels! Der Regent hat dich eingeladen, und du mußt hin!«

Cranston ging ins Haus und brüllte nach Boscombe. Athelstan wusch sich an einer Wasserschüssel in der Spülküche. Unterdessen stieg Sir John in seine Kammer hinauf, kleidete sich in ein Gewand aus braunrotem Sarsenett mit goldenen Tressen und wechselte seine Stiefel gegen ein Paar höfischere, prächtigere. Als er in die Küche kam, glänzte sein rotes Gesicht, und er duftete süß wie eine Rose von dem Balsam, mit dem er sich Hände und Wangen eingerieben hatte.

»Sir John, Ihr seht vom Scheitel bis zur Sohle aus wie der Lord Coroner.« Athelstan blickte an seiner staubigen Kutte hinunter. »Ich fürchte, ich habe nichts Sauberes anzuziehen.«

»Du siehst aus wie das, was du bist«, gab Cranston zurück und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Wie ein armer Priester, ein Mann Gottes, ein Diener Christi. Glaub mir, Athelstan, du kannst einen Hundeköttel in ein Stück Brokat wickeln, aber ein Hundeköttel bleibt es trotzdem.«

Und mit diesem kernigen Stück hausgemachter Weisheit wandte Cranston sich ab, brüllte den Mägden etwas zu, gab Boscombe Anweisungen wegen der Hunde, holte seinen wunderbaren Weinschlauch und marschierte den Korridor hinunter. Athelstan eilte ihm nach, und Sir John öffnete die Haustür.

»Oh, hau ab!« brüllte er den rothaarigen, einbeinigen Bettler Leif an, der am Türrahmen lehnte, das schäbige Bettelbrett um den Hals gehängt. Leif sah aus, als wolle er im nächsten Augenblick vor Erschöpfung und Hunger zusammenbrechen, aber Athelstan wußte, daß er ein vollendeter Schauspieler war, der ebenso herzhaft aß und trank wie Sir John.

»Oh«, winselte Leif, »mein Bauch ist leer.«

»Dann paßt er ja zu deinem Kopf!«

»Sir John, eine Brotkrume, einen Becher Wasser?«

»Den Teufel!« brüllte Cranston. »Du hast schon mein Abendessen aufgefressen! Du bist ein gieriger, magerer Gauner, Leif.«

»Sir John, ich bin ein armer Mann.«

»Ach, geh schon hinein«, knurrte Cranston. »Geh zu Boscombe; er ist mein neuer Dienstmann. Nein, ich hab's mir anders überlegt. Boscombe!«

Der kleine Kerl erschien, lautlos wie ein Schatten.

»Das ist Leif«, sagte Cranston. »Er wird mich mit seiner Freßgier noch um Haus und Hof bringen. Gib ihm Wein - aber nicht von meinem Roten. Brot ist da und Suppe, und Lady Maude hat eine Pastete in der Speisekammer.«

»Oh, ich danke Euch, Sir John.« Behende wie ein Eichhörnchen hoppelte Leif in den Hausflur.   

»Ach, übrigens…« Cranston lächelte boshaft. »Leif, mein Freund, geh in den Garten. Ich habe zwei neue Gäste, die dich gern kennenlernen wollen.« Er schlug die Tür hinter sich zu und ging leise lachend die Cheapside hinunter.

»Sir John, war das vernünftig?«

»Oh, mach dir nur keine Sorgen um Leif, Athelstan«, rief Cranston über die Schulter. »Der ist flink wie ein Floh und kann schneller rennen als du oder ich. Und hat es auch schon oft getan«, fügte er hinzu.    

Abgesehen von den Müllkarren, den Straßenkehrern und vereinzelten, safrangelb gekleideten Huren, die sich an den Wirtshaustüren herumtrieben, lag die Cheapside jetzt verlassen da. Sowie es erst dunkel war, würden sie und das übrige Stadtgesindel, lärmende Burschen und das, was Cranston als »das Nachtgelichter« bezeichnete, ihre Anwesenheit spürbar machen.

Als sie am Rathaus ankamen, war das ganze Gebäude von königlichen Bogenschützen und Gardesoldaten umstellt. Cranston schrie seinen Namen und drängte sich an ihnen vorbei, die Treppe hinauf und in den Audienzsaal, wo Lord Adam Clifford sie erwartete.

Das Gesicht des jungen Höflings verzog sich zu einem aufrichtigen Lächeln. »Sir John, Bruder Athelstan.« Er drückte ihnen warm die Hand. »Ihr seid mir höchst willkommen.«

Cranston warf einen Blick auf die schlichte Lederjacke des jungen Edelmannes, die wollene Hose und die hochhackigen Lederreitstiefel.

»Aber Mylord, kommt Ihr denn nicht auch zum Bankett?«

Der junge Mann zog eine Grimasse. »Der Lord Regent hat andere Aufgaben für mich.«

Athelstan sah am Blick des jungen Mannes, daß dieser sich nicht gern wegschicken ließ.

»Ihr seid der letzte Gast, Sir John«, flüsterte er drängend. »Gleich wird der König kommen, und dann beginnt das Bankett. Beeilt Euch lieber!«

Clifford übergab sie einem livrierten Diener, der sie die Treppe hinauf und durch mehrere Korridore führte, die von flackernden Fackeln erhellt waren. Gleichwohl spürte Athelstan allenthalben Unbehagen: Überall sah man Bogenschützen, entweder mit dem weißen Hirschen, dem persönlichen Wappen des Königs, oder mit Gaunts drohendem Löwen auf ihrer Livree.

»Lord Adam scheint mir ein kluger Kopf zu sein«, bemerkte Athelstan.

»Ein guter Apfel in einem Faß voll fauler«, flüsterte Cranston aus dem Mundwinkel. »Er kommt aus dem Norden und hat seine Geschicke mit Gaunts Stern verbunden. Ich hoffe, daß das klug war. Wenn der Regent stürzt, stürzt er mit.«

Endlich erreichten sie den Rosensaal, die luxuriöse, wenn auch kleine private Banketthalle des Rathauses. Der Diener führte sie hinein, und Athelstan und Cranston mußten blinzeln, als ihnen Hunderte von Kerzen entgegenfunkelten. Die anderen Gäste saßen bereits; sie achteten kaum auf die Neuankömmlinge und tuschelten miteinander, während ein Mundschenk Cranston und Athelstan zu ihren Plätzen führte.

»Ein sehr vornehmer Ort«, flüsterte der Ordensbruder.

»Vergiß nicht, Bruder«, murmelte Cranston, als sie sich setzten, »heute abend speisen wir mit einem Mörder!«