3.
»Sieht irgendwie gut aus, das Ding«, stellte Galgan Maresch fest.
Hans Halsen sah seinen Kommandanten schräg an. Halsens Gestalt und sein Sinn für Humor waren gleichermaßen mager ausgefallen; er galt für seine 165 Zentimeter als auffällig dürr und ebenso übellaunig. Immerhin leistete er als Hyperphysiker und Kosmostratege genug, um sich an Bord des TSUNAMI-36 behaupten zu können.
»Es ist geometrisch, mehr wissen wir nicht über das Ding«, bemerkte Halsen trocken. »Zur Verzückung besteht einstweilen kein Grund.«
Das eigentümliche Gebilde, das da im Weltraum hing, zeichnete sich auf den Schirmen mittlerweile deutlich ab: ein riesenhaftes Y, schätzungsweise zwanzig Kilometer lang, und das war für ein vermutlich künstliches Objekt schon eine erhebliche Ausdehnung. Keiner der Besatzung hatte jemals etwas Ähnliches gesehen.
»Sieht aus wie eine Weiche«, stellte Halsen nach einigen Augenblicken fest.
Es war ruhig in der Zentrale der T-36; das Ding auf den Schirmen rief ungute Empfindungen hervor. Nur langsam näherten sich die beiden TSUNAMIS dem Gebilde, das mit annähernd achttausend Kilometern in der Stunde durch den Raum trieb.
Ein Ausruf von der Ortung: »Der Massetaster zeigt plötzlich hohe Werte – obwohl sich dort drüben nichts Erkennbares tut.«
Die Messergebnisse erschienen in einem Abschnitt des Panoramaholos. Absurde Werte. Kurz darauf schimmerte das Abbild der Weiche in allen Regenbogenfarben. Auch das war schwerlich als normal zu bezeichnen.
»Wahrscheinlich eine Folge der Entladungen.« Halsen deutete auf die Schenkel des Y. Momentan hatte es den Anschein, als sei das Material der Weiche dort ausgefranst und rage in ein leuchtendes Medium hinein, das sich jeder weiteren Analyse entzog. Ein strahlender Nebel breitete sich aus, in dem Energiegewitter zu toben schienen. Tatsächlich zeigten die Kontrollen zum Teil heftige Entladungen.
»Wie nahe wollen wir herangehen?«, fragte Beryll Fhance.
»Einen Sicherheitsabstand sollten wir halten«, schlug Halsen vor. »Vor allem dürfen wir nicht den Verdacht erregen, als meinten wir unsere Annäherung aggressiv. Das könnte nie wiedergutzumachende Missverständnisse zur Folge haben.«
Der Ertruser Maresch führte das Schiff mit gewohnter Ruhe. Fhance war bereit, jederzeit das ATG-Feld einzuschalten und den TSUNAMI vor einer deutlich werdenden Bedrohung in Sicherheit zu bringen.
»Sehen wir uns das Ding von der Seite an«, schlug Maresch vor.
Langsam umrundete der Kugelraumer das fremde Objekt. Eine Messsonde wurde ausgestoßen; in der Zentrale war zu sehen, wie sie sich der Weiche näherte.
Bei einer Distanz von acht Kilometern glühte die Sonde jäh von innen heraus auf. Übrig blieben nur eine Gaswolke, die – deutliches Zeichen der Abstoßung – nicht den ursprünglichen Kurs der Sonde fortsetzte, sondern von der Weiche wegdriftete.
»Besuch ist unerwünscht«, stellte Halsen fest.
»Sollen wir diesem Ding nur hinterherfliegen und ...?«
Die ATG-Spezialistin verstummte im Satz. Wie von unsichtbaren Fäusten wurde TSUNAMI-36 gepackt und durchgeschüttelt.
»Energetische Stoßfronten!«, kommentierte der Hyperphysiker. »Sie durchschlagen sämtliche Schirmfelder.«
»Keine akute Bedrohung!«, rief Maresch Beryll Fhance zu. Sie zögerte zu Recht, das Mini-ATG zu aktivieren.
Die Erschütterungen hielten an.
»Es hat den Anschein, als käme es an den Enden des Ypsilons zu Explosionen, die sich dort aber nicht austoben, sondern abgeleitet werden«, sagte Halsen.
»Wie ungefähr?«, drängte Maresch. »Als würde dort im Weltraum etwas materialisieren und sofort wieder verschwinden?«
Halsen sah den Kommandanten verblüfft an. »Wie kommst du darauf?«
»Ich brauche eine Funkverbindung nach Arxisto!«, sagte der Ertruser anstelle einer Antwort.
Die Verbindung, als sie endlich zustande kam, war miserabel. Es gab kein Bild, extreme Störgeräusche überlagerten das gesprochene Wort.
»Sie kommen zurück ...!«, gellte es aus den Lautsprecherfeldern.
»Wer kommt zurück?«
»Die Viecher!« Es schien die Stimme eines kleinen Jungen zu sein.
»Was geschieht bei euch? Rede klar und deutlich!«
»Alle rennen durcheinander!«, schrie der Junge. »Es hagelt riesige Steine. Viele Tote liegen draußen.«
»Wann hat das angefangen?«
»Vor ein paar Minuten. Fast alle sind hinausgelaufen, ich bin allein hier. Könnt ihr uns abholen? Wer seid ihr überhaupt?«
Ein lautes Knacken war zu hören, dann gab es die Verbindung nicht mehr. Es ließ sich unschwer ausmalen, was für ein Ereignis dazu geführt hatte.
»Wisst ihr jetzt, wozu dieses Ding gut ist?«, fragte Maresch.
»Diese Weiche ...?«
»Der Ausdruck ist besser gewählt, als man annehmen sollte«, sagte der Ertruser. »Ich bin überzeugt, dass mit der Weiche irgendetwas aus dem Nirgendwo hierher gelotst und auf Arxisto abgesetzt wird.«
»Dann wäre das Ding für den Angriff auf das Kontor verantwortlich?«
»Ob verantwortlich, muss noch geklärt werden. In jedem Fall ist das Gebilde ursächlich daran beteiligt. Was sagt dein Kontra-Computer, Lasso?«
Der Koko-Interpreter war damit beschäftigt, die Positronik zu befragen. Als der Siganese aufsah, hatte sich sein Gesicht dunkelgrün verfärbt.
»Die Einzelergebnisse aufzuzählen hätte wenig Sinn«, sagte Lasso Hevarder. »Aber eines steht für mich fest: Wir müssen uns vor diesem Ding sehr in Acht nehmen.«
Chabzawah betätigte den Türsummer und wartete, bis das letzte Pfeifen ihm kundtat, dass er eintreten durfte. Kuruzur sah ihn an, als er eintrat, und das faltige Gesicht des Kommandanten drückte höchste Besorgnis aus.
»Neuigkeiten?«
»Katastrophenmeldungen«, sagte Chabzawah. »Wir müssen weiter.«
»Also habt ihr Leben gefunden?«
»Primitivexistenzen«, antwortete Chabzawah. »Mehr nicht, aber es genügt. Wir können uns nicht länger hier aufhalten.«
Kuruzur machte eine schmerzliche Gebärde. Es war nicht das erste Mal, dass er sich so etwas anhören musste, doch es tat jedes Mal aufs Neue weh. »Ob wir jemals das finden werden, wonach wir suchen?«, fragte er zögernd.
»Vermutlich nicht«, behauptete Chabzawah. »Also immer weiter, ohne Ruhe und Rast, bis ...« Er verstummte. Was er sagen wollte, war schon zu oft gesagt worden.
Die Seolis hatten einmal mehr keine Heimstatt gefunden, an der sie friedlich hätten sterben können. Und mehr, als in Frieden und Harmonie ihr Dasein zu beenden, wünschten sie sich nicht.
Kuruzur sah seine Gliedmaßen an. Die braunen Flecke verrieten, dass er inzwischen ebenfalls erkrankt war – wie alle an Bord. Chabzawah bedachte den Kommandanten mit einem mitleidigen Blick. Seit Äonen waren sie unterwegs, die Wesen von Seol-O-Lorrath, stets mit der gleichen Aufgabe: Findet einen Platz, an dem wir sterben können!
Nicht, dass an Bord des Schiffes der Tod fremd gewesen wäre, es gab fast täglich ein Bestattungsritual an Bord. Aber es gab auch beinahe jeden Tag eine Geburt, und damit setzte sich das Unheil fort.
Lautlos und heimtückisch grassierte die Krankheit. Irgendwann hatte sie ihr erstes Opfer gefunden, ausgerechnet in den Reihen des Volkes, dessen Friedfertigkeit bekannt war. Niemals hatten die Seolis Krieg geführt – das Wort hatten sie schon einer fremden Sprache entnehmen müssen, da sie keinen eigenen Ausdruck für solche Gewalttaten hatten.
Kuruzur blickte auf die Projektion der umliegenden Sterne. »Gibt es in diesem Universum überhaupt noch einen Winkel, den wir aufsuchen könnten?«, fragte er.
Verfemt, verachtet, verstoßen, so zogen die Schiffe der Seolis durch den Kosmos. Ab und zu trafen sie auf unbewohnte Welten, dann sandten sie Roboter aus, die Erze herbeischafften, Rohstoffe, die für die Nahrungserstellung benötigt wurden. Nach jeder dieser Landungen mussten die Seolis tun, was ihnen zutiefst widerstrebte – sie vernichteten den betreffenden Planeten durch Atombrand. Und sie warteten stets, bis von der betreffenden Welt nichts mehr übrig war.
Denn mit sich schleppte die Flotte der Seolis die größte Geißel ihrer Existenz. Gegen die Sonnenwindpest gab es kein Heilmittel.
»Lasst die Maschinen hochfahren!«, befahl Kuruzur. »Du kannst gehen.«
Chabzawah verschränkte die Greifwerkzeuge vor der Stirn und verließ den Wohn-und Arbeitsraum des Kommandanten. Traurig suchte er seine eigene Wabe auf.
Miritir sah kaum auf, als er den engen Raum betrat. Sie bereitete das Nest. Die Arbeit fiel ihr schwer, denn sie war bereits stark von der Sonnenwindpest gezeichnet.
Es war das Grässliche an dieser Seuche, dass sie ihre Opfer nicht mit körperlichem Schmerz quälte. Sie ließ die Befallenen nur langsam dahinsiechen, immer schlaffer und müder werden. Irgendwann erschienen braune Flecke auf den Leibern, danach dauerte es nicht mehr lange, bis die Gliedmaßen des Körpers langsam wegfaulten. Eines Tages starb dann der Kranke. Es war ein sanfter Tod, aber er kam vor der Zeit; die meisten Seolis wurden gerade erwachsen und fingen an, sich fortzupflanzen – dann traf sie die Sonnenwindpest.
Chabzawah lehnte sich gegen die Wand. Eine ungeheure Müdigkeit hatte ihn ergriffen. Er wusste, dass ihm wahrscheinlich gerade noch Zeit genug bleiben würde, einen scheuen Blick auf seine Brut zu werfen, dann würde er zum Pflegefall werden. Das Höchste, was jeder Seoli kannte, war die Achtung vor dem Leben, und das schloss die eigene Existenz ein. Niemals wäre es einem eingefallen, fremdes Leben zu vernichten, noch weniger, Hand an sich selbst zu legen.
Seit Urzeiten, seit die Sonnenwindpest an Bord gekommen war, zog die Flotte von Seol-O-Lorrath ihre Bahn, berstend vor Leben, aber dennoch tausendfältigen Tod mit sich tragend. Jeder Seoli wusste, was fremdem Leben drohte, das von der Sonnenwindpest befallen wurde – es starb schnell und unter unglaublichen Qualen.
»Wann wird es so weit sein?« Chabzawah nahm aus dem Nahrungsbehälter einen Beutel mit Brei und saugte ihn langsam leer. Die Nahrung tat gut, konnte die Angst vor dem Tod aber nicht vertreiben.
Chabzawah las Mitleid in Miritirs großen dunklen Augen. Sie strich sich sanft über den Leib, es war schon höchste Zeit für die Eiablage. Er streckte einen Arm nach ihr aus, und ihre Hände berührten sich. Die meisten weiblichen Seolis überlebten den Tag der Eiablage nicht mehr – der Vorgang war zu anstrengend und kostete Energie, die der kranke Körper nur dann aufbrachte, wenn er die letzten Reserven mobilisierte.
»Was haben wir getan?« Miritir sah an Chabzawah vorbei. »Warum werden selbst die Ungeborenen so gestraft? Sie sind dem Tod verfallen, noch bevor sie richtig leben.«
Chabzawah legte den geleerten Nahrungsbeutel in das Fach zurück. Rohstoffe waren kostbar, sie mussten auf unbelebten Welten gewonnen werden. Die Seolis hatten es nie gewagt, bewohnte Systeme anzufliegen – sie durften die Sonnenwindpest nicht unvorsichtig verbreiten.
»Der Preis für unser Dasein ist der Tod«, sagte Chabzawah. »Wir können nichts daran ändern, und es hat keinen Sinn, dagegen aufzubegehren. Es ist so, wie es ist.«
Die Flotte der Seolis bewegte sich langsam durch den Raum. Die Schiffe hatten es nicht eilig, schließlich gab es kein Ziel, nur immerwährende Wanderschaft.
Die Flotte, knapp siebzig Schiffe stark, erreichte eine blassgelbe Sonne mit nur einem Planeten. Die Welt war gerade weit genug von ihrem Muttergestirn entfernt, um aus der Sicht der Seolis brauchbar zu sein.
Sonden wurden ausgeschickt, die sich bis auf hundert Kilometer dem Planeten näherten und Aufnahmen von seiner Oberfläche machten. Während die Techniker der Seolis damit beschäftigt waren, die Bilder auszuwerten, hockte Chabzawah in seiner Kammer und gab sich der Verzweiflung hin. Für Miritir war die Zeit der Eiablage gekommen, sie hatten Abschied voneinander genommen.
Die Bordlautsprecher quäkten. »Der Planet sieht gut aus; wir werden viele Rohstoffe an Bord nehmen können«, gab der neue Kommandant bekannt. Kuruzur war vor einer Woche zusammengebrochen und gestorben.
»Rohstoffe«, sagte Chabzawah im Selbstgespräch. »Was soll ich mit Rohstoffen?«
Miritir hatte sich eingeschlossen, wie es Sitte war. In der Regel brauchten die Frauen knapp eine Stunde, um ein Ei, selten zwei Eier zu legen. Nach vier bis fünf Stunden war es Sache der männlichen Seolis, sich um die Brut zu kümmern.
Drei Stunden waren erst vergangen, die Zeit schleppte sich langsam dahin. Chabzawah hörte ab und zu auf die Durchsagen, ansonsten versuchte er, nicht nachzudenken. Jede Überlegung wurde für ihn zur Qual.
Nach vier Stunden war Chabzawah dem Zusammenbruch nahe. Jetzt erst durfte er frühestens die Tür zum Nachbarraum öffnen, die Eier in Empfang nehmen und sie dem Brutkommando überantworten – danach blieb ihm die schreckliche Pflicht, Miritirs Überreste in feierlichem Bestattungsritual dem Konverter zu übergeben.
Er traute seinen Augen nicht, als die Tür plötzlich von selbst zur Seite schwang. Miritir erschien im Durchgang, sie sah entsetzlich aus, aber sie lebte.
Chabzawah fing die Zusammenbrechende auf und bettete sie auf eine Liege. Ihr Blut floss in ruhigem Tempo, er konnte es am Blutfenster sehen. Und das Wichtigste: Das Blut sah noch erstaunlich frisch und grün aus, als sei Miritir überhaupt nicht an der Sonnenwindpest erkrankt.
Er stürmte in die Eikammer. Im Raum hing der süße Geruch, der jeden Seoli sofort an Tod und Eiablage denken ließ. Auf dem Kissen lagen sechs Eier.
Eines wich von der Norm ab, es war größer und schimmerte in hellem Weiß, nicht grünlich wie die anderen. Trotzdem nahm Chabzawah seine Brut vorsichtig auf und legte ein Ei nach dem anderen in seine Bruttasche. Schließlich trat er auf den Gang hinaus. Die Vorbeikommenden konnten die gefüllte Bruttasche sehen und traten höflich zur Seite, als Chabzawah an ihnen vorbei zum Quartier des Brutkommandos eilte.
Am Schalter warteten bereits ein halbes Dutzend Väter darauf, ihre Brut den Spezialisten übergeben zu können. Die meisten weinten, denn sie hatten ihre Gefährtinnen verloren. Chabzawah versuchte, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen, obwohl er die Jubelkunde am liebsten laut hinausgeschrien hätte. Seine Frau lebte noch.
Die Brüterin hinter dem Schalter nahm die Eier in Empfang, kennzeichnete sie mit einem dünnen Brandstift und legte die Eier dann in die im Schalterraum gestapelten Brutzellen. Dort würden schließlich die kleinen Seolis schlüpfen.
»Sechs Stück, ich gratuliere.« Die Frau hinter dem Schalter malte die Kennzahlen auf die Schalen, unvermittelt stutzte sie und deutete auf das weiße Ei. »Das hier kann ich nicht mehr annehmen.«
»Warum nicht?«
»Es ist kein reguläres Ei. Sieh selbst – so sehen reguläre Eier aus. Dies ist keines.«
»Was ist es dann?«, fragte Chabzawah erregt.
Die Brüterin stieß ein ersticktes Wimmern aus. »Natürlich ist es ein Ei – aber ich kann es so nicht registrieren.«
»Ich möchte den Befehlshaber der Brutabteilung sprechen«, sagte Chabzawah energisch. »Auf der Stelle!«
»Wie du willst.«
Die Brüterin verschwand hinter ihrem Schalter. Chabzawah drehte sich ein wenig herum und sah in die Gesichter der anderen Väter. Ihre Mienen spiegelten Verärgerung wider, und Chabzawah konnte das verstehen. Viele männliche Seolis waren heilfroh, wenn die Angelegenheit mit den Eiern schnell und reibungslos abgewickelt werden konnte – Chabzawah brachte Aufregung in den Vorgang, und das fiel einigen auf die Nerven.
Der Leiter der Brutabteilung erschien sehr bald. Er war einer der größten Seolis, die Chabzawah jemals gesehen hatte. Misstrauisch beäugte der Brutdirektor das fragliche Ei.
»Eine schwierige Angelegenheit«, sagte er. »Es ist ohne jeden Zweifel ein Seoli-Ei, und es ist trotzdem keines. Ich weiß nicht, was ich entscheiden soll. Bist du bereit mitzukommen?«
Chabzawah machte eine Geste der Zustimmung. Die anderen fünf Eier wurden ordnungsgemäß registriert, danach nahm der Brutdirektor das weiße Ei auf und verließ zusammen mit Chabzawah den Schalterraum. Sie gingen zum Kommandanten.
Der Brutdirektor klärte den Befehlshaber über den Streitfall auf. Das Ei lag weiß schimmernd auf einem Kissen.
»Ich will nichts weiter, als dass es ordnungsgemäß registriert und ausgebrütet wird«, sagte Chabzawah. »Das ist mein Recht.«
Der Kommandant dachte lange nach. »Registriert und bebrütet das Ei«, entschied er schließlich. »In diesem Ei regt sich Leben, das macht die Entscheidung einfacher – auch wenn ich die Folgen vorerst nicht übersehen kann.«
Es ging zurück zur Brutstelle. Dort wurde das sechste Ei aus der Verbindung von Chabzawah und Miritir registriert und in ein Brutfach gelegt. Der Rechner des Brutsektors lieferte wie üblich einen Namen. Doch das offizielle Hatabah wurde so gut wie nie verwendet, üblich wurde später der Name Eiling.
Chabzawah sollte davon allerdings nichts mehr erfahren. Als er in seine Wabe zurückkehrte, fand er Miritir tot. Die maßlose Enttäuschung über diesen Schicksalsschlag ließ Chabzawah den Tod seiner Gefährtin nur um wenige Stunden überleben. Er bekam seinen Sohn, den wohl berühmtesten Seoli, niemals zu Gesicht.
»Kannst du die Meldung bestätigen?«, fragte Galgan Maresch ungläubig.
Der Funker auf Arxisto schwieg sekundenlang, dann antwortete er auf die Frage des Ertrusers: »Ich brauche nur aus dem Fenster zu blicken. Was in den letzten Tagen hier angekommen ist, löst sich auf. Dafür kommt aber neuer Dreck herunter. Kann mir einer von euch sagen, was wir mit ein paar Hunderttausend lebenden bunten Bällen machen sollen, die überall herumhüpfen, als gäbe es keine andere Beschäftigung für sie? Wo bleibt eigentlich Rhodan?«
»Es wird wohl noch eine Weile ...«
»Er ist da, kannst du deinem Gesprächspartner sagen«, erklang eine ruhige Stimme hinter dem Kommandanten von TSUNAMI-36.
Maresch fuhr herum. »Diese Art Auftritt kann einen alten Ertruser ganz schön erschrecken«, sagte er. »Willkommen an Bord.«
Perry Rhodan lächelte freundlich. »Was gibt es an Neuigkeiten?«
Maresch fasste die Situation knapp zusammen. »Zum einen löst sich auf Arxisto offenbar alles auf, was in den letzten Tagen erschienen ist. Zum anderen materialisierte neuer Weltraummüll, zeitgleich mit den seltsamen Explosionen, die wir bei der Schiene festgestellt haben.«
Rhodan rieb sich den linken Nasenflügel. »Zusammenhänge?«
»Die gibt es mit Sicherheit«, antwortete Hans Halsen anstelle des Kommandanten. »Es sieht danach aus, als würde dieses Gebilde im Raum Gegenstände von irgendwoher aufsammeln und hier wieder abstoßen.«
»Was ist mit den Insektenkriegern, die vor ein paar Tagen gekommen sind?«
»Sie verschwinden ebenfalls, als hätte es sie nie gegeben.«
»Es geht wieder los!«, rief jemand in der Zentrale.
Durch den energetischen Nebel an den Schenkeln des Ypsilons tobten schwere Entladungen. Der Massetaster zeigte an, dass ein recht großes Gebilde im Raum-Zeit-Kontinuum aufgetaucht war. Offenbar handelte es sich um ein Raumschiff.
»Da kommt noch eines!«, rief Halsen. »... eine ganze Flotte!«
»Wir ziehen uns ein Stück zurück«, ordnete Perry Rhodan an. »Wer weiß, wer oder was dort angekommen ist.«
»Bislang schätzungsweise fünfzig Schiffe«, bemerkte Halsen. »Und der Vorgang scheint noch nicht beendet zu sein.«
»Eine Invasion aus dem Nirgendwo!«, stieß jemand hervor.
Halsen lachte heiser. »Es sind bereits an die fünfhundert Schiffe. Das mit der Invasion wird immer wahrscheinlicher ...«
In einem Schirmsegment erschien ein Bild der Flotte. Die fremden Einheiten waren lang gestreckt und korkenzieherförmig gedreht.
»628 von diesen ... Wendelschiffen. Alle ziemlich gleich groß, knapp zwei Kilometer lang und ungefähr fünfzig Meter dick.«
»Stimmt die Farbwiedergabe?«, fragte Perry Rhodan.
»Perfekt«, antwortete Halsen. »Die Wendelschiffe sind tatsächlich pechschwarz.«
In der Energiewolke zuckte eine grelle Entladung auf, zeitgleich endeten die energetischen Entladungen.
»Da ist noch ein Schiff!«, stieß der Hyperphysiker hervor. »Äußerlich gleiches Modell, nur silberfarben. – Und wesentlich kleiner«, fügte er rasch hinzu. »Dieses Schiff ist höchstens dreihundert Meter lang.«
»Wir gehen wieder etwas näher heran«, entschied Rhodan. »TSUNAMI-97 soll aber noch zurückbleiben.«
Das Schiff beschleunigte. Kurz darauf reagierten die Wendelschiffe – die Flotte zog sich zusammen wie ein Schwarm, der sich bedroht fühlte.
»Langsam näher!«
Der TSUNAMI kroch förmlich auf den Pulk der Wendelschiffe zu.
»Ich stelle fest, dass diese Fremden unglaublich massig gebaute Raumschiffe haben«, sagte Halsen. »Die Triebwerke scheinen nicht besonders leistungsfähig zu sein, der Ortungsschutz ist bestenfalls mittelmäßig.«
»Vielleicht bekommen wir Funkkontakt ...«
Rhodan hatte den Satz noch nicht zu Ende gebracht, da wurde TSUNAMI-36 jäh von einer grellen Lichtflut getroffen.
»Sie beschießen uns mit Licht?«, fragte der Kommandant.
»Die Frequenz ändert sich!«, meldete Halsen. »Strahlung wird langwelliger.«
Tatsächlich veränderte sich die Farbtemperatur des einfallenden Lichtes erheblich. Es glitt rasch in den Rotbereich ab.
»Wenn dort drüben Menschen wären, wüsste ich eine Deutung«, sagte der Kosmopsychologe Druuht. »Ein Warnsignal – Rot für ›Halt!‹«
Eiling betrachtete die Messinstrumente, dann wandte er sich an Orofon, der ihm als persönlicher Begleiter für diese Periode zugewiesen worden war. »Glaubst du, dass das gut geht?«, fragte er.
Orofon machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Es ist ein Angebot. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Es kann für uns alle den Tod bedeuten«, warnte Eiling.
Orofon musterte sein Gegenüber. Sooft er die silbrig schimmernde Haut des Heilers sah, fröstelte er. Immer dann versuchte er zu ergründen, wie Eiling sich fühlen musste. Die Vorstellung, als Einziger unter Tausenden gesund zu sein und steinalt werden zu können, erschreckte Orofon.
»Wir werden die Sache gemeinsam durchstehen«, sagte Eiling. »Gib mir den Kommandanten.«
Orofon stellte eine Verbindung her zur Zentrale von Eilings Schiff, von dort aus wurde zum Kommandanten der Quarantäneflotte weitergeschaltet. Beneder hatte diesen Posten erst seit zwei Monaten inne.
»Hast du dich entschieden, Eiling?« Beneder machte eine fahrige Geste. »Du bist wichtiger als wir alle, dein Wort wird den Ausschlag geben.«
Niemals zuvor war ein Seoli geboren worden, der am ganzen Leib silbern schimmerte und der, größtes aller Wunder, gegen die Sonnenwindpest immun war. Seit Eiling lebte, waren vier Generationen groß geworden, deshalb ging sogar das Gerücht, er sei unsterblich. Leider war er auch unfruchtbar, hatte niemals ein befruchtetes Ei zustande bekommen.
»Fassen wir noch einmal zusammen«, sagte Eiling. »Man hat uns ein Angebot gemacht und will unsere Flotte in einen Bereich des Universums transportieren, in dem wir niemanden schädigen können. Dies alles soll ohne Gegenleistung geschehen.«
»So einseitig dürfen wir das Angebot nicht sehen«, widersprach Orofon. »Immerhin: Wenn wir von hier verschwinden, wird niemals wieder ein Volk von der Sonnenwindpest bedroht werden. Mir scheint, das sei der Mühe wert, die man – ich nehme den Begriff auf – sich mit uns machen will.«
Eiling war nicht nur äußerlich ein wenig aus der Art geschlagen. Er war auch innerlich anders als seine Artgenossen. »Eine Möglichkeit muss dennoch erörtert werden«, überlegte er laut. »Ich halte es für denkbar, dass man uns als Waffe einsetzt.«
Er musste ein Kunstwort gebrauchen, um den Gedanken überhaupt formulieren zu können, und er ignorierte, dass Beneder ihn äußerst betroffen ansah. »Nehmt an, es gäbe eine Möglichkeit, uns am Ort unserer Ankunft gefangen zu nehmen und unsere Schiffe aufzubrechen – vielleicht durch Roboter«, versetzte er hart. »Dann wäre dieser Bereich des Weltraums für immer von der Sonnenwindpest verseucht. Vielleicht ist es das, was unser sogenannter Freund plant.«
Zuerst ungläubiges Staunen, dann Abscheu und Ekel. Orofon und Beneder verstanden nicht, wie ein Seoli zu solchen Überlegungen fähig sein konnte.
»Erschreckend!« Orofon wich einen Schritt zurück. »Wie kommst du auf solche Gedanken?«
»Das gehört offenbar zu meinem Wesen«, sagte Eiling. »Ich wollte euch nicht die Hoffnung rauben, sondern lediglich klarstellen, dass wir nicht zu vertrauensselig sein sollten. Ich halte Eigennutz für die Triebfeder allen Handelns – gezügelt durch die Einsicht, dass Zusammenarbeit letztlich zum eigenen Vorteil mehr beiträgt als hemmungsloser Kampf aller gegen alle.« Er machte eine beruhigende Geste. »Erregt euch deshalb nicht. Was wurde im Rat der Kommandanten beschlossen?«
Beneder zögerte kurz. »Die Mehrheit ist dafür, das Angebot anzunehmen.«
»Dann handelt dementsprechend.« Mit einem Handgriff trennte Eiling die Funkverbindung. »Lass mich allein!«, bat er Orofon.