17.
Der Aufstieg ging ohne Zwischenfall vonstatten. Das Gewirr der Gänge, durch die sie sich bewegten, musste einstmals ein Teil des großen Verladenetzes gewesen sein. Warum es aufgegeben worden war, ließ sich nicht erkennen; aber die Spuren des Zerfalls waren allgegenwärtig. Clazzence bewegte sich derart schnell, dass die Betschiden Mühe hatten, ihm zu folgen.
Über mehrere Schächte gelangten sie auf Etappen in die Höhe. Clazzence wuchtete schließlich eine Abdeckung zur Seite. Warme, feuchte Nachtluft drang herein. Der Krane schwang sich als Erster ins Freie.
Mallagan sah die Umrisse hoher Pflanzen vor dem Hintergrund einer ungewissen Helligkeit. Er richtete sich auf und stellte dabei fest, dass sie sich auf einem recht steil abfallenden Hang befanden. Zwischen buschartigen Gewächsen hindurch bot sich ihm ein unbeschreiblicher Anblick.
Ein Meer aus Tausenden von Lichtern schimmerte in allen Farben. Es war ein von strahlendem Leben erfülltes Durcheinander. Mallagan wurde klar, dass er die Stadt Gruda sah, die sich am Fuß der Berge entlangzog. Sein Blick wanderte nach links, wo verstreute Lichtpunkte die Peripherie des Raumhafens markierten, und wieder nach rechts, dort setzte sich die Stadt in das Tal hinein fort, das nach Unadern und zum Ahyr-Meer führte.
Scoutie und Faddon traten zu ihm und bewunderten die Aussicht. Zum ersten Mal sahen sie eine Stadt dieser Größe.
Hinter ihnen schichtete Clazzence die Abdeckung zurück auf den Schachtmund. Mallagan deutete den Hang hinauf. »Was sind das für Lichter?«, fragte er.
»Die Grenze des modifizierten Schwerefelds«, antwortete der Krane. »Jenseits wirkt die volle Schwerkraft von Keryan.«
Er ging voran den Hang hinab.
Das Haus war einstöckig, hatte die Form eines regelmäßigen Sechsecks und lag inmitten eines halb verwilderten Gartens mit riesigen Pflanzen an einer Seitenstraße, die wenige Hundert Meter weiter an der Flanke des Berges endete. Es verfügte über eine große Anzahl zumeist kleiner Räume und über Mobiliar, das zwar fremdartig, aber der Körpergröße der Betschiden angemessen war. Es gab keinen Hinweis, wer die letzten Bewohner gewesen waren.
»Ich hoffe, ihr werdet es hier bequem finden«, sagte Clazzence. »Euer Aufenthalt wird nicht lange dauern; aber selbst für nur ein paar Tage schadet es nichts, angenehm unterzukommen.«
Surfo Mallagan musterte den Kranen aufmerksam. »Wer bist du?«, fragte er.
»Clazzence, euer Helfer. Sagte ich es nicht schon?«
»Warum hilfst du uns?«
Der Krane lachte und schüttelte die graue Mähne. »Mein eigentliches Motiv wirst du beizeiten erkennen. Vorerst lass uns einfach sagen, dass ich die Bruderschaft, wenn ich auch nicht unbedingt mit ihr sympathisiere, für ein legitimes Unternehmen halte. Es wird Zeit, dass man im Herzogtum von Krandhor etwas anderes zu hören bekommt als nur die vom Orakel erleuchtete Meinung der Herzöge.«
»Du wirst uns mit der Bruderschaft in Kontakt bringen?«
»Ich werde euch helfen, mit ihr in Verbindung zu treten«, schwächte der Krane ab. »Ich bin Geschäftsmann. Ich will helfen, wo es geht; aber ich darf mich dabei nicht auf unvorsichtige Weise hervortun.« Er blinzelte. »Ihr seid alle drei Doppelträger?«
»Nur ich«, antwortete Mallagan.
»Dann wird dir der schwierigste Teil der Aufgabe zufallen.«
»Wo hat die Bruderschaft ihren Sitz?«
»Die Bruderschaft ist eine verbotene Organisation. Sie lässt die Öffentlichkeit nicht wissen, wo sie sich versteckt hält.«
»Wie sollen wir dann mit ihr in Kontakt treten?«
»Das ergibt sich von selbst. Die Bruderschaft ist ständig auf der Suche nach qualifizierten Mitgliedern, Doppelträgern wie dir. Sobald sie erkennt, dass du die Verfolger abgeschüttelt hast, wird sie von sich aus auf dich zukommen.«
»Auf mich und meine Freunde?«
Clazzence spreizte die Finger. »Das musst du mit der Bruderschaft selbst ausmachen. Ich habe noch von keinem Einfachträger gehört, der Mitglied geworden wäre.«
Scoutie und Faddon wechselten unbehagliche Blicke. Mallagan sah es, verzichtete aber, darauf einzugehen. »Was muss als Nächstes geschehen?«, fragte er den Kranen.
»Sieh in den Spiegel, dann kannst du die Frage selbst beantworten«, sagte Clazzence mit gutmütigem Spott. »Wesen wie euch hat man auf Keryan noch nicht gesehen. Nachdem die Nachrichtendienste eure Bilder ausgestrahlt haben, wird euch jeder auf Anhieb erkennen. Wenn ihr mit der Bruderschaft in Verbindung treten wollt, müsst ihr euch in der Öffentlichkeit bewegen können. Ihr braucht also Masken.«
»Masken? Wie müsste eine Maske beschaffen sein, hinter der wir uns verbergen können?«, fragte Mallagan überrascht.
»Es gibt Maskenbildner, die dir diese Frage beantworten können, sie sind Künstler auf ihrem Gebiet. Bei erster Gelegenheit werde ich dich mit einigen von ihnen zusammenbringen.«
»Künstler arbeiten nicht umsonst. Wir sind mittellos.«
»Auch da kann ich dir behilflich sein.«
»Du willst mir Geld leihen?«
Clazzence lächelte. Wahrscheinlich amüsierte ihn die Naivität der Frage.
»Das wäre kein gutes Geschäft«, antwortete er. »Woher nähme ich die Sicherheit, dass du mir das Geliehene zurückzahlst? Nein, ich helfe dir, indem ich dir Gelegenheiten beschreibe, wie du zu Geld kommen kannst.«
»Du zeigst mir also die Bank, die ich überfallen muss«, platzte Surfo Mallagan hervor.
Clazzence nahm die Idee offenbar völlig ernst. »Kein sehr brauchbarer Gedanke«, antwortete er. »Die Banken sind das Erste, was jedem Flüchtling in den Sinn kommt. Dementsprechend sind die Sicherheitsvorkehrungen. Auf jeden geglückten Bankraub kommen zwanzig misslungene.«
»Wir haben Kreditkarten.«
»Ausgestellt von wem?«, wollte der Krane wissen.
»Vom Hauptquartier der Achten Flotte.«
Clazzence machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das Nest der Achten Flotte ist Hunderte von Lichtjahren und zwei Sektorgrenzen entfernt. Sobald ihr eure Karten benützt, hätte man euch sofort am Kragen.«
»Niemand an Bord der TRISTOM weiß, dass wir ursprünglich von der Achten Flotte kamen«, widersprach Mallagan. »Die Kreditkarten verraten uns nicht.«
Clazzence stand auf. »Ich werde darüber nachdenken«, versprach er. »Inzwischen gönnt euch etwas Ruhe. Morgen wird es viel zu tun geben. In den Zimmern findet ihr alles, was ihr braucht. Es ist unnötig, euch darauf aufmerksam zu machen, dass ihr das Haus nicht verlassen dürft. Wartet, bis ich wiederkomme. Ich wünsche euch eine wohltuende Nachtruhe.«
Der Krane schritt zur Vordertür hinaus und verschwand in der Nacht. Von fern her drangen die Geräusche der Stadt die einsame Straße entlang, und der Himmel war von einem hellgrauen Schleier überzogen, dem Widerschein Tausender Lichter.
Mallagan, der den Kranen zur Tür begleitet hatte, kehrte in den zentral gelegenen Wohnraum zurück. Scoutie und Brether Faddon kauerten auf seltsam geformten Sitzkissen und blickten ihm entgegen.
»Was hältst du von ihm?«, fragte Faddon in seiner Muttersprache Chircoolisch.
»Er ist Geschäftsmann, das hat er selbst gesagt«, antwortete Mallagan. »Sein Geschäft ist, Flüchtlingen zu helfen. Er besitzt eine weitverzweigte Organisation – das merkt man daran, wie leicht es ihm fiel, Verbindung mit uns aufzunehmen. Starke Organisation, großes Risiko, das bedeutet hohen Preis. Es wird nicht billig sein, wenn wir uns von Clazzence helfen lassen.«
»Geld«, murmelte Scoutie enttäuscht. »Ist Geld das eigentliche Motiv, von dem er sprach?«
»Wahrscheinlich. Aber ich bin nicht sicher. Auf keinen Fall dürfen wir zulassen, dass wir von ihm abhängig werden. Wir müssen unseren eigenen Weg finden. Wenn Clazzence uns ein wenig dabei hilft, umso besser. Aber in eine Lage zu geraten, in der er uns erpressen kann, wäre tödlich.«
»Du hörst dich an, als hättest du schon einen ganzen Sack voller Ideen«, spottete Faddon.
»Sprich mich in ein bis zwei Stunden noch einmal darauf an«, sagte Surfo leichthin und wandte sich zum Ausgang.
Scoutie sprang auf. »Wohin willst du?«
»Mich umsehen«, lautete die Antwort.
Surfo Mallagan schritt hinaus in die Dunkelheit.
Die Nacht war sein einziger Verbündeter. In der Finsternis war er nur eine von zahllosen Gestalten, deren Züge niemand so genau erkennen konnte. Die grellen Lampen in der Nähe des Stadtzentrums musste er meiden. Aber bestimmt gab es Seitenstraßen, in denen die Beleuchtung schwach war. Dorthin würde er sich wenden.
An einsam gelegenen Häusern vorbei gelangte er zu einer Straße, die offenbar die Verbindung zwischen Gruda und dem Raumhafen herstellte. Reger Fahrzeugverkehr herrschte. Mallagan überquerte die Straße auf einer Fußgängerbrücke. Sooft er sich in den Lichtkreis einer Lampe wagen musste, vergewisserte er sich, dass ihm niemand entgegenkam. Lediglich im Halbdunkel begegnete er einigen nächtlichen Fußgängern, zumeist Kranen, doch sie nahmen keine Notiz von ihm.
Während er sich weiter in Richtung Stadtmitte vorarbeitete, prägte er sich Einzelheiten der Umgebung ein. Er war erstaunt, wie leicht ihm das fiel. Der Doppel-Spoodie stärkte nicht nur sein Denkvermögen, sondern auch sein Gedächtnis.
Er gelangte schließlich in eine Gegend, in der die Straßen eng und schmutzig waren. Wesen aller Arten bewegten sich hier im flackernden Licht grellbunter Leuchtzeichen, die Dienstleistungen aller Art anboten. Ein unbeschreiblicher Geruch lag in der Luft. Mallagan stieß auf einen mit brackigöligem Wasser gefüllten Kanal und erinnerte sich an Killsoffers Beschreibung. Ungeachtet der Berge im Süden lag die Stadt Gruda nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Ein gut Teil des Areals war sumpfig. Der Fluss Torstyl bahnte sich seinen Weg mitten durch die Stadt und strömte im Gruda-Tal dem Meer zu. Killsoffer hatte davon gesprochen, dass es in Gruda eine große Zahl von Kanälen gebe, die überflüssiges Grundwasser aufnahmen. Sie standen mit dem Fluss in Verbindung und bildeten zusätzliche Transportstraßen, auf denen sich reger Bootsverkehr abwickelte.
Am Ufer des Kanals lag ein Stapel lang gestreckter Plastikrohre. In ihrem Schutz ließ Mallagan sich nieder und beobachtete das Treiben. Auf der schmutzigen Straße zwischen dem Kanal und den bunt beleuchteten Fassaden gab es keine Fahrzeuge, nur Fußgängerverkehr. Aus offenen Fenstern und Türen plärrte Musik, eine schrille Kakofonie von kranischen, prodheimischen und tartischen Weisen. Ein Wirrwarr von Gestalten ging, stolzierte, wankte, torkelte im Glanz der flackernden Reklamen. Ein betrunkener Prodheimer-Fenke taumelte durch den bogenförmigen Eingang eines Bordells, an dessen Fassade ein Leuchtbild zum Ausdruck brachte, dass alle hier auf kranische Sehnsüchte eingestellt waren. Nur Sekunden später kam der Betrunkene wieder zum Vorschein, wie vom Katapult geschnellt. Wenige Meter von Surfo entfernt stürzte er zu Boden. Zehn Sekunden lang blieb er benommen liegen, dann raffte er sich auf, schüttelte den Kopf und torkelte davon.
Eine vermummte Gestalt erregte Mallagans Aufmerksamkeit. Sie hatte etwa seine Größe und war in einen dunklen Umhang gehüllt, der Einzelheiten des Körperbaus verbarg. Den Schädel des Fremden bedeckte eine weit nach vorn gezogene Kapuze. Mallagan beobachtete, dass die Gestalt hin und wieder stehen blieb und auf einen Passanten einsprach. Die Reaktionen fielen verschieden aus. Ein Krane machte Anstalten, auf den Vermummten einzudreschen. Dieser wich behände aus und verlor sich in der Menge. Andere reagierten überhaupt nicht, und wiederum andere blieben stehen, um dem Fremden zu antworten. Manchmal gaben sie ihm etwas, wahrscheinlich Geld.
Es gab mehrere solcher Gestalten. Mallagan hielt sie für Bettler, und ihre Vermummung war offenbar ein Zunftgewand. Eine solche Kutte hätte ihm die Möglichkeit verschafft, sich unauffällig in der Menge zu bewegen. Aber woher sollte er so ein Kleidungsstück nehmen? Es gab nur einen Weg, und der behagte ihm nicht. Minutenlang rang er mit seinem Gewissen, dann war ihm klar, dass er die Wahl hatte, entweder erfolgreich zu sein oder seine Moral zu wahren. Beides zugleich ließ sich nicht erreichen.
Zur rechten Hand wurde die Häuserwand durch eine Seitenstraße unterbrochen, die den Hauptzugang in diesem Bereich des Vergnügungsviertels zu bilden schien. Jenseits der Straße war die Kanalfront still und finster, von wenigen weit auseinanderstehenden Lampen abgesehen. Surfo Mallagan sah einen der Vermummten an der Einmündung der Seitenstraße vorbeigehen. Sekunden später ließ er sich ins Wasser gleiten und schwamm mit weit ausholenden Stößen dicht an der gemauerten Böschung des Kanals entlang. Als er glaubte, den Vermummten überholt zu haben, zog er sich an der Mauer in die Höhe und sah sich um. Er war weit über sein Ziel hinausgeschossen. Der Bettler kauerte vor einem dunklen Gebäude, das Mallagan für eine Lagerhalle hielt. Er konnte nicht sehen, was der Vermummte tat. Vielleicht ruhte der Mann sich aus, vielleicht zählte er Geld. Die Geräuschkulisse der Kneipen und Freudenhäuser war jedenfalls weit entfernt. Mallagan musste sich behutsam bewegen, wenn er den Bettler nicht vorzeitig auf sich aufmerksam machen wollte.
Er huschte in den Schatten der Lagerhäuser. Als er sich dem Vermummten bis auf wenige Meter genähert hatte, sah dieser unvermittelt auf. Er bemerkte die finstere, nasse Gestalt und schien zu erschrecken.
»Bedarfst du der Dienste eines Bußbruders?«, klang es dumpf in akzentbehaftetem Krandhorjan unter der Kapuze hervor.
Mit hässlichem Summen entlud sich Surfos Schocker. Der Bettler gab ein halblautes Geräusch von sich und fiel zur Seite.
Mallagan pfiff vor Überraschung leise durch die Zähne, als er den dunklen Umhang beiseiteschlug und darunter einen Ai entdeckte. Die Ai waren annähernd humanoide Geschöpfe, im Durchschnitt etwas über zwei Meter groß und besaßen eine gallertartige, teilweise durchsichtige Haut, die ihnen den Spitznamen »die Gläsernen« eingetragen hatte. Ein Ai hatte keinen Mund, sondern eine aufstülpbare Kinntasche, die nur der Nahrungsaufnahme diente. Ai verfügten weder über eine Sprache noch über Sprachwerkzeuge und verständigten sich untereinander mittels einer Art optischen Morsealphabets, indem sie gewisse Stellen der Kopfhaut in bestimmtem Rhythmus verfärbten.
Als des Rätsels Lösung entpuppte sich ein kleines Gerät, das der Ai im Nacken trug und das durch ein dünnes Kabel mit einem Stimmengenerator verbunden war, der dicht unter dem Halsansatz auf seiner Brust hing. Mallagan inspizierte beide Instrumente, ohne sie jedoch zu entfernen. Das kleine, flache Kästchen im Nacken registrierte höchstwahrscheinlich die Nervenströme, sobald der Ai etwas mitteilen wollte. Die entsprechenden Impulse wurden an den Generator weitergeleitet, der sie zu hörbaren Worten umformte. In beiden Geräten steckte eine Fülle komplizierter Technik. Wie kam ein Bettler zu solch teuren Dingen? Und warum war der Generator mit schlechtem Krandhorjan programmiert? Weshalb beherrschte er die Sprache der Kranen nicht akzentfrei?
Zu viele Fragen, entschied Mallagan. Er durchsuchte die Taschen des Umhangs und förderte mehrere Münzen sowie ein Identifizierungsplättchen zutage. Das Plättchen und die Hälfte der Münzen nahm er an sich; den Rest schob er in die Taschen zurück. Der Ai sollte, wenn er wieder zu sich kam, nicht mittellos sein. Mithilfe des Plättchens konnte Surfo dem Mann zu gegebener Zeit wieder zukommen lassen, was er ihm abgenommen hatte.
Die Vermummung erwies sich als unbequem füllig. Der Ai war eben um mehr als eine Kopflänge größer als ein durchschnittlich gewachsener Betschide. Der Saum des Gewands schleifte deshalb auf dem Boden. Der schwere Stoff wärmte enorm und trieb Mallagan den Schweiß aus allen Poren. Der Körpergeruch des Ai, der dem Umhang anhaftete, machte ihm das Leben nicht eben leichter.
Nachdem er den Bewusstlosen im tiefen Schatten zwischen zwei Lagerhäusern so bequem wie möglich gebettet hatte, machte Mallagan sich auf den Weg. Auf der anderen Seite, bei den Kneipen und Animierlokalen, ging es womöglich noch turbulenter zu als vorher. Die Nacht war jung. Keryan brauchte für eine Umdrehung um die eigene Achse 32 Stunden. Sechzehn Stunden Dunkelheit gaben den Nachtbummlern ausreichend Zeit für ihre Tätigkeit. Surfo machte sich an einen nicht mehr ganz nüchternen Kranen heran und streckte den Arm aus, wobei er darauf achtete, dass die Hand unter dem weiten Ärmel verborgen blieb. »Eine kleine Spende, bitte, mein Freund«, murmelte er.
Der Krane fuhr herum und starrte ihn an. Mallagan merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Was – und nicht einmal beten willst du dafür mehr?«, donnerte die Stimme des Angeheiterten. »Ihr Gelichter werdet immer unverschämter. Pass auf, hier hast du, was dir gehört!«
Er drang auf Surfo ein. Mallagan erinnerte sich an die Szene, die er vor einer halben Stunde beobachtet hatte. Er nahm Reißaus. Der Krane setzte hinter ihm her, aber schon nach ein paar Schritten hielt er inne.
Mallagan entfernte sich weiter. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, wie der Ai ihn angesprochen hatte. »Bedarfst du der Dienste eines Bußbruders?« Der erzürnte Krane hatte vom Beten gesprochen. Das Gewerbe der schwarz Vermummten war offenbar ein anderes, als er bisher angenommen hatte. Er musste noch eine Menge lernen, bevor er die Rolle des Ai spielen konnte.
Er kam an einer Kneipe vorbei, die nach außen offen war. Zwischen Säulen hindurch sah er Reihen von Sitzmatten und niedrige Tische. Die Kundschaft bestand zum größten Teil aus Prodheimer-Fenken. Mallagan ließ sich an einem freien Tisch nieder. Er studierte den kleinen Wählautomaten, traf seine Entscheidung und schob eine der erbeuteten Münzen in den Schlitz. Wenige Minuten später eilte ein diensteifriger Prodheimer-Fenke herbei, ein Wesen mit hellblauem Pelz und der Gestalt eines zu groß gewachsenen Eichhörnchens, und stellte wortlos einen Becher vor ihn hin. Während Mallagan an seinem Getränk nippte, spürte er neben sich eine Bewegung. Er sah auf und bemerkte, dass ein Gast sich neben ihm niedergelassen hatte, ebenfalls ein Prodheimer-Fenke. Der Fremde wirkte bekümmert und musterte den Vermummten aufmerksam, aber nicht unfreundlich.
»Ein hartes Leben für Bußbrüder, wenn ihr euch schon in den Kneipen umsehen müsst«, sagte er.
»Die Götter geben, und die Götter nehmen«, antwortete Mallagan und versuchte dabei, den Akzent des Ai nachzuahmen. »Wir aber leben und beklagen uns nicht.«
»Ich bewundere deinen Gleichmut.« Der Prodheimer-Fenke klang, als meine er es ehrlich. Er wählte ein Getränk. Der Blaupelz, der ihn bediente, musterte ihn mit eigentümlichem Blick. »Ich bin Virlirey«, sagte er, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte. »Willst du meine Sünde auf dich nehmen?«
Mallagan wurde es allmählich heiß. Anderer Wesen Sünden auf sich zu nehmen war augenscheinlich etwas, das Bußbrüder von Berufs wegen taten. Aber wie wurde die Verhandlung abgewickelt? Wie kam ein Übereinkommen zwischen dem Bußbedürftigen und dem Bußbruder zustande? Surfo war nicht prüde; aber es widerstrebte ihm, das religiöse Empfinden eines anderen für seine Zwecke zu missbrauchen.
»Dazu bin ich hier«, murmelte er voller Unbehagen.
»Du verrichtest die vorgeschriebene Zahl von Waschungen?«
»Wie sie der Schwere deiner Sünde entsprechen«, antwortete Mallagan, ohne zu wissen, was er sagte.
»Ja, ja, das ist natürlich richtig. Hier, nimm das.« Der Prodheimer-Fenke schob ihm einen kleinen Stapel Münzen hin. Sie bestanden aus dünnen, kreisförmigen Kristallscheiben von verschiedenen Farben. Surfo kannte ihren Wert nicht, aber von solchen, wie sie jetzt vor ihm lagen, hatte er in den Taschen des Ai keine einzige gefunden.
»Du musst sehr bedrückt sein«, sagte er vorsichtig.
»Geld spielt keine Rolle«, antwortete Virlirey. »Obwohl gerade die Habsucht mein Vergehen ist.«
Mallagan wischte die Münzen in den weiten Ärmel und ließ sie in einer Tasche verschwinden. Virlirey sah ihn aufmerksam an, als erwarte er etwas Bestimmtes.
»Willst du nicht hören, was mein Gewissen bedrückt?«, fragte der Prodheimer-Fenke erstaunt.
»Ich warte, dass du mit dem Bericht beginnst«, antwortete Mallagan würdevoll.
Virlirey nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Ich bin reich«, sagte er gequält. »Aber nicht so reich, dass ich nicht immer mehr Geld an mich reißen möchte. Als ich hierherkam, hörte ich von Carderhör und ihren seltsamen Zeitvertreiben ...«
Surfo Mallagan kehrte erst nach Mitternacht zurück. Die Gefährten hatten sich um ihn gesorgt. Er schilderte ihnen seine nächtlichen Erlebnisse und zeigte ihnen die Münzen. Inzwischen wusste er, dass sie ein kleines Vermögen darstellten.
»Ob das für die Masken ausreicht?«, fragte Scoutie.
»Ich weiß es nicht.« Insgeheim zweifelte Mallagan daran, doch er hatte bereits einen Plan, wie er zu mehr Geld kommen konnte. Das Vorhaben beruhte auf Einzelheiten, die er von Virlirey erfahren hatte. Den Freunden gegenüber erwähnte er nichts davon, er wollte sie nicht beunruhigen.
Sie verbrachten eine ruhige Nacht. Das Gewand des Bußbruders und die Münzen hatte Mallagan versteckt, wo kein Unbefugter sie finden konnte. Am nächsten Morgen erschien Clazzence, um weitere Einzelheiten mit ihnen zu besprechen. Sein nächtliches Erlebnis verschwieg der Betschide.
Clazzence hatte Fotografien bei sich. Sie stellten ein Wesen dar, das einem Ai ähnelte, jedoch kleiner war und eine graubraune, undurchsichtige Haut besaß. Die Augenstiele waren nur schwach ausgebildet und kaum zu bemerken.
»Was ist das?«, fragte Mallagan.
»Die Idee meines genialsten Maskenbildners«, antwortete der Krane. »In dieser Verkleidung, ausgestattet mit der nötigen Identifizierungsmarke, hättet ihr keine Schwierigkeiten.«
»Solche Wesen gibt es nicht«, hielt ihm Scoutie entgegen.
»O doch, es gibt sie. Nicht oft, aber man sieht sie hin und wieder. Es sind Ai-Mutationen, Ai-Siedler von Forgan VI, der Nachbarwelt ihres Heimatplaneten. Die Ai haben sich dort vor wenigen Generationen angesiedelt. Die Mutation verlief äußerst schnell und ohne nachteilige Folgen.«
»Wenn du es sagst, muss es so sein«, murmelte Mallagan. »Wann sind die Masken fertig, und wie viel will dein Spezialist dafür haben?«
»Die Anfertigung dauert etwa einen Tag. Wenn wir zu einer Einigung kommen, kann Neriduur sofort mit der Arbeit beginnen; dann sind die Masken fertig, sobald ihr das Geld beschafft habt. Er verlangt zweitausend Tali pro Maske.«
Scoutie und Faddon sahen ihn verständnislos an. Mallagans Miene blieb undurchdringlich. Er wusste als Einziger, wie viel sechstausend Tali waren. Die Herzöge von Krandhor hatten der Kolonie Keryan das Münzrecht zugestanden. Die Währung des Planeten unterschied sich von der Einheitswährung der kranischen Flotte, obwohl natürlich von der einen in die andere umgerechnet werden konnte. Die Summe, die Surfo in der vergangenen Nacht von Virlirey erhalten hatte, belief sich auf fünfhundert Tali. Zusammen mit den kleinen Münzen, die er dem Ai abgenommen hatte, besaß er 530 Tali.
»Das ist ein stolzer Preis«, sagte er.
»Nicht zu hoch für die Sicherheit, die ihr dafür erhaltet«, entgegnete Clazzence. »Nun lass uns darüber sprechen, wie ihr euch das Geld besorgt.«
Er entwickelte eine Anzahl von Plänen. Sie gehörten nach Mallagans Ansicht zu einem Satz von Standardplänen, die Clazzence jedem Flüchtling, der bei ihm Unterschlupf suchte, vorlegte. Ein paar davon enthielten eindeutige Gesetzesverstöße wie Diebstahl, Einbruch, Piraterie. Andere beruhten auf der Erbringung von hoch bezahlten, dafür jedoch riskanten Dienstleistungen. Clazzences Unterstützung beschränkte sich darauf, die Einzelheiten des ausgewählten Plans auszukundschaften und seinen Kunden ein Zeichen zu geben, sobald es Zeit war, zuzuschlagen oder, besser ausgedrückt, mit dem Einsatz zu beginnen. Aus den Angaben, die der Krane am Rande machte, ging hervor, dass er hoffte, die drei Betschiden in spätestens fünf Tagen wieder los zu sein.
»Lasst euch durch die gegenwärtige Ruhe nicht täuschen«, warnte er Surfo. »Die Schutzgarde weiß, dass ihr irgendwo Unterschlupf gefunden habt. Es ist ihr klar, dass sie euch nicht in der Öffentlichkeit aufstöbern wird, wenigstens nicht in eurer bisherigen Gestalt. Deshalb hat sie aufgehört, die Bevölkerung um Mithilfe zu bitten. Die Suche ist aber keineswegs eingestellt.«
»Die Schutzgarde – das sind die Blauuniformierten?«
»Ja. Ich habe es aus sicherer Quelle, dass der Kommandant der TRISTOM einen Tobsuchtsanfall bekam, als er das Geständnis des Rekruten Killsoffer hörte. Killsoffer selbst wird vor Gericht gestellt werden, und Kerlighan hat geschworen, den Planeten erst wieder zu verlassen, nachdem man euch eingefangen hat.«
Mallagan lächelte. »Ich hoffe, die Zeit wird dem Ersten Kommandanten nicht lang.«
Clazzence sah ihn missbilligend an. »Mir scheint, dass du die Lage zu leichtnimmst. Sieh dich vor. Ich sagte dir schon, dass ich Geschäftsmann bin. Ich kann es mir nicht leisten, mein Unternehmen durch Leichtfertigkeit in Gefahr bringen zu lassen. Es wird am besten sein, wenn wir unser Vorhaben so rasch wie möglich abwickeln. Für welchen Plan hast du dich entschieden?«
»Bislang für gar keinen«, antwortete Mallagan schroff. »Ich brauche einige Stunden Bedenkzeit und will mich mit meinen Freunden besprechen. Außerdem bitte ich dich, mir zu sagen, was du über die Zunft der Bußbrüder weißt.«
Clazzence war so überrascht, dass er einen Augenblick lang schielte, die typische Reaktion eines Kranen, den die Verblüffung aus dem Gleichgewicht brachte. »Das ist eine ganz schlechte Idee!«, sprudelte er hervor. »Du willst nicht etwa als Bußbruder ...«
»Ich sagte schon, ich weiß noch nicht, was ich will«, fiel ihm Mallagan ins Wort. »Vorab wäre ich dir dankbar, wenn du mir ein wenig über die Bußbrüder erzählst.«
»Ich dachte schon, dir wäre ein ganz und gar verrückter Gedanke gekommen.« Der Krane seufzte. »In der vergangenen Nacht wurde ein Bußbruder überfallen und beraubt. Der Räuber hat dessen Gewand und die Identifizierungsplakette an sich genommen. Seitdem achtet die Schutzgarde besonders auf Bußbrüder. Das Verbrechen ist abscheulich und verwerflich, an einem Büßer vergreift man sich nicht.«
Die Zunft der Bußbrüder, erzählte er, war vor wenigen Jahren entstanden. Die Ai, die sich auf Keryan niederließen, brachten ihre Religion mit sich, eine Mischung aus Animismus und Götterglauben. Entsprechend ausgebildete Ai wurden von den Behörden bevorzugt als Psychologen eingesetzt. Sie hatten eine besondere Art, Wesen mit seelischen Problemen zu helfen. Ihre Gabe rührte nicht von der Ausbildung her, sondern war ihnen angeboren. Als der Rest der Ai-Gemeinde dies erkannte, gingen auch unausgebildete Ai als sogenannte Wanderpsychologen auf den Straßen hausieren. Sie hatten ebenso viel Erfolg wie ihre geschulten Artgenossen. Allmählich legte sich das seltsame Handwerk eine religiöse Verbrämung zu, der Orden der Bußbrüder entstand. »Wir Kranen ließen sie gewähren, denn zu den Geboten unserer Religion gehört die Toleranz.«
Mallagan wurde nicht wohler zumute. Er hatte in der vergangenen Nacht eine Tat begangen, die von jedem als verabscheuungswürdig betrachtet wurde. Noch einmal nahm er sich vor, dem ausgeraubten Bußbruder den Schaden zu ersetzen und ihm obendrein ein Schmerzensgeld zu zahlen.
Fürs Erste allerdings kam es darauf an, dem Kranen auszureden, dass er sich als Bußbruder betätigen wollte. Die Vorstellung schien Clazzence erhebliches Unbehagen zu bereiten. Mallagan unterhielt sich eine Zeit lang mit ihm und zerstreute seine Bedenken. Im Verlauf der Unterhaltung erhielt er sogar noch einige wichtige Informationen, die er für sein Vorhaben brauchte.
Sie vereinbarten, dass Clazzence spät am Abend zurückkehren und sich die Entscheidung der Betschiden abholen sollte.
»Ich sehe nicht ein, warum wir uns auf derart waghalsige Dinge einlassen sollen«, schimpfte Brether Faddon. »Warum verkaufen wir nicht einfach unsere Waffen?«
»Wie viel würden wir dafür bekommen?«, hielt Mallagan ihm entgegen. »Außerdem können wir nicht alle hergeben, sonst sind wir schutzlos. Vier-bis fünfhundert Tali vielleicht. Das bringt uns nicht weiter.«
Scoutie lächelte. »Ich bin froh, dass noch keiner von euch auf den Gedanken gekommen ist, Clazzence als Geisel zu nehmen. Das wäre das Ende aller Probleme, nicht wahr?«
»Der Gedanke ist mir schon gekommen«, spottete Faddon. »Aber erstens ist er in gewissem Sinn unser Wohltäter, auch wenn er an uns eine schöne Stange Geld verdient. Zweitens bin ich nicht sicher, ob er uns nicht doch letzten Endes hereinlegen würde. Der Kerl kennt sich aus, verlass dich drauf.«
»Ganz meine Gedanken«, pflichtete Mallagan bei. »Du siehst, Scoutie, deine hohe Meinung von unserer Rechtschaffenheit ist nur zum Teil gerechtfertigt.«
Sie sah ihn an. »Du hast einen Plan. Aber du willst nicht darüber sprechen?«
»Es wäre nutzlos, obendrein ein zusätzliches Risiko. Niemand weiß, wie lange wir unentdeckt bleiben. Falls man euch erwischt, möchte ich nicht, dass ihr der Schutzgarde verraten könnt, wo ich zu finden bin.«
Surfo Mallagan verließ das Haus gegen Mittag. Am Morgen hatte sich ein tropischer Wolkenbruch über der Stadt entladen, nun schien die grelle Sonne vom wolkenlosen Himmel und ließ die durchgeweichten Straßen dampfen.
Der Brunnen der Waschungen lag im südwestlichen Stadtviertel, wo die Straßen eng und winklig waren. Ein einfaches, rundes Becken mit einer in der Mitte aufsteigenden Fontäne war vom Gründer der Kolonie Keryan als Zeichen seiner Dankbarkeit für den Erfolg seines Unternehmens errichtet worden. In den vergangenen Jahren hatten die Bußbrüder den Platz mit Beschlag belegt. Sie tilgten die Sünden ihrer Kunden mit rituellen Waschungen. Zu jeder Tages-und Nachtzeit war wenigstens ein halbes Dutzend Vermummter am Brunnen zu finden.
Mallagan führte das Ritual getreulich aus. Das schuldete er Virlirey. Der Platz lag im Sonnenglast und war, von der Gruppe schwarz Vermummter abgesehen, wie ausgestorben. Am Nordrand erhob sich unter einer Reihe älterer Gebäude eines, das sechs Stockwerke in die Höhe ragte. Über dem Haupteingang hing ein Leuchtschild Interstellares Handelskontor – Warenvermittlung. Auf dieses Haus ging Surfo Mallagan zu, nachdem er die Waschungen beendet hatte.
Hinter dem großen Eingangsportal lag ein behaglicher Empfangsraum, in dem ein älterer Krane Dienst tat.
»Wir brauchen keinen Bußbruder«, knurrte er, als Mallagan eintrat und in demütiger Haltung vor seinem Schreibtisch stehen blieb. »Wir sind alle guten Mutes und haben uns nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sprich für dich selbst«, drang es unter der Kapuze des Vermummten hervor. »Ich bin hier, um Menthelep zu sehen.«
»Menthelep, den Vorsteher?«, erkundigte sich der Alte misstrauisch. »Hat er dich bestellt?«
»Nein.«
»Dann scher dich zu allen achthundert Teufeln!«, schrie der Alte und sprang auf. »Menthelep befindet sich bei ebenso guter geistiger Gesundheit wie ...«
Eine Tür im Hintergrund öffnete sich. Ein hochgewachsener, reich gekleideter Krane erschien. »Was geht hier vor? Was soll der Lärm?«
Der Alte wies mit anklagender Geste auf den Bußbruder. »Er will dich sehen – ohne Anmeldung. Er meint wohl ...«
Der Krane musterte die vermummte Gestalt. »Du hast hier nichts verloren. Ich habe keine Sünde auf mich geladen, wegen der ich deiner Dienste bedürfte.«
»Sich einen leichten Gewinn von dreißigtausend Tali entgehen zu lassen, ist das nicht eine Art Sünde?«, antwortete Mallagan.
Der Blick des Kranen wurde stechend, als wolle er den schweren Umhang durchdringen. »Komm mit!«, forderte er den Vermummten auf.
Sie betraten ein fensterloses Zimmer. Für die Beleuchtung sorgte ein riesiger Lüster aus bunten Kristallen.
»Ich bin Menthelep«, sagte der Krane. »Was willst du?«
»Dir ein Geschäft anbieten. Du stehst im Dienst der reichen Carderhör, nicht wahr?«
»Sie ist die Eigentümerin des Unternehmens«, bestätigte Menthelep.
»Sie ist eine junge und nach kranischen Maßstäben ungemein bezaubernde Frau. Es ist so bedauernswert, dass sie mitunter Gelüste entwickelt, die den Baum des rechten Lebenswandels derart betrüben, dass er traurig die Blätter hängen lässt.«
Menthelep fletschte die Zähne. »Wenn du gekommen bist, um mir Waschungen für Carderhörs Sünden vorzuschlagen, dann ...«
»O nein! Die Reichen dieser Welt haben ihre eigenen Geschmäcker. Ich bin vielmehr hier, um dir etwas anzubieten, wofür Carderhör bereitwillig ein halbes Vermögen zahlen wird. Denn sie hat ein solches Wesen noch nie zu Gesicht bekommen. Stell dir nur vor, wie viel Kurzweil sie mit ihm haben könnte.«
»Wovon sprichst du?«, fragte Menthelep barsch. »Was für ein Wesen soll das sein?«
»Ein Betschide«, antwortete Surfo Mallagan.
Menthelep streckte sich. »Du könntest Carderhör einen Betschiden beschaffen? Auf dieser Welt gibt es nur drei Betschiden, und die werden von der Schutzgarde gesucht. Es ist eine Belohnung ausgesetzt.«
»Eintausend Tali pro Kopf«, sagte Mallagan geringschätzig. »Carderhör ist an solchen Almosen nicht interessiert. Und auch du bekämst von ihr weit mehr, als die Garde dir für meinen Schützling zahlen würde.«
Die Falle war zugeschnappt. Menthelep saß fest, das sah Mallagan an seinem Gesicht. »Du behauptest also, du könntest Carderhör einen Betschiden zuführen«, sagte der Krane.
»Ich verlange dreißigtausend Tali für diesen Dienst und die Zusicherung, dass ich den Betschiden zurückerhalte, wenn Carderhör seiner müde wird. Auf keinen Fall darf er der Schutzgarde ausgeliefert werden.«
»Dreißigtausend ist zu viel!«, stieß Menthelep hervor.
»Ich bin überzeugt, dass Carderhör bereit ist, das Doppelte zu zahlen. Mich stört nicht, wie viel du dir davon nimmst, solange ich meine dreißigtausend bekomme.«
Menthelep war unruhig geworden. »Wer gibt mir die Gewissheit, dass du liefern kannst?«, fragte er schließlich.
»Ich selbst«, sagte der Vermummte. »Sieh her!« Surfo Mallagan packte die Kapuze und riss sie sich vom Kopf.
Es dauerte fünf Sekunden, bis Menthelep seine Augen wieder unter Kontrolle hatte. Dann bewegte er sich langsam auf den Arbeitstisch zu, der im Hintergrund des Raumes stand.
»Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig«, mahnte Mallagan. »Du kannst dir denken, dass ich nicht ohne Sicherheitsmaßnahmen gekommen bin. Wenn ich das Haus nicht binnen fünfzehn Minuten als freier Mann verlasse, wird die Schutzgarde informiert, dass entweder Carderhör selbst oder einer ihrer Untergebenen einen flüchtigen Betschiden beherbergt. Du kennst die Schutzgarde, sie wird sich von Carderhörs Reichtum nicht einschüchtern lassen. Also sei friedlich. Gib dich mit der Hälfte des Gewinns zufrieden und lass uns wie Geschäftsleute verhandeln.«
Menthelep überlegte. »Also gut«, sagte er schließlich, als habe er sich entschlossen, dem Rat zu folgen. »Nenne deine Bedingungen.«
»Die wichtigste kennst du: dreißigtausend. Keinen Talo weniger. In Kristallmünzen zu zehn, fünfundzwanzig und fünfzig Tali. Zu liefern an einen meiner Vertrauten, damit ich sicher sein kann, dass das Geld noch da ist, wenn Carderhör mich wieder aus ihren Diensten entlässt.«
»Das wird sich einrichten lassen«, sagte Menthelep. »Es muss dafür gesorgt sein, dass du bei der Geldlieferung zugegen bist, damit man dich gleich zu Carderhör bringen kann.«
»Dann hör gut zu und unterbrich mich nicht mit Fragen. Du weißt, in zehn Minuten muss ich wieder draußen sein ...«
Über leere, hitzeflimmernde Straßen bewegte Surfo Mallagan sich heimwärts. Niemand schenkte dem einsamen Bußbruder Beachtung. Allerdings musste er damit rechnen, dass Menthelep ihn verfolgen ließ. Er wusste über Carderhör, dass sie eine treue Untertanin der Herzöge von Krandhor war und dass sie ausgefallenen Zeitvertreiben huldigte. Sein Plan fußte darauf, dass die junge, reiche Kranin der Lust am Vergnügen den Vorzug vor der Loyalität gegenüber den Herzögen gab. Schließlich brachte sie niemanden in Gefahr. Im Gegenteil, wenn sie des Betschiden überdrüssig würde, konnte sie ihn der Schutzgarde übergeben. Das Übereinkommen war schließlich mit Menthelep und nicht mit ihr selbst abgeschlossen worden.
Was aber, wenn er sich täuschte? Falls Carderhör doch die Treue über alles stellte? Sooft er einen einsamen Straßenzug hinter sich ließ, drückte Mallagan sich in eine Deckung und blickte den Weg zurück, den er gekommen war. Er bemerkte keinen Verfolger.
Es war schon spät am Tag. Clazzences Warnung ging ihm nicht aus dem Sinn. Die Schutzgarde suchte nach dem Räuber, der einen Bußbruder überfallen hatte. Wenn man ihn anhielt, würde er entweder die Identifizierungsmarke des Überfallenen vorzeigen oder zugeben müssen, dass er keine Marke besaß. Beides behagte ihm nicht.
Warum tat er das alles? Warum verlief ihr Leben neuerdings so, als legten sie es darauf an, bei jeder Gelegenheit mit dem kranischen Gesetz in Konflikt zu geraten? War es wirklich die selbstgerechte Entrüstung darüber, dass Kranen sie zum Dienst in der Flotte gezwungen hatten?
Der Grund war eher ein anderer. Sie waren Fremde und fühlten sich nirgendwo zugehörig. Ob die Kranen sie nun zum Dienst gepresst hatten oder nicht – Surfo selbst hätte diesen Vorwurf nur zögernd erhoben; denn er erinnerte sich der Begeisterung, mit der er selbst, Scoutie und Faddon die Gelegenheit ergriffen hatten, nach dem sagenhaften Schiff der Ahnen zu suchen –, sie fühlten keine Verpflichtung, den Herzögen zu dienen. Sie waren die einzigen Betschiden in einem Reich voller Fremder. Ihre Suche hatte dem Geisterschiff gegolten, und seitdem sie dessen Wrack gefunden hatten, galt sie dem geheimnisvollen Orakel der Herzöge von Krandhor. Sie verfolgten ihre eigenen Ziele, und wo diese sich nicht mit den Absichten der kranischen Flotte deckten, mussten sie ihren eigenen Weg gehen.
Das war der Grund, warum Mallagan sich in einem schweren Gewand durch die aufgeheizten Straßen von Gruda schleppte. Er redete sich ein, es sei alles nicht seine Schuld. Er versuchte nur, aus einer verfahrenen Lage das Beste zu machen. War das verwerflich?
Er wusste es nicht.