5

Zwei Männer warteten nervös im Schatten eines hohen Lagerhauses im südlichsten Viertel Tirahs. Mitternacht war vergangen und hatte den nächsten Tag eingeläutet. Sie hielten sich nah bei dem Gebäude, das den Namen eines angesehenen Schneiders trug, und beobachteten die kleine Tür am schmalen Ende des Lagerhauses. Sie führte in das Wachzimmer, so viel war offensichtlich, aber sie hatten noch immer keine Vorstellung davon, warum der Kleinere der beiden vor drei Wochen von einem Mann mit Lomin-Akzent in die Ecke getrieben worden war und ihm mitgeteilt worden war, sie sollten in dieser Nacht, zu dieser Zeit hier warten. Ein Silbermond hatte eindringlich bewiesen, dass hier wirklich ein Auftrag wartete, aber sie vermuteten, dass ihnen für eine weitere Bezahlung mehr abverlangt werden würde, als nur zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein.
Sie waren wie einfache Reisende gekleidet und trugen trotz der späten Stunde und der mysteriösen Umstände ausschließlich lange Messer am Gürtel. Die Geister würden Leuten, die voll gerüstet durch die Straßen zogen, einige Fragen stellen wollen – es gab wegen der Krönung des Herzogs so viele Adlige, Leibwachen und livrierte Soldaten in der Stadt, dass sich jeder, der keinen Titel trug, vorsehen musste.
»Das gefällt mir nicht.«
Der Größere der beiden sah seinen Kumpan an, seufzte und holte einen Tabakbeutel aus der Tasche. »Bisher gibt es noch nichts, was einem nicht gefallen könnte, Boren.«
»Denkst du?« Borens skeptischer Blick zeitigte nur ein kurzes Lachen. Das Geräusch hallte von den hohen Ziegelwänden um sie herum wider, und Boren sah sich sofort um, ob wohl jemand dem Laut nachgehen wollte. Doch bis auf ihre Atemzüge und Borens zuckende Augenbrauen regte sich in der kalten Nachtluft nichts.
»Ich sage ja nicht, dass dies eine so günstige Situation ist«, fuhr der andere Mann fort. »Aber denk daran: Wir haben nichts Verbotenes getan. Wir haben auch so schon genug Feinde, aber keinen davon so weit im Westen. Wir sind nicht für den Kampf gerüstet, wir haben in fünfzig Meilen Umkreis kein Gesetz gebrochen, und ein Dieb würde seine Anwesenheit beim Ausspähen eines Hauses nicht dadurch verraten, dass er raucht. Und darum werde ich genau das tun, während wir warten.«
»Trotzdem finde ich, dass es Irsinn ist, herzukommen, ohne auch nur irgendwas zu wissen, Kam.«
»Nun, das ist dann doch auch wohl der Grund dafür, warum ich das Sagen habe«, bemerkte Kam, und die Worte wurden von der Pfeife gedämpft, die er eben entzündete. »Unser Freund wies uns an, hier zu sein, und sagte, dass Geld zu holen sei – reicht das nicht? Wenn du mir nichts verschwiegen hast, bist du genauso pleite wie ich, und darum nehme ich für Bares auch gern ein kleines Geheimnis in Kauf.«
»Mich stört es aber.«
»Dich stören viele Dinge.«
Boren zog die Nase hoch und kratzte sich den struppigen Bart. »Du bist also glücklich damit, dass mir ein adliger Ausländer sagt, dass wir ihn hier um Mitternacht treffen sollen? Der Jägermond ist schon vor einer Stunde untergegangen, und der Mistkerl ist noch immer nicht aufgetaucht. Das erscheint mir verdächtig.«
»Dir erscheint alles verdächtig«, gab Kam zurück. »Wir haben uns doch abgesichert, und die anderen halten auch die Augen offen, also überlass die ganze Angelegenheit getrost mir. An Stelle unseres adligen Freundes würde ich mir erst einmal das Viertel ansehen, um herauszufinden, wer uns begleitet. Das bedeutet, dass er uns warten lässt, und da wir den Auftrag dringend brauchen, werden wir ihm die Zeit geben.«
Boren antwortete mit einem unverständlichen Murmeln, aber Kam nickte trotzdem dazu und zog an seiner Pfeife. Der Schatten wurde wieder still, und Kam ließ seinen Blick erneut aufmerksam über die Gebäude und Straßen um sie herum gleiten. Er hatte gute Ohren. Ein Leben als Jäger im waldreichen Lordprotektorat Siul hatte seine Instinkte geschult, also vertraute er ihnen. Sie waren keine Söldner — sie hatten kein solches Leben geführt –, aber ihr Zuhause lag nah genug bei den unbesiedelten Bereichen des Großen Waldes, dass sie schon in jungen Jahren das Kämpfen gelernt hatten. Männer wie sie bildeten normalerweise das Gros der Farlan-Armee, aber Kams Dorf und die anderen in der Nähe wurden zu oft Opfer von Elfenüberfällen, als dass sie jemanden hätten erübrigen können. Der Sold beim Heer war nicht hoch genug, um die Männer dazu zu verführen, ihr Zuhause ungeschützt zurückzulassen. Ruckartig hob er den Kopf, denn er hatte Schritte gehört.
»Meine Herren, ihr seht aus, als sei euch kalt.«
Sie drehten sich eilig herum. Hinter ihnen, in der bei Kams letztem Blick noch leer gewesenen Gasse, stand ein Mann im Bärenfellmantel mit dicken Handschuhen. Ein breitkrempiger Hut verdeckte sein Gesicht. Die Kleidung verriet eindeutig, dass er keine Nachtwache war.
»Ist er das?«, fragte Kam, behielt den Neuankömmling dabei jedoch im Blick. Er sah ein Rapier an der Seite des Mannes und war sich nur zu bewusst, dass er selbst keine anständige Waffe trug. Boren nickte.
»Ich bin es, ja«, sagte der Fremde. »Und ich möchte, dass ihr jemanden kennenlernt.« Die Stimme offenbarte Kam, dass der Mann deutlich älter war als er selbst, aber er verließ sich nicht darauf, dass er ein Alter erreicht hatte, in dem er mit dem Rapier zu langsam geworden war. Auf dem Schlachtfeld war eine so schlanke Klinge zu nichts nütze, doch auf einer leeren Straße konnte sie durch ihre Reichweite und Schnelligkeit den meisten Waffen überlegen sein. Der Mann streckte seine Handflächen nicht zum traditionellen Gruß aus, nicht einmal, als Kam und Boren es nach kurzem Zögern vormachten.
»Wo?«, fragte Kam, bevor diese geringfügige Beleidigung aufgebauscht werden konnte.
Der Mann wies auf die Tür, die sie die ganze Zeit beobachtet hatten und ging darauf zu. Boren trat unwillkürlich beiseite, um ihn vorbeizulassen und den Weg zu weisen. Dabei neigte er den Kopf. Er beschloss, es eher als Höflichkeit zu verstehen und nicht für Vorsicht zu halten. An der Tür angekommen, klopfte er zweimal, dann wandte er sich um und bedeutete Kam und Boren, heranzukommen. Sie folgten der Aufforderung misstrauisch, die Hände auf den Messergriffen, und behielten die Umgebung im Auge. Als sie die Tür erreichten, schob der Mann sie auf, trat ein und hielt sie, um die beiden einzulassen.
Kam spähte hinein. In der Mitte des Raumes stand eine Lampe auf einem Tisch, die eine Frau in einem langen Umhang beleuchtete. Sie hatte die Kapuze noch nicht zurückgeschlagen und saß vor einem kleinen schwarzen Ofen und einigen aufgestapelten Kisten. Die Wärme des Ofens lockte ihn, sofort einzutreten, aber vorher sah er sich im Raum vorsichtshalber noch einmal um. Als sie schließlich eintraten, schloss der Mann die Tür sofort hinter ihnen.
Er wies auf die Kisten. »Hinsetzen.«
Kam erstarrte, als er die veränderte Tonlage des Mannes bemerkte. Das höfliche Getue war nun verschwunden. Jetzt klang er unverkennbar wie ein Adliger, der gewohnt war, dass man seinen Befehlen umgehend Folge leistete.
Und warum? Was hat sich verändert? Nur die Frau ist neu. Ein Hund will vor seiner Herrin gut dastehen. Interessant. Er warf seinem Kumpan einen Blick zu, und sie ließen sich wie befohlen auf den Kisten nieder. Der Adlige stand bei der Tür, die Hand am Rapier, und das verriet Kam alles, was er wissen musste. Der Hund hält jetzt Wache, aber wer nutzt schon einen Adligen als Botenjungen? Vielleicht war das alles hier doch keine so gute Idee …
»Jendel Kam und Litt Boren, edle Dame.«
»Meine Herren«, sagte die Frau. »Bitte lasst euch von den übertriebenen Posen nicht einschüchtern.« Ihr Gesicht lag im Dunkeln, von dem Licht der Lampe sorgsam abgeschirmt.
»Warum nicht?«, antwortete Kam ruppig und überhörte das leise Scharren, mit dem der Mann vor der Tür die Haltung änderte. Er rümpfte die Nase. Der Geruch der Dame passte keineswegs zum Gestank nach altem Schweiß und Pfeifenrauch. »Versteht mich nicht falsch, ich will keinen Ärger, aber ich mag es auch nicht, wenn ich das Gesicht meines Gegenübers nicht sehen kann, und das gilt besonders, wenn ich gar nicht weiß, warum ich mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt schleiche.«
»Das ist nur allzu verständlich«, antwortete sie, machte aber keine Anstalten, ihr Gesicht zu offenbaren. »Ihr seid hier, weil man euch Geld dafür gab und weil man euch einen Auftrag versprach.«
»Das ist wohl richtig, und darum will ich jetzt auch wissen, was für ein Auftrag das sein soll«, sagte Kam ruhig. »Wir sind nämlich keine Söldner, Diebe oder Meuchelmörder! Warum also wir?«
»Weil ich einen Auftrag für euch habe und nur ein Narr ihn annehmen würde.«
»Nennt Ihr uns Narren?«, grollte Boren, aber Kam legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Nach welcher Sorte von Narr sucht Ihr denn?«, fragte Kam.
»Wer kann schon einen Narren gebrauchen?«
Kam unterdrückte ein eigenes Knurren. Das hasste er an den Adligen am meisten: diese ruhige, gefühllose Art zu sprechen, hinter der sie gelernt hatten zu verbergen, was sie wirklich dachten. Dadurch klangen sie immer arrogant, ob sie es nun darauf anlegten oder nicht, und das machte ihn wütend. »Also, wonach sucht Ihr dann?«, wiederholte er.
»Männer, die schlau genug sind, sich vorgeblich wie Narren zu verhalten.«
»Es reicht, könnt Ihr nicht einfach klar sagen, was Ihr wollt?«
Die Frau wandte sich halb dem Mann an der Tür zu. Etwas lief zwischen ihnen ab, aber Kam wusste nicht, was genau es war, und dann schlug sie ihre Kapuze zurück. Darunter kam eine Frau mittleren Alters mit tiefen Falten um die Augen zum Vorschein. Sie trug das Haar kurz, und der einzige Schmuck war ein milchigweißer Perlenanhänger an einer dicken Silberkette. Um ihren Hals war ein rotes Trauerband gebunden.
»Ich hoffe, ihr vergebt mir, dass ich erst herausfinden musste, mit welcher Art von Männern ich hier spreche, bevor ich meine Geheimnisse aufdecke«, sagte sie leise.
Kam war überrascht. Ihre Stimme klang angestrengt, und aus ihrer Antwort konnte er heraushören, dass sie fast am Ende war, so dass nicht einmal mehr Jahre der Erziehung ausreichten, um die Gefühle völlig zu verbergen.
»Das ist Euer gutes Recht«, sagte er eilig. »Aber wir haben hier keinen Vorteil. Ihr kennt unsere Namen und wisst vermutlich auch, woher wir stammen. Und im Vergleich zu uns seid Ihr – meine Ehrlichkeit stößt Euch hoffentlich nicht bitter auf – eine mächtige Frau, und allein darin liegt eine unausgesprochene Drohung.«
»Ihr glaubt, ich hätte euch hergeholt, um euch zu bedrohen?«
»Nein, aber die Drohung steht trotzdem im Raum.« Kam hob beruhigend die Hand. »Ich sage nur, wie ich die Sache sehe. Ich bin arm, Ihr seid es nicht. Wenn Ihr einen Auftrag für mich habt, dann ist er gefährlich, und Ihr seid bereit, dafür zu zahlen, aber Ihr seht nicht so aus, als würdet Ihr eine Ablehnung hinnehmen.«
»Ich hoffe doch, dass meine Informationen über euch etwas umfassender sind«, sagte sie und hielt den Kopf noch einige Momente stolz erhoben, aber dann wurde es zu anstrengend, und sie sank auf ihrem Stuhl zusammen. »Ich stimme euch in dem, was ihr sagt, zu, auch wenn ich es nicht so ausgedrückt hätte. Ihr habt durchaus Recht, ich kann es mir nicht leisten, dass ihr ablehnt, und ich habe Vertraute, die sich eurer annehmen, wenn mir etwas zustößt.« Sie hob den müden Blick wieder. »Aber ich hoffe, dass es nicht dazu kommen muss, darum möchte ich euch folgendes Angebot unterbreiten: Zwanzig Goldkronen für jeden von euch und eure Männer und dazu die Zusicherung, dass jedes Dorf, aus dem sie stammen, in der näheren Zukunft verstärkten Schutz erhalten wird.«
Kam musste sich erst wieder fassen, bevor er antworten konnte. Dieser Lohn war unfassbar – niemand in seinem Dorf konnte darauf hoffen, in einem ganzen Jahr so viel zu verdienen –, aber es war vor allem der letzte Teil ihrer Aussage, der den Handel schloss. Gleichgültig, was er dagegen einzuwenden hatte, sie alle würden den Auftrag annehmen. Der Schutz für das eigene Dorf war etwas, das man nicht so einfach mit Gold kaufen konnte, vor allem, weil dann Fragen aufkämen, woher das viele Geld stammte.
»Kronen nützen uns nichts. Die Gemeinen werden nicht mit Gold bezahlt, nur Diebe«, warf Boren ein und sprach damit eine von Kams Sorgen aus.
Sie lächelte matt. Das war das geringste Problem. »Gut, dann eben vierhundert Silbermonde für jeden.«
Kam nickte. »Das wird gehen. Aber bei einer solchen Menge Geld ist es sehr wahrscheinlich, dass wir alle dabei sterben – und das Geld nützt meiner Familie nichts, wenn man es meinem Leichnam stiehlt.«
»Ich schicke euch einen meiner Vasallen, der den Platz eines eurer Männer einnehmen wird. Ihr könnt euren Mann dann mit jeder gewünschten Summe Geld zurückschicken, und mein Vertrauter hier wird alles, was noch übrig ist, nachbringen. Aber wählt einen jungen Mann aus. Dieser Auftrag ist für junge Menschen nicht geeignet.«
Wieder erahnte Kam Gefühle in ihrer Stimme und erkannte mit einem Mal, dass ihre Worte genau den Kern der Sache trafen. O ihr Götter, kann sie wirklich die sein, für die ich sie halte?
»Ich will trotzdem nicht zur Leiche werden, und möge es auch eine reiche Leiche sein«, sagte Kam, und Boren nickte bekräftigend.
»Das verstehe ich«, sagte die Dame. »Und doch werden im Verlaufe dieses Auftrages viele, wenn nicht alle von euch sterben.«
»Was für ein Angebot soll das sein?«, stieß Boren aus und sah aus, als wolle er aufstehen und gehen, aber Kam drückte seinen aufgebrachten Freund wieder sanft auf die Kiste.
»Ich denke, ich verstehe«, sagte Kam langsam. »Aber können wir Euch vertrauen? Es gibt keinen Grund, warum Ihr uns am Leben lassen – oder warum Ihr Euch mit unseren Dörfern in Verbindung setzten solltet, wenn wir erst tot sind. Wenn Euer Freund das Geld bringt, legt er damit eine Spur, die zu Euch zurückverfolgt werden kann, und das könnt Ihr nicht riskieren.«
»Warum ihr mir vertrauen solltet? Das könnt ihr wohl tatsächlich nicht, aber ich denke doch, dass ihr wisst: Ihr könnt euch auf mein Wort verlassen.« Sie seufte. »Du hast erraten, wer ich bin, und die erwähnte Spur spielt kaum noch eine Rolle.«
Kam dachte darüber nach, versuchte die Teile in seinem Kopf zusammenzusetzen und beachtete Borens verwirrten Gesichtsausdruck nicht weiter. Er unterdrückte auch die plötzlich aufsteigende Abscheu.
»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung, aber man erzählt nichts Gutes über Euch«, erklärte er. »Euer Wort könnte auch wertlos sein.«
Nichts Gutes?, schrie ihn seine Stimme aus jüngeren Jahren an. Du verfluchte, verräterische Hurenschlampe, du willst mich mit dir in den Untergang hinabreißen, willst, dass man meinen Namen in einem Atemzug mit deinem verflucht, willst mich vielleicht sogar zum Dunklen Ort schicken, damit du siehst, was dort auf dich wartet?
Er schwieg, ballte aber die Fäuste, um sich daran zu hindern, das Messer zu ziehen.
Ich bin vielleicht arm, aber ich bin verdammt noch mal kein Verräter … doch …
Aber ich habe Familie und besitze kaum genug, um sie über den Winter zu bringen. Und es gibt Gerüchte, dass die Elfen erneut angreifen werden, wenn der Sommer kommt. Das letzte Mal haben wir nur knapp überlebt. Die Vorreiter des Heeres haben uns im letzten Winter fast erwischt. Wäre Borens Junge nicht dem dummen Hund hinterhergelaufen, wären sie ohne Vorwarnung über uns gekommen …
»Nun, ich weiß nicht, wer Ihr seid«, sagte Boren und riss Kam damit aus den grausamen Erinnerungen an den letzten Winter. »Wie wäre es, wenn Ihr es mir verratet, damit ich bei diesem Handel mitreden kann?«
Sie hob das Kinn und sagte: »Ich bin die Witwe des Herzogs von Lomin.«
Boren schaffte es, sein überraschtes Aufzischen abzuschneiden. Jetzt musste er den Mund halten, denn Kam und er waren schon ihr ganzes Leben lang Freunde, und er wusste, dass er Kams Verstand eher trauen konnte als seinem eigenen Temperament. So verschränkte er die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. Kam kannte dies als Zeichen dafür, dass Boren die nächsten Worte später bereuen würde, sollte er sie denn aussprechen.
»Ich vermute, dass es nur eines gibt, was Ihr von uns wollt, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie wir Euren Sohn aus dem Gefängnis befreien könnten. Wir sind nur zwanzig Mann, und ich bezweifle, dass Lord Isak Eurem Sohn viele Vergünstigungen zugestanden hat. Wenn er im Kerker der Stadt einsitzt, sind uns die gewöhnlichen Wachen schon drei zu eins überlegen
– und wenn er in den Zellen im Palast sitzt, ist uns eine ganze Einheit Geister im Weg.« Kam lehnte sich vor, wobei die Kiste unter ihm knackte. »Es tut mir wirklich leid, edle Dame, aber ich verstehe gar nicht, was Ihr von uns erwartet.«
»Ihr liegt richtig damit, dass mein Sohn im Palast gefangen gehalten wird«, sagte sie. »Aber seine Verhandlung wird entweder eine Sache der Öffentlichkeit sein, in welchem Fall sie im Tempel des Rechts auf dem Irienn-Platz stattfinden wird. Oder – wenn die Synode Erfolg mit ihren Bemühungen hat, den Prozess an sich zu reißen, wird er an einem noch zu bestimmenden Ort stattfinden — allerdings glaube ich nicht, dass es so weit kommt. Ich schicke morgen einen Mann zu euch, der die Baupläne des Tempels des Rechts mitbringt, wohin mein Sohn für die Verhandlung gewiss gebracht werden wird.«
»Dann ist Herzog Certinse nicht mehr im Palast, aber das nützt uns nicht viel. Sogar wenn Ihr uns eine ganze Kompanie Leibwachen schicken solltet, wären die Geister, die ihn bewachen, in der Überzahl. Ich frage darum erneut: Was sollen wir tun?«
Ihre Lippen zitterten kurz, sie rang um die Beherrschung.
Er ist ihr einziges Kind, das ist der Grund, warum ihre Versprechen etwas wert sind. Alles mag wahr sein, was man über sie sagt, aber das ändert nichts daran, dass sie ihren Sohn über alles im Land liebt.
»Ihr sollt tun«, sagte sie mit gemessenen Worten, »was immer euch möglich ist, um zu helfen. Für den Fall, dass es eine Chance gibt, meinen Sohn zu befreien, habe ich Männer mit Pferden bereitstehen und werde den Rest meines Vermögens darauf verwenden, euch und eure Familien zu unterstützen. Wie es auch ausgehen mag, mein Vertrauter hier wird nicht daran beteiligt sein. Er wird nach Siul zurückkehren und die Truppen aufstellen, die eure Dörfer bewachen. Außerdem wird er die versprochene Bezahlung übergeben.«
»Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass die Chancen gut stehen, Euren Sohn zu befreien?«, fragte Kam und bereute seine Worte sofort, denn nun begannen die angedeuteten Tränen aus den Augen der Herzogin zu fließen.
»Daran müsst ihr mich nicht erinnern«, sagte sie, als sie nach einem Augenblick die Fassung wiederfand. »Aber ihr erlaubt mir doch, an meiner Hoffnung festzuhalten? Das ist alles, was ich noch habe.« Sie richtete sich auf, wischte die Tränen jedoch nicht weg. »Es gibt da noch einen anderen Dienst, den ihr ihm leisten könnt.«
»Nämlich?«, sagte Kam fragend, bis ihm die einzige öffentliche Hinrichtung wieder einfiel, die er bisher gesehen hatte. »O ja, ich verstehe.«
»Das ist es, was ich von euch verlange«, sagte die Herzogin gestelzt. »Dieser Weißaugenabschaum will meinen Sohn als Verräter hinrichten lassen. Der Prozess stellt ein lächerliches Schauspiel dar, dessen Ausgang bereits beschlossene Sache ist. Ich weiß nicht, was für eine Art von Hinrichtung Lord Isak plant, aber ich bin sicher, dass ihm keine Demütigung zu groß ist. Um, wie ihr wünschtet, klare Worte zu finden: Ich werde für eure Familien tun, was in meiner Macht steht, falls ihr ebenso mit meiner Familie verfahrt. Wenn ich meinem Sohn nur einen Tod in Würde schenken kann, dann ist es mein Wille, Lord Isak diese letzte Grausamkeit zu versagen, nachdem er neben anderen Verbrechen schon unser Haus geplündert, den Namen unserer Familie besudelt und meinen Bruder getötet hat.
Ich wählte euch gerade deswegen aus, weil ihr keine Söldner oder Meuchelmörder seid. Ich erwarte nicht, dass auch nur einer von euch dies lebend übersteht, und das wird ihnen zum Verhängnis werden. Sie vermuten nicht, dass jemand ohne Gedanken an die Auswirkungen handelt. Ich weiß, dass ihr nicht sterben wollt. Ich glaube, ihr seid gute Männer, aufrechte Männer. Und ich glaube, dass ihr diese große Gefahr zum Wohle eurer Familien eingehen werdet, und ich verspreche euch hier und jetzt, dass es der Entlohnung keinen Abbruch tut, wenn ihr scheitert und dabei euer Leben gebt …« Ihre Stimme verklang.
Kam bemerkte, dass er die Luft anhielt, bis sie weitersprach, diesmal mit einer Entschlossenheit, die bis in sein Herz drang.
»Ihr seid Männer, die alles für ihre Familien tun würden, und ich glaube, darin sind wir uns ähnlich. Ich werde alles daran setzten, eine Ablenkung zu schaffen. Und wenn ich auch nur einem von euch durch meinen Tod die Möglichkeit gebe, seine Kinder wiederzusehen, so werde ich mein Leben mit Freuden geben.«
»Es heißt, Ihr wäret eine Magierin, da Ihr Pakte mit Dämonen schließt«, flüsterte Boren, und Kam zuckte zusammen, als seine Stimme erklang.
Die Herzogin schüttelte traurig den Kopf, statt wie Kam erwartete hätte, wütend zu werden. »Diese Macht besitze ich nicht und die Magier, die in meinen Diensten standen, sind alle tot. Ich habe jedoch etwas, das für die nötige Ablenkung sorgen wird, aber ich bin nicht sicher, wie gut es wirken soll, darum mag es sein, dass ich nur dadurch helfen kann, dass ich mich offen zu erkennen gebe. Rechnet nicht damit, dass es mehr bewirken wird, als dass alle für eine ganz kurze Zeit in eine andere Richtung blicken.«
Kam warf Boren einen Blick zu und erhob sich. Der Ärger war verflogen.
»Ich muss die Angelegenheit mit den anderen besprechen. Wenn Euer Mann uns morgen aufsucht, habe ich eine Antwort für Euch.«
»Danke«, sagte sie mit hohler Stimme. »Einst hätte ich gesagt, dass ich euch für immer in meine Gebete einschließen werde. Aber ich habe nun gar keine Gebete mehr in mir. Ihr seid mein letztes Gebet – ich ertrage es nicht länger, die Götter anzuflehen, die sich doch offensichtlich nie um uns geschert haben. Aber vielleicht ist uns die Dame ja gewogen und schenkt euch wenigstens für einen Tag Glück.«