14

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»Was soll das heißen, Ihr wisst es nicht?«, brüllte Natai Escral, Herzogin von Byora, über ihre Frühstückstafel hinweg. Ziel ihres Ärgers war ein bleicher Marschall mit dem Namen Harin Dyar, der unter der Wucht ihrer Frage sogleich zusammensank. Natai saß kerzengerade und wies mit einer vollen Gabel auf den ungewöhnlich schmutzigen Offizier.

»Was soll ich mit ›weiß ich nicht‹ anfangen?« Sie saß allein am Tisch. Es war zwar auch für ihren Mann gedeckt, aber der war wegen wichtiger Staatsangelegenheiten wie üblich schon früher aufgestanden. Hinter ihr fing ein Kind zu weinen an. Es war Minnay, ein Kleinkind im Krabbelalter, eines aus dem Dutzend von Mündeln, derer sie sich angenommen hatte. Die dürre Frau, die sie Eliane nannte, stand daneben und hielt den zufriedenen Ruhen im Arm, der eine halbe Stunde unter Natais Obhut herumgekrabbelt war.

Gut, ich habe ihn nicht geweckt, dachte sie lächelnd. Ich möchte ihn nicht zum Weinen bringen, dieses Geräusch zerreißt mir das Herz.

»Äh, Euer Gnaden, Hale ist praktisch abgeriegelt«, stammelte Dyar. »Ich bekomme einfach keinen Mann hinein, um Erkundigungen anzustellen.«

»Abgeriegelt?«, zischte sie, noch immer wütend, sich nun aber wieder Ruhens Anwesenheit bewusst. »Ihr wollt sagen, dass Ihr es einer Handvoll alter, verkrüppelter Männer erlaubt habt, meine Soldaten aus meiner eigenen verdammten Stadt auszusperren?«

»Euer Gnaden, wir müssen uns den Weg in dieses Viertel mit Gewalt bahnen«, widersprach Dyar, »und dafür habe ich nicht genug Männer. Hales Pönitente sind meinen Männern gegenüber in der Überzahl.«

»Marschall, wie kann es sein, dass Ihr nicht einmal in der Lage seid, mir zu sagen, was passiert ist? Warum beherrscht die Wache von Byora diese Straßen nicht?« Sie sah sich um, als könnten ihre Mündel – oder die vier Ammen, die sich um sie kümmerten  – eine Antwort liefern, die Dyar nicht zu bieten hatte. Der Raum, einer der größten des Palastes, war einst das Gemeinschaftszimmer des Harems gewesen, das ihrem Großvater gehört hatte. Es war prächtig und elegant und Natai verbrachte den Großteil ihrer Freizeit hier, umgeben von Kindern.

Niemand sagte etwas, alle Ammen sahen beiseite, um ihrem Blick nicht begegnen zu müssen. Eliane starrte zu Boden – aber sie tat ohnehin selten etwas anderes. Seitdem sie davor bewahrt worden war, auf dem Criers-Platz totgetrampelt zu werden, hatte Elianes schrecklich dürrer Leib jedem Versuch widerstanden, ihn aufzupäppeln. Auch hatte ihr niemand auch nur ein Wort über ihre Vergangenheit entlocken können. Sie gab vor, keine Erinnerung daran zu haben, was vor ihrer Ankunft in Byora geschehen war, aber Natai glaubte ihr nicht. Etwas in Elianes Augen wies sie als verstörte Seele aus. Es war eine Angst, so groß, dass sie zu einem Teil von ihr geworden war. Trotz ihres kränklichen Aussehens blieb ihr Milchfluss gesund, und Ruhen ging es sehr gut, obwohl seine Mutter langsam zerfiel. Sie umklammerte ständig dieses verdammte Buch und fing wie ein Dämon zu kreischen an, wenn es ihr jemand wegnehmen wollte.

»Euer Gnaden?«, rief eine Stimme.

Natai hob ruckartig den Kopf, sah Dyar an, erkannte dann aber, dass ihre Diener verwundert auf einen der Soldaten bei der Tür starrten.

Was im Namen der Götter? Wer ist dieser unverschämte … Natais Gedanke blieb unvollendet, denn sie erkannte das Gesicht wieder. Er trug das blutrote Wams und die schwarzen Hosen ihrer Wache, aber er hatte zudem lange, gepanzerte Handschuhe angelegt. Die Uniform schien makellos, aber die Handschuhe aus blau schimmerndem Metall, umwickelt mit im Zickzack verlaufenden Schnüren, waren abgenutzt. Sie riefen eine Erinnerung hervor.

Ah, Ruhens Beschützer, natürlich, sagte sich Natai im Stillen. »Sergeant Kayel, nicht wahr?«, fragte sie.

Er salutierte ungeschickt. »Es ehrt mich, dass Ihr Euch an mich erinnert, meine Dame.«

Meine Dame? Ich bin nicht die Braut irgendeines verdammten Händlers, dachte sie, aber bevor sie den Mann maßregeln konnte, wandte sie sich unwillkürlich Eliane und dem Kind zu. Ruhen lächelte zu den Vögeln hinauf, die auf den Bildern verschiedene Aspekte von Illit und Vellern umringten. Der ganze Raum war so geschmückt – was für junge, unschuldige Kinder erheblich gesünder war als die ursprünglichen Bilder. Sie zögerte, gefangen von Ruhens strahlendem Lächeln, und als sie wieder zu sich kam, war ihr Ärger verpufft.

Sie wandte sich wieder dem Soldaten zu. »Möchtet Ihr noch etwas hinzufügen, Sergeant?«

»Ja, Euer Gnaden. Ich bin in der letzten Nacht in Hale gewesen. Ich weiß nicht genau, was da vor sich geht, aber ich habe eine große Unordnung in Alterrs Tempel bemerkt … eine junge Novizin sprach davon, dass der Hohepriester gestorben sei.«

»Lier ist tot?« Natai wurde kreidebleich. »Ihr Götter, wie konnte das passieren? Ihr sagtet Unordnung, was für eine Unordnung?«

Kayel grinste. »Es sah aus, als wäre er von einer Belagerungswaffe getroffen worden, nur dass die Wände der größeren Kammer von innen nach außen durchbrochen wurden, nicht umgekehrt. Es laufen viele bewaffnete Pönitente dort herum, und sie haben richtig schlechte Laune. Jemand sagte etwas davon, dass die Dame oder eine Priesterin der Dame beteiligt gewesen sei.«

»Die Dame? Könnte das eine Fehde zwischen den Tempeln sein?« Natai verstummte, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. »Eine Fehde zwischen den Göttern?«

»Vielleicht, meine Dame, aber die Leute dort sind sehr wütend, und die Männer rennen auf der Suche nach einem Sündenbock herum.«

»Was habt Ihr mitten in der Nacht im Tempel zu suchen?«, fragte sie, antwortete dann aber doch selbst: »Ah, ein kleines Gebet in Etesias Tempel?«

Kayle scharrte mit den Füßen. »Ich habe auch im Tempel Tods ein kurzes Gebet gesprochen.«

»Wollt Ihr damit andeuten, dass ich einen ausgewachsenen Aufstand hervorrufe, wenn ich Truppen ausschicke, um die Sache zu untersuchen?«

»Ich sage nur, dass sie so auf mich wirkten, als wäre ihnen jeder Vorwand recht, um einen Kampf vom Zaune zu brechen. Und dann bleibt es vielleicht ohnehin nicht bei einem Aufstand.«

»Habt Ihr dann Marschall Dyar einen Vorschlag zu machen?« Sie wollte damit nur die Unfähigkeit des Marschalls verspotten, aber Kayel zögerte nicht zu sagen: »Sucht Euch einen Magier, der herausfindet, was passiert ist. Wenn das Viertel dann wieder zugänglich ist, solltet Ihr einige Männer ohne Uniform hinschicken, die nachsehen, wer am meisten redet und wer die Schuldzuweisungen auf den Lippen trägt. Es gibt immer einen Mistkerl, dem es egal ist, was wirklich passierte – und der sich nur fragt, wie er so etwas für seine Zwecke missbrauchen kann.«

»Glaubt Ihr wirklich, dass sich die Lage derart aufschaukeln wird?«

Der Sergeant zuckte die Achseln. »Wollt Ihr es denn darauf ankommen lassen? Wollte der Hohepriester von Alterr Euch nicht vorschreiben, wie Ihr die Stadt regieren sollt?«

Natai lachte bei dem, was er da andeutete, beinahe auf, bemerkte dann aber, dass er es ernst meinte.

»Würde mich nicht wundern, wenn sie es selbst gemacht hätten«, fügte Kayel hinzu, »aber ich wette, dass man Euch trotzdem die Schuld zuschiebt.«

Sie blickte auf das vernachlässigte Frühstück. Die Runde Stadt war eine Brutstätte für Intrigen. Vier getrennte Bereiche – und bis vor Kurzem vier unterschiedliche Herrscher. Die Anführerinnen des Weißen Zirkels aus Fortinn waren geflohen und das Viertel wurde nun von einem Triumvirat beherrscht, das von den anderen drei verbliebenen Herrschern ernannt wurde. Es war eine Übergangslösung, die sie selbst vorgeschlagen hatte.

Der dicke Erwählte Ilits, Lord Celao, war nur schwer zu überzeugen gewesen, aber wenigstens Kardinal Sourl hatte sich als schlau genug erwiesen, um zu erkennen, dass sie Recht hatte. Die Stadtgeschäfte würden auch so schon genug gestört werden, und von allen Seiten hagelte es schlechte Nachrichten. Natürlich würden sie noch immer ihre Spielchen miteinander treiben. Doch sie hatten eingesehen, dass es Irrsinn wäre, einen offenen Krieg um die Kontrolle in Fortinn zu führen.

Jeder von ihnen könnte hinter dieser Sache stecken, begriff Natai. Beiden würde ein religiöser Aufstand hier nützen. Ihr Götter, sie werden doch nicht etwa zusammenarbeiten? Nein, das ist zu weit hergeholt. Selbst mit ihrer unlängst erwachten Frömmigkeit würde ein Bündnis zwischen den beiden nicht lang genug halten, um so etwas ordentlich zu planen.

»Marschall, schickt alle Eure Männer auf die Straße, vor allem in Münze, Rad und Bierbruch. Macht deutlich, dass sie das Tagesgeschäft der Bürger nicht stören sollen.«

Erneut stach sie mit der Gabel in seine Richtung, um ihre Aussage zu untermauern.

Der Mann verneigte sich und eilte hinaus, wobei er die Erleichterung auf seinem Gesicht gar nicht zu verbergen suchte. Seine beiden Gehilfen folgten ihm auf dem Fuße. Als sie hinausgingen, kam der Oberste Rat der Herzogin neben dem Herzog ins Zimmer … und sie atmete erleichtert auf. Endlich würde sie etwas Nützliches erfahren. Ihr Ehemann sah besorgt aus, aber Sir Arite Leyen bot den üblichen, gefassten Anblick. Er musterte die Gesichter im Raum und verbeugte sich dann.

»Sir Arite, wo wart Ihr?« Sie hob die Hand, um jede Antwort im Keim zu ersticken. »Nein, eigentlich ist es mir egal, sagt mir nur, was Ihr wisst. Und das sollte besser etwas mehr sein, als ich von diesem Sergeant erfahren habe. Oder ich könnte mich geneigt fühlen, ihm die Leitung des Geschlossenen Rates zu übergeben.«

Er antwortete lediglich mit einer zweiten Verbeugung auf diese Drohung. Das war bemerkenswert, denn eigentlich fand Sir Arite stets die Zeit für einen albernen Scherz. »Euer Gnaden, ich hatte im Turm des Vier mit Magier Peness zu tun.«

Sie stellte sich den dünnlippigen Magier mit dem runden Gesicht vor, das aus den Fugen zu geraten schien, wenn er lächelte. »Peness? Was will diese kriecherische kleine Kröte denn?«

»Nur seinem Herrscher helfen«, versicherte ihr Sir Arite und warf dann einen bedeutsamen Blick zu den Umstehenden.

»Sergeant, bitte bringt die Kinder in ihre Zimmer zurück«, befahl Natai.

Kayel wirkte von dem Befehl überrascht, zögerte aber nur kurz, dann setzte er sich in Bewegung. Die Kinder und ihre Ammen warfen einen einzigen Blick auf den großen Soldaten mit dem vernarbten Gesicht, dann flohen sie, sogar Eliane, was bei der Herzogin etwas Verärgerung hervorrief. Sie hatte Ruhen heute Morgen noch etwas länger halten wollen, um die Last des Herrschens unter dem Blick seiner dunklen, kleinen Augen dahinschmelzen zu lassen.

Diese hypnotischen Augen.

Elianes Augen waren grau und stumpf, kein Vergleich zu den Schattenwirbeln in Ruhens Augen. Wenn Natai leise und sanft mit ihm sprach, schien er ihre Worte aufzusaugen, in ihrer Liebe zu schwelgen, obwohl er noch so jung war. Der Säugling lag dann ruhig in ihren Armen und sah sie mit unglaublicher Inbrunst an, blinzelte dabei kaum. Sein Blick bedeutete für sie eine Erholung, die ihr der Schlaf nicht mehr bieten konnte.

Dann schüttelte sie die Erinnerung ab und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Sie würde später noch genug Zeit für Ruhen haben. »Sergeant, bleibt hier. Ihr anderen verschwindet.« Sie bemerkte Sir Arites Überraschung und sagte: »Er war letzte Nacht in Hale und scheint der Einzige zu sein, der etwas weiß.«

»Wie Ihr wünscht, aber meine Neuigkeiten sind recht alarmierend.«

»Sagt mir zuerst, ob Sourl oder Celao – wer steckt dahinter?«, fragte sie und rang mit sich, um die ernste Ausstrahlung wiederzuerlangen, für die sie bekannt war.

»Ich vermute keiner von beiden, auch wenn ich wünschte, sie steckten gemeinsam dahinter«, sagte Sir Arite schließlich. Er warf dem großen Soldaten einen misstrauischen Blick zu und Kayel erwiderte ihn unbeeindruckt. »Euer Gnaden, ich denke wirklich, dass es besser wäre …«

»Jetzt sagt schon.«

Ob ihres Ausdrucks sank er etwas in sich zusammen. »Peness sagte, dass in der letzten Nacht große Mengen Magie gewirkt wurden – eine erschreckende Menge ungeformter Energie.«

»Große Worte.«

»Der Mann hatte Angst.« Er lehnte sich vor und sprach leiser. »Peness ist einer der mächtigsten Magier der Stadt, und er hatte Angst vor dem, was er da beschrieb.« Die Worte standen im Raum, bis Kayel scheinbar unbeeindruckt schnaubte.

»Hat er denn gesagt, warum er solche Angst hatte?«, fragte Natai, ohne den Soldaten zu beachten.

»Ich … er war sich nicht sicher. Er wich dem Thema aus, aber ich glaube nicht absichtlich. Magier neigen dazu, eigene Bündnisse und andere Sorgen zu haben … ich glaube, dass er Sorge hatte, er könne anderen ins Gehege kommen.«

»Was könnte unseren mächtigsten Magier denn so beunruhigen?«

Sir Arite blickte finster drein. »Er will sich niemanden zum Feind machen, der eine solche Macht besitzt, wie sie in der letzten Nacht in Hale zum Einsatz kam. Derjenige hätte, soweit ich verstanden habe, das ganze Viertel dem Erdboden gleichmachen können.«

»Ihr Götter«, keuchte Natai, dabei lief es ihr kalt den Rücken herunter.

»Und das sind noch nicht alle Neuigkeiten.« Der Ritter kniff die Augen zusammen und flüsterte, als wären diese Nachrichten zu schlimm, um sie laut auszusprechen: »Es war nicht nur der Hohepriester, gegen den diese Macht ins Feld geführt wurde. Wer auch immer es war, er kämpfte gegen ein Wesen von beinahe gleicher Kraft – Magie, wie sie nur wenige Sterbliche beherrschen  – und tötete es.«

 

Schmerz pochte durch ihren Körper. Jedes Gefühl wurde von der schweren Decke des Leids überlagert und ausgelöscht, die sie zu Boden drückte. In ihren Ohren erklang ein fernes, nicht erkennbares Geräusch. Während Legana durch den leeren Traum des Halbschlafs trieb, spürte sie einen schrecklichen Verlust, ein Loch in ihr, das sie an etwas erinnerte, das einfach zu schrecklich war, um auch nur daran zu denken.

Bei einem unwillkürlichen Zucken in ihrem Bein machte sich der Schmerz in ihrer Seite plötzlich wieder heiß und stechend bemerkbar. Ihre Lippen lösten sich klebrig voneinander, als sie stöhnte. Das Klingen ihrer Ohren wurde eindringlicher. Um ihren Kopf lag etwas Stacheliges und grub sich feucht und stechend in ihren Nacken. Legana lag eine Weile reglos da, unfähig, ihr eigenes Wimmern zu hören, bis der Schmerz in ihrer Seite etwas nachließ und sie es wagte, einen Blick auf das Land zu werfen.

Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen. Das erschien ihr wie eine lang vergessene Bewegung, für die sie all ihre Willensstärke aufbieten musste, und als es ihr schließlich gelang, sah sie kaum etwas, nur dunkle, gelbe Schlieren und die Andeutung von etwas, das ein Zimmer sein mochte.

Sie atmete zu tief ein, was ihr ein neuerliches Stöhnen entlockte, und Angst flackerte in ihrem Herzen auf. Der Schmerz war dabei nebensächlich. Was sie in Furcht versetzte, war, dass sie weder ihren Atem noch ihr Stöhnen hörte, obwohl sie die Luft durch ihre wunden Lippen strömen spürte.

Das verschwommene Bild änderte sich mit einem Mal, da eine dunkle Gestalt in ihr Blickfeld trat. Sie wurde zu einem Mann, einem Priester mit Tonsur, der sich über sie lehnte. Das Bild blieb jedoch vage, und sie bekam Kopfschmerzen, wenn sie versuchte, Einzelheiten seines Gesichts zu sehen. Sein Bart bewegte sich zwar, doch sie hörte noch immer nichts. Angsterfüllt versuchte sie sich aufzusetzen, aber eine Welle der Übelkeit erfasste sie und sie fiel schmerzhaft zurück, wobei die Tränen so freimütig ihre Wangen hinabströmten, wie seit ihrer Kindheit nicht mehr.

Der Priester legte ihr die Hände auf die Schultern, um ihr zu bedeuten, still liegen zu bleiben, dann hob er ihren Kopf vorsichtig an und legte ihr ein nasses Tuch an den Mund. Einige köstliche Wassertropfen rannen durch ihre Lippen, und Legana nahm all ihre Kraft zusammen, um sie zu schlucken. Er drückte den Lappen zusammen und noch mehr Wasser lief auf ihre Zunge – irgendwie brachte sie auch dieses hinunter, aber mehr schaffte sie beim besten Willen nicht. Sie sank in seine stützende Hand zurück.

Der Priester nickte zufrieden und legte das Tuch irgendwo ab. Sie konnte nicht sehen, wohin. Dann legte er eine Hand auf ihre Brust. Seine Lippen bewegten sich, und Leganas Sicht verschwamm wieder stärker, als sich eine Wärme in ihr ausbreitete. Das Gefühl war fremdartig und beunruhigend, aber etwas in ihrem Innern erkannte es als Heilmagie. Der Teil von ihr, der von einer Göttin berührt worden war, schrie aus Angst vor der Magie eines anderen Gottes, aber die menschliche Seite gewann die Oberhand, und sie versank wieder in einer Ohnmacht. Der Schmerz trat weit genug in den Hintergrund, dass sie sogar in den Schlaf fiel. Einige Augenblicke später spürte sie gar nichts mehr.

 

Byoras Gebäude wurden von einem stetigen Regen benetzt, der dunkle Tränenspüren über die Wände zog und die Rinnsteine mit schnell strömendem, schmutzigem Wasser füllte. Die Herzogin von Byora beachtete den auf ihre Kapuze prasselnden Regen nicht weiter und sah ihm zehn Minuten oder länger zu, statt ihrem Pferd die Hacken in die Seite zu drücken und die Straße weiterzureiten.

»Denkt Ihr nicht auch, dass dieser Regen die Gemüter abkühlen wird, Sir Arite?«, fragte sie schließlich.

Der blonde Mann antwortete mit einem angedeuteten Nicken. Ihm schien größere Sorgen zu machen, was der Regen mit seinen Stiefeln anrichtete, als der Zustand der Stadt. Der Herzog lächelte seine Frau liebevoll an und schaffte es recht gut, seine Anspannung vor allen außer Natai zu verbergen, der er am meisten Zuversicht schenken wollte.

Sie lächelte zurück und freute sich darüber, dass er sich Mühe gab, auch wenn sein Verhalten sehr durchschaubar war. Er war der Einzige gewesen, der ihr diese Reise nicht auszureden versucht hatte, der seine eigene Sicherheit hintanstellte, weil er die Notwendigkeit des Ganzen erkannte.

Die Herzogin befand sich seit den schrecklichen Ereignissen im Tempelviertel am letzten Morgen zum ersten Mal wieder außerhalb ihres Palastes. Sie machte sich keine Sorge wegen der Pönitenten, die angeblich in wütenden Mengen durch die Straße zogen. Davon würde sie sich nicht einschüchtern lassen. Der Rubinturm erhob sich im diesigen Morgenlicht drohend vor ihnen. Der gestufte Turm war mit roten Marmorsplittern besetzt und für das Licht der Sommerabende entworfen worden. Im Augenblick betonte er nur die Grimmigkeit der schwarzen Bergwand hinter sich.

»Hauptmann Fohl?«, sprach Natai den Kommandanten ihrer Wache an. »Wenn Ihr so gut wäret, vorzureiten.«

Der Hauptmann salutierte, doch der neue Sergeant hinter ihm wartete nicht auf den Befehl, sondern ritt sofort los, und zwei Einheiten ihrer Wachen reihten sich hinter seinem Pferd ein. Natai erheiterte sich ein wenig an Fohls Gesichtsausdruck, als er sah, dass seine Männer bereits in Bewegung waren. Und sein Adamsapfel hüpfte, als er sich einen Tadel verkniff.

Der Hauptmann hatte sich wie immer hübsch zurechtgemacht, aber heute wirkte er mit dem hellen Haar, das schlaff unter dem mit Gold besetzten Helm hervorhing und der bleichen Haut seines schwachen Gesichts etwas albern auf sie. Im Vergleich mit dem muskulösen Körper Sergeant Kayels sah er zierlich, beinahe armselig aus.

Es war ein beruhigendes Gefühl, Kayel an der Spitze ihrer nach Hale ziehenden Wachen zu sehen. Der Mann war der geborene Anführer und ziemlich einschüchternd. Natai wusste, dass Fohl sich schnell beleidigt fühlte und jeden anderen Sergeanten für diese Unverschämtheiten hätte auspeitschen lassen. Aber sogar die Arroganz des reinen Litse-Blutes konnte die Angst, die Fohl vor dem Mann hatte, nicht übertünchen.

Es war der Morgen des Gebetstages, der Tag des Hochamtes in den Tempeln, und der Herzog und die Herzogin hatten es sich schon vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, an den Gottesdiensten in den Tempeln Ushulls und Tods teilzunehmen. Heute wären die Augen der ganzen Stadt auf sie gerichtet. Die Situation hatte sich noch nicht verbessert und Natai wusste, dass der Regen allein daran nichts ändern würde – nicht einmal die gnadenlosen Sturzbäche, die Byoras Straßen regelmäßig heimsuchten. Dennoch würde sie sich nicht vor ihrem Volk verstecken.

Über Hale hörte man, dass es ein Wespennest voll von Spannungen und Ereignissen sei. Dass eine Gruppe von Pönitenten zwei ihrer Gefolgsleute durchsucht hatte, verbesserte die Lage auch nicht. Die Männer waren natürlich bewaffnet gewesen, hatten sich aber zur Flucht entschlossen, statt sich wegen Unfrömmigkeit verhaften zu lassen. Eine Menschenmenge hatte sie zu Tode gesteinigt und jetzt wurden ihre Köpfe an einer Kreuzung ausgestellt, die Natai auf dem Weg zum Tempel des Tods passieren musste.

Auf ihren Befehl hin setzte sich der ganze Tross aus Adligen und Soldaten in Bewegung. Sergeant Kayel führte, die eine Hand am Schwert und den Kopf ständig mit aufmerksamem Blick in Bewegung, und legte einen raschen Schritt vor. Die Herzogin bemerkte bei den Menschen, an denen sie vorüberzogen, die unterschiedlichsten Reaktionen. Einige eilten ins Haus und verriegelten die Tür, andere reihten sich hinter den Soldaten ein. Natai war einen Augenblick lang verärgert, weil sie die Gesichter der Folgenden nicht sehen konnte.

»Ganas«, rief sie ihren Ehemann, der sofort näher heranritt und sich zu ihr beugte, um sie besser hören zu können. Seine zeremonielle Uniform und sein Schwert ähnelten denen der Rubinturmwache  – sie waren hübscher, aber darum nicht weniger nützlich.

»Denkst du, sie folgen uns, weil sie eine Schlacht sehen wollen, oder sind sie auf unserer Seite?«, fragte sie leise.

Er zuckte die Achseln, und sie hörte das zarte Klirren von Metall. Ein Großteil ihrer Untertanen betrachtete Ganas als dumm und willensschwach, weil sie und nicht er Byora regierte. Die Litse konnten sich nicht vorstellen, dass er einfach keinen Ehrgeiz besaß, ebenso wenig wie die dummen Weiber des Weißen Zirkels nicht begreifen konnten, dass sie sich nicht gegen die Unterdrückung eines Gatten wehrte. Sie beherrschte die Kunst des Regierens einfach besser als er und nur wenige Leute zollten ihm Respekt dafür, dass er das erkannt hatte und auch hinnahm. Nur wenige Männer schienen dazu stark genug zu sein. Also waren sie ein gutes Paar.

»Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, werden sie sich für uns entscheiden«, sagte er im schmeichelnden Zungenschlag der Stadt. »Aber ich bezweifle, dass uns viele bis nach Hale folgen werden … zu gefährlich.«

Und tatsächlich blieb ihre Eskorte zurück und sah ihnen nervös nach, als sie das Tempelviertel erreichten. Drei Tore führten nach Hale. Zwei überblickten die größten Straßen von Acht Türme, wo die reichen Bürger im Schatten des Rubinturms lebten, und ein drittes lag in der Wand, die Hale von Bierbruch trennte, wo die meisten Bürger wohnten.

Meist nutzte sie am Gebetstag das Königinnentor und folgte dann der Straße in einem weiten Bogen bis zu den Tempeln Ushulls, Tods und Belarannars, um dann noch ein kurzes Gebet in Kitars Tempel zu sprechen – dies war ihre eigene kleine Tradition, an der sie festhielt, lange nachdem jede Hoffnung erloschen war, die Göttin der Fruchtbarkeit könnte ihre Gebete erhören.

Wenn die Gaffer bei der ersten Begegnung auf eine dramatische Entwicklung gehofft hatten, so wurden sie jetzt bitterlich enttäuscht. Rund ein Dutzend Pönitente stand am Tor, aber Kayel beachtete ihren Versuch, den Durchgang zu versperren, gar nicht. Sie versuchten offensichtlich, im Weg zu stehen und so einen Angriff der Wachen zu erzwingen oder aber sie zurückzuhalten. Doch Kayel trieb sein Pferd an, bemerkte ihre Anwesenheit vorgeblich gar nicht, und die Männer mussten beiseitespringen, um nicht niedergetrampelt zu werden.

Nachdem sie das Viertel betreten hatten, zwang sich Natai dazu, nicht in die Gesichter zu starren, die ihnen entgegenblickten. Aber als sie bemerkte, wie viele grau gekleidete Pönitente Tods sich auf der Straße versammelt hatten, bekam sie es etwas mit der Angst zu tun – und sie waren nicht die Einzigen. Hale war eine eigene Gemeinde, eine kleine, eigenständige Stadt, die auf einer Hochebene mit einem Durchmesser von knapp zwei Dritteln einer Meile lag. Nicht alle Bewohner waren Kleriker, aber sie hatten doch alle mit dem Geschäft der Verehrung zu tun, und wenn man Natai den Tod von Hohepriester Lier vorwarf, so würden sich alle gegen sie verbünden.

»Ushull, Tsatach, Nartis, Belarannar, Ilit – die meisten der großen Kulte haben Männer angeworben«, sagte Ganas so leise, dass nur Natai es hörte. »Wir sollten froh sein, dass der Tempel von Karkarn hier zu klein ist, um eine wirkliche Rolle zu spielen.«

Sie nickte und hielt die Augen auf der Straße. Mit jedem Augenblick wuchs ihr Unwohlsein. Gruppen kapuzentragender Gestalten standen drohend in Seitenstraßen und beobachteten sie, einige folgten ihnen sogar so dicht auf, dass es die Männer unruhig werden ließ. Eine tiefe Stille folgte ihrer Gruppe auf dem Weg nach Hale hinein.

Das Ganze erinnerte Natai an einen Traum aus ihrer Kindheit: Sie war von gesichtslosen Gestalten umgeben, die reglos wie Statuen dastanden. Wolken rasten über sie hinweg, während der Anführer ihrer Folterer, ein in Weiß gekleideter Riese, mit anklagendem Finger auf sie wies. Gleichgültig wohin sie sich auch wandte, sie konnte der Last dieser Geste nicht entkommen. Jetzt fühlte Natai eine ähnliche Beklemmung. Der Weg zum Tempel Ushulls war nicht weit, aber auf Natai wirkte es, als seien sie eine Stunde oder länger unterwegs.

Wie viele Ushull-Tempel stand dieser den Elementen offen, aber die Erbauer hatten offensichtlich versucht, Schwarzzahn hier nachzuahmen, indem sie einen zehn Schritt hohen, mit Kristall- und Obsidiansplittern bedeckten Obelisken in der Mitte des ovalen Tempels errichtet hatten, der durch die obere Etage ragte. Diese wiederum befand sich auf vier großen Säulen, die für die Viertel der Runden Stadt standen: Byora, Akell, Fortin und Ismess. Ushull war streng genommen ein Aspekt von Belarannar, und darum war der Tempel genau eine Elle kürzer, niedriger und schmaler als der Tempel Belarannars.

Die Tradition verlangte, dass sich Natai unter die Tropfen kniete, die stetig vom Schrein Kiyers, der Göttin der Sturzflut, fielen, so dass sie auf ihre Stirn trafen. Dann würde sie eine silberne Wasserwaage opfern und um eine weitere Woche ohne Hochwasser beten.

Anschließend würde sie am anderen Ende des oberen Stockwerks eine frisch gepflückte Blume als Gabe an Parss, Ushulls wankelmütiges Kind, ablegen, der Steinlawinen den Hang hinabrutschen ließ. Der Schrein des letzten der drei Aspekte Ushulls befand sich auf der unteren Ebene und war eine enge Höhle aus Lehm, die man so heiß wie einen Bäckerofen hielt. Dort müsste sie ein weiteres Stück Kohle ins Feuer legen, um Cambrey Raucher zu besänftigen, den Zerstörer, der unter dem Berg ruhte.

Bevor sie den Tempel erreichte, sah Natai, dass Kayel, der vorausgeritten war, von einer Gruppe aufgebrachter Priester aufgehalten wurde. Von überall wurden sie beobachtet, aus dem Tempel sogar mit unheilvollen Blicken, wo Natai keine Anzeichen für einen Gottesdienst sehen konnte. Während ihres Ritts war der Wind immer stärker geworden, und jetzt peitschte er mit ungeduldiger Macht so durch das Viertel, dass er sogar das Gespräch vor ihr übertönte. Um sich herum sah und spürte Natai brennenden Abscheu. Die Wut schwelte unter dem Berg.

Cambrey oder Kiyer?, fragte sie sich, als die Soldaten stehen blieben und sich schließlich doch den Pönitenten auf allen Seiten zuwandten. Cambrey grummelt und droht, ist aber nur schwer zu verärgern. Kiyer hingegen schlägt mit der Wut und Schnelligkeit einer Eiskobra zu.

Wie um auf ihre Frage zu antworten, rollte in diesem Augenblick ein Donnern über die Stadt hinweg, das entfernte Rumpeln, auf das alle Byoraner seit ihrer Geburt lauschten. Alle Gesichter wandten sich nach Osten, dem Berg zu.

Natai erschauderte unwillkürlich. Schwarzzahn war an der Spitze nicht abgeflacht, wie die meisten sich vorstellten, sondern bestand aus einem wilden Durcheinander scharfer Felsen und stehender Gewässer, die der Regen dort hinterließ. Ein Sturm konnte für einen feuchten Guss sorgen, oder er verwandelte die unbewohnbare Brache Schwarzzahns in etwas sehr viel Schrecklicheres. Wenn genug Regen fiel, stürzte eine Flutwelle hinab, raste durch die Straßen und riss alles mit sich, was Kiyer, die Göttin der Sturzflut, als Opfer forderte, um den Rest dann einige Meilen hinter Rad, dem westlichsten Viertel, im Moor abzulegen.

Eine plötzliche Bewegung lenkte ihren Blick wieder zurück. Ganas stöhnte überrascht auf und starrte mit verwirrtem Gesichtsausdruck zum Berg hinauf. Hauptmann Fohl sagte etwas, aber die Worte waren gestammelt und unverständlich. Ohne Aufforderung drehte sich ihr Pferd von Ganas weg, und ein plötzlicher Druck legte sich auf ihre Brust und um ihre Kehle, so dass ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde.

Natai saß, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen, starr da und war entsetzt, während Ganas ungelenk aus dem Sattel glitt und zu Boden stürzte, mit einem Fuß noch immer in den Steigbügeln. Ein Pfeil mit schwarzen Federn, der aus seinem Rücken ragte, zerbrach, als Ganas darauf landete. Natai starrte ungläubig auf das verzerrte Gesicht ihres Ehemannes hinab und war von diesem Anblick wie gelähmt, während um sie herum alles in Bewegung geriet.

Gestalten rannten umher, eine Hand packte ihre Zügel und riss ihr Pferd herum, bis das Tier auskeilte. Männer riefen und fluchten auf allen Seiten, Schwerter wurden aus den Scheiden gerissen. Hauptmann Fohl trieb sein Pferd gegen ihres und schaffte es eben noch, seinen Schild dazwischen zu halten, da schlug auch schon ein weiterer Pfeil darin ein. Sergeant Kayel zog blank und schlug in der gleichen Bewegung zu, drehte sich ihr schon wieder zu, bevor noch der tote Priester zu Boden gefallen war.

Der Grund fing an zu beben, und diese Bewegung wanderte durch den Leib ihres Pferdes bis in ihren eigenen. Bevor Natai erkannte, was geschah, schrie ihr Pferd auf und taumelte. Neben ihr schlug Fohl nach jemandem, da erschien plötzlich ein Speer und traf ihn mit solcher Wucht in die Seite, dass er aus dem Sattel gerissen und gegen ihr Pferd geschleudert wurde, dann aber unter seine Hufe geriet.

Sie konnte nicht heruntersehen, weil sich ihr Pferd aufbäumte. Dann wurde sie nach oben geschleudert und der wolkenverhangene Himmel schien nach ihr zu greifen, als sie selbst fiel …

Plötzlich packte etwas ihren Unterarm und riss sie nach vorn. Der Himmel wirbelte davon und wurde zu den dunklen Schemen von Häusern, als der Druck an ihrem Arm zunahm und sie vorwärtszog. Sie krachte erst auf den Boden und sprang dann, von der Wucht bewegt, beinahe wieder nach oben. Ihr Arm wurde ihr um ein Haar aus dem Gelenk gerissen, als etwas sie daran weiterzog, während ihre Beine nutzlos unter ihr zappelten.

Mit einem angestrengten Grunzen wurde sie hochgeschwungen und landete schwer auf etwas, wobei ihr wie bei einem Schlag in den Bauch die Luft aus dem Körper gepresst wurde. Sie lag über einem Sattel. Jetzt erkannte sie, dass es Kayel war, der da über ihr kurze, gepresste Worte rief, die sie nicht verstand. Etwas schlug hart gegen ihr Bein, fiel zu Boden und Kayel lehnte sich über sie, um mit dem Schwert zuzuschlagen. Sie hörte das feuchte Knacken von zertrenntem Fleisch und brechenden Knochen. Von überallher klangen Schreie und Gebrüll, aber ihre Sinne weigerten sich, sie zu einem klaren Bild zusammenzusetzen.

Kayels Stimme und der heiße Gestank des Pferdes waren alles, was sie erkannte, bis der Tumult plötzlich hinter ihnen zurückblieb und sie begriff, dass sie entkommen waren. Sie befanden sich in Sicherheit. Erst da erinnerte sie sich, viel zu klar und deutlich, an den Anblick des fallenden Ganas, und er traf sie wie eine scharfe Klinge in den Bauch. Als der Soldat schließlich anhielt und ihr erlaubte, vom Sattel zu gleiten, spürte Natai die Hände gar nicht, die ihr auf die Beine halfen. Das Stimmengewirr klang entfernt. Fragen, Rufe, Befehle, all das verblasste im Angesicht dieses Schmerzes in ihrem Bauch zur Nichtigkeit. Sie fiel auf die aufgeschlagenen Knie und übergab sich einmal, dann erneut. Aber der Schmerz des Verlustes verging nicht.

 

Hoheprieser Antil blieb an der Tür zu seiner persönlichen Kammer stehen und linste um den Türpfosten herum, auch wenn er sich dabei albern vorkam. Er war zwar der oberste Kleriker Shotirs, des Gottes der Heilung, aber sein Tempel in Byora wirkte bescheiden  – und so war auch sein Zimmer entsprechend klein. Normalerweise wurde die Hälfte der Nordwand von einem großen Fenster eingenommen. Aber seit der dramatischen Ankunft seiner Patientin hatte man dieses mit Tuch verhängt. Es gab ein kleines Fenster auf der Seite, durch das ein wenig blasses Winterlicht hereinkam, doch Antil hatte trotzdem eine Kerze mitgebracht.

Jetzt stell dich nicht so an, tadelte er sich selbst, sie ist deine Patientin, um Himmels willen! Die Ermahnungen hatten wenig Erfolg. Er fühlte sich dennoch als Eindringling. Er vergewisserte sich, dass keine Priester oder Novizen ihn beobachteten. Andere Leute kamen selten auf die obere Ebene des Tempels. Sie wussten, dass dies sein höchsteigener Bereich war, wo er seine Gedanken ordnete und nach der Arbeit im Hospital auf der unteren Ebene ausruhen konnte.

Antil war ein Mann mittleren Alters, von durchschnittlicher Größe, licht werdendem Haar und etwas rundlich um die Hüfte  – eine Berufserkrankung der Priester des Shotir. Zumindest war dies bei denen so, die heilen konnten. Heilmagie verursachte Heißhunger, und nur Antils Eitelkeit hatte dafür gesorgt, dass es nicht überhandnahm. Anders als bei den meisten anderen in seinem Orden beulte sein Bauch die gelben Roben nur in bescheidenem Maße aus und ein ordentlicher Bart verbarg sein Doppelkinn. Gegen die Sorgenfalten konnte er jedoch nichts unternehmen.

Er musste sich zwingen, die Kammer zu betreten, doch kaum war er über die Schwelle geschritten, da übernahmen schon alte Angewohnheiten die Führung. Sie reagierte sehr empfindlich auf Licht, darum ging er um das Bett herum und hockte sich vor sie. Sie schlief nicht, war aber so misstrauisch wie ein verletztes Tier, und er achtete darauf, sie noch nicht zu berühren. Sie musste zwar schwer verletzt sein, aber dennoch war sie von einer Göttin berührt worden und er wollte vermeiden, sie zu erschrecken. Stattdessen blieb er eine Weile dort sitzen und betrachtete ihr Gesicht, fasziniert von ihrem Geheimnis.

Die Frau drehte den Kopf mit einem leisen Wimmern und sah ihn an, wobei die merkwürdigen Augen nach kurzer Zeit sein Gesicht fanden. Sie waren dunkelgrün und strahlten mit einem inneren Leuchten, das Antil an den Jadering erinnerte, den seine Mutter bis zu ihrem Todestag getragen hatte. Das Gesicht der Frau war von blauen Flecken und Kratzern übersät, aber die Schwellung schien bereits zurückgegangen. Wenn die Verfärbungen erst verschwanden, wäre sie gewiss eine außergewöhnliche Schönheit.

»Nun, meine Liebe, wie geht es dir heute Morgen?«, fragte er sanft, erwartete aber keine Antwort. Sein magisches Talent war so wenig bemerkenswert wie er selbst, und nur das Heilen hatte er wirklich gemeistert. Aber seine schwachen Sinne waren gut genug, um sich ihretwegen Sorgen zu machen.

Das einseitige Gespräch diente nur zu seiner eigenen Beruhigung, half ihm, seine Gedanken beieinanderzuhalten, damit er sich auf das Heilen konzentrieren konnte. Auch wenn er bisher nur wenig erreicht hatte, zum einen, weil der göttliche Funke in ihr stärker als der jedes Priesters war und sich gegen Shotirs Werk stemmte, zum anderen aber auch, weil es über die Macht der Sterblichen hinausging, die Verkrüppelten zu heilen.

Antil ließ einen warmen Strom aus Energie in ihren Körper strömen, um sie zu beruhigen, streichelte dann so lange ihre Hand, bis sie sich nicht mehr dagegen wehrte. Nachdem sie keine Angst mehr hatte, zog er ihre Decke ein kleines Stück herunter, aber das Mal war wie erwartet noch immer zu sehen.

»Verdammt«, sagte er und kratzte sich mit gefurchter Stirn den Bart. Um ihren Hals war deutlich der graue Schatten eines Handabdrucks zu sehen. Die Haut war nicht verletzt, nur verfärbt, als hätte jemand sie mit einer von Asche schmutzigen Hand gepackt, doch dies konnte nicht abgewaschen werden.

»Jemand hat dich gezeichnet«, sagte er zu ihr. »Dich, die du so umfassend von einer Göttin berührt wurdest wie jeder Erwählte. Er packte dich und schlug dich bewusstlos. Man brach dir ein Bein, die Schulter, einen Arm und einen Halswirbel – und eine Berührung allein war genug, um ein bleibendes Mal auf deiner Haut zu hinterlassen.«

Aber das war nicht das Einzige, was an ihrem Hals seltsam erschien. Wenn er mit dem Finger darüberstrich, spürte er einige Unebenheiten, die sich wie eine Halskette unter der Haut anfühlten. Und das bisschen Magie, das er zustande brachte, hatte auch bestätigt, dass es genau dies war: Eine Halskette, die sie umgehabt hatte, war vollständig in ihr Fleisch gesunken.

»Und das ist nicht einmal das Schlimmste«, fuhr er mit dem Blick auf den Handabdruck nachdenklich fort. »Wir alle fühlten, was in Alterrs Kammer geschehen ist. Jeder Priester in Hale spürte etwas Schreckliches. Man sagt, ein Gott sei gestorben … aber ich frage mich, ob es nicht eine Göttin war?«

Er nahm einen Lappen auf und fing sofort an, ihr Gesicht abzuwischen.

»Ich war beim Tempel der Dame. Er steht verschlossen und man sagt, die Priesterinnen hätten ihn nicht mehr verlassen. Hale versinkt im Chaos, darum hat es sonst noch niemand bemerkt, aber das wird nicht mehr lange dauern.«

Er zog die Decke von ihr herunter und musterte ihren Körper. Ein Stück Tuch bedeckte ihre Scham, um die Form zu wahren, aber ihr Körper war ohnehin zur Hälfte von Verbänden verdeckt. Er kümmerte sich um jeden einzelnen und summte dabei Mantras der Heilung. Ohne Magie würden sie wenig ausrichten, aber die vertrauten Laute waren besser als Stille.

Offensichtlich heilte sie übernatürlich schnell, und Antil war nicht so vermessen, sich dies selbst zuzuschreiben. Vielleicht habe ich ein wenig dabei geholfen, gestand er sich ein, aber das war es auch schon. Als er ihr fest geschientes Bein berührte, stöhnte die Frau und versuchte danach zu greifen, aber sie war zu schwach, um sich aufzusetzen. So sank sie zurück, und ihre Augen rollten nach oben, während sich ihre Lippen leicht bewegten. Er legte ihr die Hand auf die Brust und ließ Magie in sie fließen, wollte damit aber nicht die Knochen oder das Fleisch heilen, denn das schaffte sie alleine, sondern den Schmerz vertreiben. Zumindest das konnte er für sie tun, denn ihr Geist war noch immer menschlich, und so mochte er ihn überlisten, ihm vorgaukeln, es gäbe gar keinen Schmerz, auch wenn ihr Körper alles, was darüber hinausging, abwehrte.

Nach einer Weile hielt er inne, um zu Atem zu kommen, und fühlte sich wie ein alter Mann. Er hatte einen Beutel mit Weidenrinde neben ihrem Bett abgelegt, den er nun aufnahm. Antil brauchte einige Augenblicke, um die Schnur zu öffnen, weil sich seine Finger so steif anfühlten. Als er es endlich schaffte, fuhr ein Windstoß in das Tuch, das vor das Fenster genagelt worden war, und die Bewegung ließ ihn zusammenzucken, so dass ihm der kleine Beutel aus der Hand fiel. Aber irgendwie war die Hand seiner Patientin aus dem Bett gerutscht und statt auf den Boden zu fallen, landete der Beutel in ihren Fingern.

Ihre Augen waren geschlossen, sie schlief einen unruhigen Schlaf. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie bemerkt hatte, was geschehen war.

»Guter Fang«, murmelte Antil verwundert. »Oder sollte ich besser sagen: ein glücklicher Fang?«

Er wusste nicht, ob er bei diesem Gedanken lächeln oder das Gesicht verziehen sollte. Das Glück war eine launenhafte Herrin  – sofern dieser Ausdruck noch Bestand hatte, nachdem die Dame selbst tot war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Pönitenten ernste Fragen zu dem zerstörten Fenster stellen mochten. Er hatte es mit einem Stein abgetan, der bei der Zerstörung von Alterrs Tempel hierhergeschleudert worden sei, aber früher oder später würde das jemandem seltsam vorkommen.

»Was ist deine Rolle bei all dem?«, fragte er sich, fuhr mit dem Finger über ihren Arm und spürte die Hitze ihrer Haut. »Wie konntest du das überleben, wenn du mit der Dame dort warst, und sie starb? Ein Diener kann doch nicht stärker sein als der Gott – hielt sie dich denn für wichtig genug, um für deine Rettung ihr eigenes Leben zu geben?«

Antil erschauderte erneut. Es war lächerlich zu glauben, dass ein Unsterblicher so etwas täte, aber es war die einzige Antwort, die ihm bisher einleuchtend erschien.

»Ich habe geschworen, die Verletzten zu schützen, selbst wenn die Pönitenten Tods dich zu holen versuchen«, sagte er, entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen. »Aber wenn dich die Dame wirklich aus einem bestimmten Grund gerettet hat, so brauchst du diesen Schutz vielleicht nur noch einige Tage lang.« Er nahm den Lappen auf und träufelte etwas Wasser auf ihre Lippen. Diesmal öffnete sich ihr Mund gierig. »Wollen wir hoffen, dass derjenige, der dies angerichtet hat, nicht nach dir sucht, denn dann nützt dir auch mein Schwur wenig, befürchte ich.«

 

Ilumene sah zum wolkenverhangenen Himmel auf und versuchte herauszufinden, wo die Sonne stand. Es half aber nicht viel. Der westliche Horizont war von einem Glühen erfüllt, doch dies war ein freudigerer Anblick, als er sich im Osten bot, wo sich eine hässliche, graue Masse über spitzen Bergklippen auftürmte. Sein Gefühl sagte ihm, dass es noch früher Morgen war – nach einem Kampf schien die Zeit nur so dahinzurasen, weil man recht aufgewühlt und voller Angst war.

Plötzlich sagte eine Stimme in seinem Geist: Sie kommen.

Aracnan?, dachte er nach kurzer Verwirrung. Das einzige Wesen, das auf diese Weise so zu ihm gesprochen hatte, war Azaer gewesen, und der hatte seit dem Fall von Scree geschwiegen. Wie steht es mit dem Sturm in den Bergen?

Sie beachten ihn nicht. Nicht jeder Sturm bringt eine Flut mit sich, nur einer oder zwei in jeder Jahreszeit, aber ich habe mein Möglichstes getan, um den Wolken mehr Macht zu verleihen. Kiyer, Göttin der Sturzflut wird kommen, aber nicht vor den Pönitenten. Sieh nach links.

Ilumene tat wie ihm geheißen. Zuerst entdeckte er gar nichts, doch dann zog eine plötzliche Bewegung seine Aufmerksamkeit an. Auf dem Dach eines an die Wand gebauten Hauses sah er eine kleine Gestalt hocken, nicht größer als ein Kind. Die Farben des Körpers schienen sich zu verändern, nahmen die Färbung der flechtenbewachsenen Wand hinter ihm an, weswegen er nicht mehr erkennen konnte.

Das Wesen schien seinen Blick zu spüren und wandte ihm den Kopf zu. Die merkwürdige Form seines Körpers rührte von einem Dutzend Flügelpaaren auf seinem Rücken und an seinen Armen her, die nun losschlugen. Das unregelmäßige Flattern wurde immer schneller, bis der Körper hinter einem Schwirren verschwand, dann hörte es schlagartig auf und nichts war mehr da.

Ilumene starrte verwundert hinüber. Es war fort – nicht weggeflogen, sondern einfach verschwunden.

Ein Aspekt? Sie haben einen Aspekt herbeigerufen, damit er Gestalt annimmt und unsere Verteidigung erkundet?

Ganz genau, antwortete Aracnan. Deine Magier sind nervös, sie verraten sich durch ihre tätige Verteidigung. Die Priester wissen jetzt, über wie viele Magier du verfügst und werden nicht davor zurückscheuen, dich anzugreifen.

»Aber die Sturzflut wird ihnen den Fluchtweg abschneiden«, sagte Ilumene laut, und ein bösartiges Lächeln erschien in seinem Gesicht. So ein Pech für sie. Beschütze den Meister, bis es Zeit wird zu handeln. Er vertrieb das Schmunzeln und sah zu Oberst Feilin hinüber, der daraufhin zu ihm kam.

»Sergeant Kayel?« Feilin war ein passabler Soldat, auch wenn es ihm ein wenig an Mut fehlen mochte. Er humpelte leicht, wie Ilumene zufrieden bemerkt hatte. Feilin befehligte zwar die Verteidigungskräfte des Anwesens, aber vor zwei Tagen hatte ihm Ilumene klargemacht, wer hier wirklich der Leitwolf war. Feilin gab noch immer die Befehle – sobald Ilumene entschieden hatte, wie sie zu lauten hatten. Seine Masche hätte bei einem Adligen, der sich auf seine Arroganz und seinen Stolz zurückziehen konnte, nicht gewirkt, aber jeder im Rubinturm wusste, dass Oberst Feilin der Sohn eines Koches war und sein ganzes Leben lang hier gedient hatte. Der Mann war schon oft genug herumgeschubst worden, um zu erkennen, wenn er ausgeliefert war. Ilumene hatte ihn nicht erst besonders unter Druck setzen müssen.

»Oberst«, sagte er und salutierte, falls jemand zusah. »Ist alles bereit?«

»Ja, aber es gefällt mir nicht, das Anwesen so verletzlich für einen Angriff zu machen. Das ist ein großes Risiko.«

Ilumene hatte vorgeschlagen, die Tore offen zu lassen und eine größere Anzahl Männer in die Stadt zu schicken. Trotz Kiyars Sturzflut wollte Ilumene nicht, dass sich das Volk von seinen nichtkirchlichen Herrschern im Stich gelassen fühlte. Über die Jahre hatte man die Straßen der Stadt so gebaut, dass man die Flut sicher ableiten konnte. Er war zuversichtlich, dass der Kampf wie von Azaer geplant verlaufen und nicht lange währen würde. Wichtiger war noch der Eindruck, den die Leute in Bierbruch, Rad und Brand von diesem Tag gewännen, denn dies würde sie auf jenen Tag vorbereiten, an dem sie sich für eine Seite entscheiden mussten.

»Und wenn man die Garnisonsmannschaft aufreibt?«, fragte der Oberst.

»Das wird nicht geschehen«, sagte Ilumene selbstsicher. Er betrachtete die Männer, die sich auf der Mauer und im Hof versammelt hatten. Er hatte jeden irgendwie tauglichen Diener in eine Uniform gesteckt und einige auf der Mauer postiert, andere hatten den Befehl bekommen, ziellos herumzugehen. Gleichzeitig versteckte sich der Großteil der Rubinturmwache oder gab sich mit verborgenen Waffen als Diener aus.

»Sie werden die Leiche der Herzogin sehen wollen, bevor sie etwas anderes unternehmen. Trefft Euch unter weißer Flagge mit ihnen und sagt den Wachen, sie sollen sich ergeben. Die Söldner, die sie angeheuert haben, sind immer noch bei klarem Verstand, auch wenn die Priester selbst es nicht sein sollten, darum werden sie zögern. Wir halten uns von den Toren fern und versuchen nicht, sie zu schließen.« Er wies auf die größte Gruppe echter Soldaten: »Schickt sie auf die andere Seite des Anwesens, fernab der Tore.«

»Aber wenn wir sie alle hereinlassen, dann sind sie doch in der Überzahl«, sagte Feilin und wirkte noch immer unglücklich. »Das ist doch der Grund dafür, dass wir diese List überhaupt versuchen …« Wie die meisten seiner Kameraden mit Litse-Blut in den Adern war er von heller Haut und hatte helles Haar, weshalb er in seiner tiefroten Uniform bleich wirkte.

»Wenn Ihr sie nicht wegschickt, wird offensichtlich, dass wir auf den Angriff vorbereitet sind. Oder habt Ihr eine Einheit Weißaugen bereitstehen, von der ich nichts weiß?« Ilumenes schroffer Ton reichte aus, um Furcht in Feilins Gesicht zu zaubern. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere, als täten ihm die blauen Flecke erneut weh.

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann bieten wir ihnen einen Platz, an den sie sich zurückziehen können. Das Tor ist ein Nadelöhr – und vielleicht haben wir ja sogar das Glück einer Flut.«

Bei der Erwähnung von Kiyers Sturzflut warf Feilin einen nervösen Blick zu den Klippen, die hinter dem Rubinturm aufragten. Das Donnern war bereits abgeebbt, aber die Wolken über dem Schwarzzahn wirkten dunkler als je zuvor.

»Ich denke, sie werden bleiben und kämpfen.«

»Auch gut. Dann werden sie von drei Seiten angegriffen werden.«

»Was ist mit den Magiern? Sie verfügen sicher über viel mehr als wir.«

Ilumene nickte. Da sprach Oberst Feilin einen wichtigen Punkt an – wenn dies normale Umstände gewesen wären. Ihre Feinde hatten keinen Magier von der Macht eines Peness, aber sie hatten mit den versammelten Magiern aller Kulte in Byora die Macht der Menge auf ihrer Seite.

»Peness, Jelil und Bissen können nicht gegen alle ankämpfen, das ist richtig«, stimmte er zu.

»Wie sieht dann Euer Plan aus?«

»Mein Plan, Sir?«, fragte Ilumene mit einem wölfischen Grinsen. »O nein, nicht mein Plan, Euer Plan. Ich habe mir nur die Freiheit genommen, Eure Befehle vorauszuahnen. Die drei Magier befinden sich in einem der östlichen Zimmer des Turms. Die meisten Kampfmagier müssen ihren Feind sehen können, um etwas wirklich Schlimmes anzurichten.«

»Welchen Nutzen haben sie dann, wenn sie auf der falschen Seite des Turms sind?«, fragte der Oberst verwundert, und war noch immer verzweifelt bemüht, die Absichten seines Untergebenen zu verstehen.

»Sie werden sich verstecken, so weit entfernt, dass die Priester keine Falle wittern.« Ilumene drehte sich um und zeigte auf den Turm. Er war ein riesiges Bauwerk, nicht so groß wie der Turm Semars in Tirah, aber viel mächtiger. Er hatte eine sechseckige Form und war treppenförmig aufgebaut. Die erste Stufe hatte die Größe eines Palastes und dickere Wände als die meisten Burgen, um das Gewicht zu halten, das auf ihnen lastete. »Die Kammer der Herzogin«, sagte er. »Ich habe gehört, sie sei vor Jahren umgebaut worden.«

»Der frühere Herzog hat sie so etwa vor, na, zwanzig Jahren umgebaut«, sagte Feilin, noch immer ahnungslos.

»Er hat lauter Säulen und eine Vorhalle einbauen lassen, damit der Haupteingang nicht mehr direkt hineinführte?«

»Ja, na und?«

»Dann tragen all diese Dinge kein Gewicht«, sagte Ilumene. »Wir können sie einreißen und der Rest des Turmes bleibt dennoch stehen.«

»Aber …« setzte Feilin an, unterbrach sich dann aber selbst: »Gnädige Götter!«

»Na, sie zeigen heutzutage keine sonderlich große Gnade, und diesen Gefallen sollten wir erwidern«, sagte Ilumene hitzig. »Sie werden Dutzende von Priestern in ihren Reihen haben, von denen jeder nur geringe Magie beherrscht. Ein Aspektführer ist nicht so viel wert wie der Dämon eines Magiers. Ein Magier wie Peness mag mächtig und schnell genug sein, um ein Dach daran zu hindern, auf ihn zu fallen, aber keiner von denen ist so gut.«

»Und sie werden denken, dass sich Peness nicht gegen sie stellt«, sagte Feilin leise.

»Genau. Noch bevor sie durch die Tore kommen, werden sie bereits wissen, ob wir ihrer Stärke etwas entgegensetzen können. Sobald sie bemerken, dass wir es nicht können, werden sie sich entspannen. Priestern fehlen die Instinkte eines Soldaten, und ihre Pönitenten werden sie nicht rechtzeitig aufhalten können.« Natai blinzelte, erwachte mit einem Mal und sah sich dann um. Zwei nervöse Gesichter starrten sie an, die dunkelhaarige Dame Kinna und Jeto, Natais Leibdiener. Ihrem Ausdruck nach zu urteilen war sie länger ohnmächtig gewesen, als sie gedacht hatte. Jeto gab sich manchmal so zickig wie eine Herzogswitwe, aber Kinna war so ehrgeizig und herzlos, wie es einer Litse-Adligen anstand.

»Euer Gnaden?«, fragte Kinna vorsichtig. Sie war die Einzige aus Natais engerem Kreis, die sofort zum Rubinturm gekommen war, als sie von den Vorkommnissen in Hale erfahren hatte. Sie ist zwar noch jung, aber sehr klug, hat Ganas immer gesagt …

Der Gedanke wurde von einem Krampf unterbrochen, der ihren Körper schüttelte. Ihre Hand fing zu zittern an, so dass sie sie mit der anderen umfassen musste. Seltsam. Mein Körper versteht meine Trauer, auch wenn mein Geist sich weigert, sie anzuerkennen.

Sie sah auf ihre Hand hinab. Der Stein einer ihrer Ringe war verschwunden und ein fingerlanger Kratzer, der vom Knöchel bis zum Handrücken verlief, zeichnete den Weg nach, den der Edelstein genommen hatte.

Es war ein Rubin, erinnerte sie sich. Ein mit Blut besudelter Rubin. Wer wird ihn finden? Einer der Söldner? Sicher kein Priester, die tragen die Nase heutzutage zu hoch. Vielleicht ein Pilger, auf dem Weg zum Gebet … Nein, nicht nachdem dies alles geschehen ist. Die Tempel werden geschlossen, bis man den Boden erneut segnet. Solang diese Mörder leben, ist Hale nicht mehr heilig.

Sie trat ans Fenster, denn sie ertrug den Anblick der Tür zu ihrer Kammer nicht. Schon wenn sie sie nur aus dem Augenwinkel sah, hoffte sie, ihr Ehemann könnte herauskommen.

»Kinna, gibt es …« Ihre Stimme zitterte, und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie schlang die Arme um sich und verdrängte die Schmerzen, die dies hervorrief, das heiße, schwere Gefühl einer geprellten Schulter und das scharfe Pochen, wo die Haut verletzt worden war.

»Es … nein, Euer Gnaden«, lautete die zögernde Antwort. »Auch von Sir Arite nicht. Oberst Feilin sagte, er könne keine Truppen ausschicken, um nachzuforschen, während wir so tun, als seien wir geschlagen.«

Natai schwieg. Es spielte für sie keine Rolle, dass eine Schlacht bevorstand. Sie war erschöpft, ihr Körper flehte um Schlaf, aber ihr Geist verhinderte es.

Sergeant Kayel scheint für den Kampf zu leben. Er wirkt nun ebenso lebendig wie damals, als er gegen meine Wachen kämpfte. Beneide oder bemitleide ich ihn dafür?, fragte sie sich.

Vielleicht würde sie zu Ruhen gehen, um sich in seinen bezaubernden Augen zu verlieren … Nein, das konnte sie nicht, denn Kayel hatte sie hergebracht, als sei sie tot, in ihr Zimmer weit oben im Turm. Er hatte sorgsam darauf geachtet, dass die anderen das Blut sehen konnten, das von ihrem Kopf auf die Treppen geflossen war.

So viel Blut aus einer so kleinen Wunde. Kleine Ursache, große Wirkung, hat Mutter das nicht immer gesagt? Eine Frau, der man in ihrem Leben wenig verboten hat, die keinen Verlust kannte …

Das Fenster bot einen einzigartigen Ausblick auf Byora. Der Rubinturm blickte, da sich das bedrohliche Schwarzzahnmassiv in seinem Rücken befand, auf den Rest des Landes hinab. Ein Teppich aus Häusern und Werkstätten erstreckte sich vor ihm, durchzogen von den breiten Adern, die in Kürze schon von schmutzigen, gefährlichen Fluten erfüllt sein konnten. Es regnete stark und Natai vermochte durch die wirbelnden Tropfen wenig von Byora zu sehen.

»Euer Gnaden, bitte erlaubt mir, Euch einen Stuhl zu holen«, drängte die Dame Kinna. »Ihr seid verletzt und steht unter Schock. Man muss sich um Eure Wunden kümmern.«

Natai verwarf die Proteste der Frau mit einem Winken. Das Stechen ihrer zahlreichen kleinen Verletzungen hüllte sie besser ein, als es jeder Verband könnte. Der Schmerz entfernte sie von den Schrecken dieses Tages. Ihre zerrissene und feuchte Kleidung war bedeutungslos, denn es würde nichts ändern, eine andere anzulegen.

Der Ausblick hatte sie einst erfreut, und als kleines Mädchen hatte sie Stunden damit zugebracht, aus dem Fenster auf die Stadt hinabzuschauen. Jetzt spiegelte er nur das dumpfe Gefühl der Leere in ihrem Bauch wider. Was sie sah wirkte entfernt und verschwommen, unwirklich.

Wieder wanderten ihre Gedanken zu Ruhen und seiner beruhigenden Ausstrahlung, aber dann erinnerte sie sich an Kinna, die Natais kleinen Prinzen immerzu verwöhnte und versuchte, ihr seine Zuneigung zu stehlen. Bei jeder formellen Ratsversammlung in der Kammer der Herzogin fand diese Frau irgendeinen Vorwand, um Ruhen zu halten und ein unglaubliches Aufhebens zu machen. Sie wuschelte ihm durch das dunkelbraune Haar und freute sich über jeden seiner Laute.

»Ich kann das alles noch immer nicht fassen«, sagte die Dame Kinna plötzlich. »Dass die Kleriker so etwas auch nur versuchen würden. Das ist so unglaublich.«

Natai ließ die Frau weiterplappern, das war besser als die einsame Stille. Sie presste ihre Hände so stark zusammen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten und sah auf das offene Tor hinab, wo sie Oberst Feilin allein und unsicher herumstehen sah.

»Sie können doch nicht glauben, dass die Stadt so etwas hinnimmt? Der Herzog war ein beliebter und bescheidener Mann«, fuhr sie fort. »Der Hochmut der Kleriker ist völlig aus dem Ruder gelaufen.«

»Sie denken nicht nach«, sagte Natai matt. »Sie haben den Verstand verloren. Die Tempel sind nun ein Ort des Wahnsinns. Wir müssen sie schließen, bis endlich wieder Vernunft einkehrt. Wir werden eine Quarantäne ausrufen, damit die Leute von diesem Bösen nicht angesteckt werden.«

»Eine Quarantäne?«, fragte Kinna. »Aber ja, natürlich. Ich sorge dafür. Diese Seuche muss ausgerottet werden. Die Leute werden froh sein, denn sie sind wegen der Predigten voller Wut und Hass schon ganz beunruhigt.«

»Sie sollten sich lieber Ruhen zuwenden, als Antworten in den Tempeln zu suchen«, sagte Natai mit aufwallendem Gemüt. »In seinen Augen findet man Frieden, in den Tempeln gibt es nur Irrsinn.« Sie verstummte, als sie mit einem Mal eine Bewegung auf der Straße unter sich sah.

»Da kommen sie.«

Eine Reihe dunkler Gestalten, Männer, die Schultern gegen den Regen hochgezogen, liefen in erstaunlicher Geschwindigkeit auf das Haupttor zu. Einige lösten sich aus der Gruppe und gingen in andere Richtungen, um auf den Gassen und Wegen, die auf die Hauptstraße führten, ordentliche Reihen zu bilden.

Die Dame Kinna schnappte leise nach Luft, dann straffte sie sich. Sie würde stark bleiben. Die Herzogin sah auf das Tor. Ja, die Pönitenten hatten es erreicht und schlugen Oberst Feilin nieder. Sie liefen einfach weiter, über ihn hinweg. Sie konnte nicht erkennen, ob er noch lebte. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es die Menschenmenge, die nun in den Hof strömte, so eilig hatte, dass sie ihn am Leben ließen. Ihre Diener, die eine Uniform der Rubinturmwache trugen, hatten sich verängstigt an der Seite zusammengekauert. Die Pönitenten hielten sofort auf die vermeintlichen Soldaten zu, schlugen viele nieder und entrissen ihnen brutal die Waffen. Sie konnte sich die wütenden Rufe und Befehle vorstellen. Man würde sie auf die Knie zwingen und einen oder zwei zur Warnung für die anderen töten …

Natai hielt den Atem an und wartete darauf, dass Sergeant Kayel auftauchte. Die Söldner strömten weiterhin in den Hof, hundert, zweihundert Mann, die nur darauf versessen waren, von den verregneten Straßen wegzukommen, weil sie Ushulls grausame Tochter fürchteten, Kiyer, Göttin der Sturzflut. Schließlich folgten Grüppchen von Priestern in Roben. Obwohl sie sich bemühte, konnte sie vom hohen Turm aus keine Gesichter erkennen.

»Wie viele von ihnen kenne ich?«, murmelte sie leise und lehnte sich vor. »Von wie vielen habe ich schon den Segen erhalten?«

»Euer Gnaden, tretet bitte vom Fenster zurück«, warnte die Dame Kinna. »Sie dürfen Euch nicht erkennen.«

»Die Entfernung ist zu groß, sie werden schon nichts sehen.«

»Und wenn sie Magie anwenden?«

»Diese Macht besitzen sie nicht. Peness könnte so etwas, aber von den Klerikern Byoras kommt keiner an seine Kunstfertigkeit heran.«

Während weitere Soldaten hereinströmten, sagte eine leise Stimme in Natais Kopf, dass sie Angst haben sollte, dass es so viele waren, dass ihre Soldaten sie nicht würden abwehren können. Aber das Gefühl blieb aus.

»Seht«, rief Kinna und wies hinab. »Matersestraße!«

Natai folgte dem Fingerzeig Kinnas und sah die Vorboten der Flut eine der Hauptstraßen entlangströmen, über die linke Seite des Anwesens. Die Soldaten, die noch auf der Straße standen, ließen alle Disziplin fahren und rannten wasserspritzend vor der Flut davon. Einer stürzte und musste sich selbst wieder aufrappeln, weil ihm keiner seiner Kameraden dabei half. In weniger als einer Minute, so wusste Natai, würde die Sturzflut die Straßen zu beiden Seiten des Anwesens entlangdonnern, die vier langen Straßen von Acht Türme entlang, die so gebaut waren, dass sie den Hauptteil der Flut ableiteten. Kiyer würde dennoch ihre Opfer einfordern, aber die Verluste wären durch den Umbau der Stadt, der ihr freies Geleit erlaubte, geringer.

Unten wurde den Soldaten die Nachricht mitgeteilt und der Rest zwängte sich ins Innere des Anwesens, in den Schutz der Mauern. Respektvoll hielten sie von den Priestern, die in der Mitte des Hofes standen und auf den Haupteingang des Turms blickten, Abstand. Sie konnte nicht sehen, was sie betrachteten, bis eine Gestalt auf sie zuschlurfte. Sergeant Kayel taumelte ein wenig. Er hielt etwas in der Hand. Einen Knüppel? Nein, eine Tonflasche.

Die Dame Kinna schnappte nach Luft. Er hat wirklich keine Angst vor den Priestern, erkannte sie. Weder Angst noch Respekt.

Es dauerte eine Weile, bis sich Kayel der Blicke bewusst wurde, dann drehte er sich herum und rannte wieder auf den Eingang zu. Sie wusste, dass sie ihm folgen würden, und als er aus ihrem Sichtfeld verschwand, drehte sich Natai mit trockener Kehle und pochendem Herzen zur Tür um. Sie beachtete die drängende Stimme Kinnas hinter sich gar nicht, sondern stellte sich vor, wie die Decke über ihnen einstürzte, ihre welken Knochen wie Zweige zerbrach und ihre Schreie verstummen ließ – wie die der Lämmer im Schlachthaus. Sie taumelte unter der Last der Erinnerung an Ganas, der langsam, so schrecklich langsam fiel. Aber sie konnte sich fangen und trieb sich voran – über den Flur und die kurzen Treppen hinab bis zur Empore, von der aus sie auf ihren verwaisten Thron blicken konnte.

Sie hörte das Stampfen von Stiefeln auf den Treppen unter sich, aber sie ging trotzdem weiter. Die Ebenen zwischen ihnen waren die größten, mit Dutzenden von Zimmern auf jeder. Sie würden sie nicht erreichen, bevor das Dach einstürzte und sie zurückeilten, nur um ihre Anführer tot vorzufinden. Die Dame Kinna folgte ihr auf dem Fuße, als die Herzogin von Byora durch die verlassenen Gänge rannte, bis zu Erwillens Treppenabsatz, der von einem ihrer Vorfahren aus falscher Frömmigkeit wegen des Schreins für den Hohen Jäger, eines Aspekts Vellerns, so genannt worden war, den der hier errichtet hatte. Da hatte er Bogenschützen postiert, damit sie mögliche Meuchler abschossen.

Der Absatz war mit bunten Wandbildern verziert und lag unmittelbar über dem Haupteingang des Rubinturms. Hohe Fenster überblickten den Eingang und die Herzoginnenkammer. Der Schrein hing von der Decke, ein Rahmen aus gehämmertem Eisen, an dem Federn, bunte Bänder und kleine Ikonen mit Erwillens Abbild befestigt waren.

Als sie vorbeiging, erzitterten diese Gegenstände, und sie blieb stehen, um sie zu betrachten. Die Farben waren verblichen und matt. Natai berührte leicht eine Feder … und sie zerfiel unter ihrem Finger. Sie starrte die ascheartigen Überreste in ihrer Hand einen Augenblick lang an, dann ergriff sie eine der bemalten, hölzernen Ikonen und zerdrückte sie so einfach in der Hand, als wäre sie aus Papier.

»Du bist tot. Dieser Schrein ist ausgelaugt und leer. Und dies ist nur der erste von vielen in Byora«, versprach Natai.

Sie blickte in die Herzoginnenkammer hinab und sah nur ihren leeren Herrschersitz. Der feststehende Steinthron befand sich auf einem Podest und war breit genug, dass ein Kind neben dem Herrscher Byoras sitzen konnte. Hinter ihm hatte man einen großen Holzrahmen aufgebaut, auf dem das Wappen der Stadt aufgemalt war. Alles schien ruhig, als wäre es ein Gemälde, dann taumelte Sergeant Kayel herbei und folgte einem geschwungenen Pfad zu einer Tür hinter dem Thron. Zwei Pönitente in geschwärzten Kettenhemden folgten ihm eilig – und erreichten ihn mühelos. Einer wich einem trunkenen Hieb mit der Flasche aus, und der andere zog Kayel den Knüppel über. Mit einem Keuchen sank der große Soldat auf ein Knie.

Der Herzogin von Byora stockte der Atem, als sie unter sich das Echo zahlreicher Schritte hörte. Sie konnte sich vorstellen, wie die Männer zurückblieben, nervös abwarteten, bis die Soldaten mit Kayel fertig geworden waren. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in ihrem Mund aus, und sie bemerkte, dass sie sich vor Anspannung auf die Lippe gebissen hatte. Noch bevor sie das Blut wegwischen konnte, erklang ein lautes Ächzen unter ihr, und der Boden zu ihren Füßen erbebte. Natai hielt sich am Fensterrahmen fest, während das Stöhnen und Knacken malträtierten Mauerwerks zunahm. Sie wagte einen weiteren Blick in die Kammer hinab. Die beiden Pönitenten starrten entsetzt zu ihr auf. Sogar Kayel schien wie versteinert, als die Vorkammer heftig schwankte.

Natai war starr vor Schreck. Kayel und die Soldaten befanden sich nicht allein in der Kammer. Ein Schrei kroch ihre Kehle herauf, aber die Angst trieb ihr die Luft aus der Lunge, als eine kleine Gestalt hinter dem Thron hervortapste und auf Kayel zulief. Etwas löste sich unter ihr und zersprang auf dem gekachelten Boden der Vorkammer, unmittelbar gefolgt von einem unglaublichen Krachen, das ihren ganzen Körper erzittern ließ, während die Vorkammer einstürzte.

Die Druckwelle warf Natai auf die Knie. Als sie sich wieder auf die Beine gezogen hatte und durch das Fenster sah, breitete sich eine Staubwolke in der Herzogskammer aus und durch diese sprang Kayel einen der Pönitenten an. Er trat dem Mann von hinten in die Beine und schlug ihm gegen den Hals, als er fiel. Aber der andere war schnell und schickte Kayel mit einem Knüppeltreffer zu Boden. Natai wurde bleich, als Ruhen zwischen sie tapste, doch der Pönitent setzte nicht nach.

Natai konnte das geheimnisvolle Lächeln im Gesicht des Kindes nicht sehen, aber Ruhen ging mit unsicheren Schritten, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, auf den Pönitenten zu und zeigte keinerlei Angst. Natai konnte den Ausdruck des Mannes ebenfalls nicht erkennen, aber sie spürte plötzlich die Wärme von Ruhens wunderschönem Lächeln. Er bewegte sich nicht, nicht einmal, als Sergeant Kayel sich aufrappelte und sein Schwert wie ein Wurfmesser schleuderte. Die Spitze traf den Pönitenten in den Hals und fällte ihn.

Bevor der Sergeant seine Waffe auflesen konnte, wurde er von einer unsichtbaren Hand geschlagen. Er blickte verwundert drein, da traf ihn ein zweiter Hieb, der ihn mehrere Meter zurückwarf. Ruhen drehte sich um und folgte seinem Beschützer, da kamen zwei Gestalten in Sicht, die aus den Trümmern der Vorkammer hervortaumelten, Staub von ihren Roben klopften und auf wackligen Beinen auf das Kind zugingen.

Die Angst gab Natai Kraft und brachte ihr die Stimme zurück. Mit einem Schrei stürmte die Herzogin die Treppe hinunter und schüttelte ihre Hausschuhe ab. Trotzdem stürzte sie beinahe, während sie von Stufe zu Stufe sprang. Als sie den Raum erreichte, standen die beiden Priester vor Ruhen. Der Kleine blickte ohne erkennbare Angst zu ihnen auf.

Einer der Männer bemerkte sie und tat erschrocken einen Schritt rückwärts. Sie erkannte den jungen Mann, obwohl sein Gesicht wutverzerrt war. Normalerweise stand er schweigend im Tempel von Ushull im Hintergrund. Er hob die Hand, und ein seltsames Geräusch erklang, als würde etwas die Luft einsaugen. Ein wirbelnder Energiestrom bildete sich um den Magier.

Natai achtete gar nicht darauf, dass sie selbst in Gefahr war, lief auf die beiden zu und warf sich vor ihr Kind, wobei sie rief: »Ich lasse nicht zu, dass ihr ihm wehtut.«

»Dreckige Ketzerin«, spie der andere Priester aus, ein Mann mit weißen Haaren und einem runden Gesicht, der in die roten Roben Karkarns gekleidet war. Er hielt sich den rechten Arm, aber dennoch tanzten rote Funken über seine Haut. Er war noch immer gefährlich.

»Ihr alle werdet für dieses Verbrechen sterben«, sagte er.

Nein, sagte eine ruhige Stimme in ihrem Kopf. Sie erschauderte, sah die Priester an und erkannte in ihren Gesichtern, dass sie es auch gespürt haben mussten. Sie drehte sich um, aber Kayel lag noch immer reglos am Boden.

Sie war wie erstarrt, konnte nur ihren Kopf bewegen, und anscheinend waren auch die Priester auf diese Weise gefesselt. Nur Ruhen war nicht betroffen – er war auch der Einzige, der sich nicht nach dem Sprecher umsah.

Mit einem sanften Lächeln und die Hand an Natais Kleid, um sich zu stützen, trat er um sie herum. Er sah zu dem Priester des Karkarn auf, dessen Gesicht vom fremdartigen Licht der Magie beleuchtet wurde, weil er gerade eine Beschwörung murmelte. Er stockte kurz, doch dann gewann sein Hass wieder die Oberhand, und er sammelte Magie. Das Licht verstärkte sich.

Natai versuchte Ruhen zu fassen, aber ihre Gliedmaßen gehorchten ihr nicht, und so konnte sie nur tatenlos zusehen, wie das Kind die Hand hob und dem Priester mit den dicken kleinen Fingern zuwinkte. Aber diese kleine Bewegung schien den Priester wie ein Schlag zu treffen, und das magische Licht verschwand. Er keuchte angestrengt auf und sank auf die Knie, drückte die Hände gegen seine Brust und brach dann auf dem gekachelten Boden zusammen.

Die Verwunderung des Ushull-Priesters verwandelte sich schnell in ein Abbild des Schmerzes. Er fiel ebenso schnell, eine Hand schützend um den Hals gelegt, und zuckte und wand sich am Boden, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Ruhen sah den beiden Männern ganz ruhig beim Sterben zu, aber Natai konnte überall um sie herum Stimmen flüstern hören. Sie zuckte zusammen, als sich der Junge ihr zuwandte, aber statt des erwarteten Schreckens zeigte Ruhens Gesicht den gleichen Ausdruck wie immer. Dann erschienen mit einem Mal Grübchen, als er ihr ein breites Lächeln schenkte und die Arme ausstreckte, womit er kundtat, dass er getragen werden wollte.

Die Herzogin nahm ihn auf den Arm und drehte sich im Kreis, funkelte die Gesichter, die sie beobachteten, böse an, bis sie alle flohen und sie mit dem Jungen in ihren Armen und dem Sergeant, der sich nun schwer angeschlagen auf die Beine kämpfte, allein ließen. Kayel stieß einen verwaschenen Strom an Schimpfwörtern aus. Natai dankte ihm nicht, hielt Ruhen eng an sich gepresst, atmete den süßen Duft seiner Haare ein und ging die Treppe hinauf. Sie hielt erst an, als sie die Spitze des Rubinturms erreicht und die flüsternden Stimmen weit hinter sich gelassen hatte.

 

Venn verkrampfte sich, als ein wirbelnder Schatten an seinen Augen vorbeistob. Seine trockenen, aufgesprungenen Lippen waren verklebt, weshalb der Atemzug nach dem Erwachen wie ein schwaches, tonloses Pfeifen klang. Trotzdem reichte es aus, um die Aufmerksamkeit der groß gewachsenen Priesterin zu erregen, die einige Schritt entfernt saß. Als sie bemerkte, dass er erwacht war, nahm sie eine Suppenschüssel auf, die in der Nähe zum Abkühlen abgestellt worden war, und kam zu ihm.

Ihr Gesicht zeigte noch immer die Stärke, die ihm schon aufgefallen war, bevor sie zu seinem Kindermädchen wurde. Sie war hübsch und das Alter hatte ihrem Aussehen nichts anhaben können. Sie hatte die mit Obsidiansplittern besetzte Halbmaske bisher noch nicht abgenommen, doch er spürte, dass sie kurz davor war. Sie fand in ihm, in jedem Wort, das er sprach, ihre Bestimmung. Sie würde zu Azaers eifrigster Jüngerin werden, zur gnadenlosesten Verteidigerin des Kindes.

»Sogar Berge vergehen im Laufe der Zeit. Sogar Gletscher zerschmelzen. Nichts kann dem langsamen Zerfall widerstehen.«

Er hatte die Formen der Lehre abgelegt, die von den Harlekinen verwendet wurden, denn sie waren überflüssig geworden. Er sprach nur noch selten, weil er von der Anstrengung, zwei Herzen am Schlagen, zwei Geister bei Verstand zu halten, beständig erschöpft war. Dohles Leben hing vollkommen von ihm ab, darum konnte Venn es sich nicht erlauben, seine Kraft für eitles Geschwätz zu verschwenden.

Die Priesterin wusste, wie schwer ihm das Sprechen fiel. Sie kauerte sich neben ihn, und ihre Augen strahlten, weil sie erkannte, dass sie seine neueste Verkündigung weitertragen durfte. Die anderen würden zu ihren Füßen sitzen und darauf warten müssen, dass sie sprach, und darauf, dass sich einmal mehr das betäubende Kribbeln der Wahrheit in ihren Geist ergoss.

»Sogar für das größte Meer kommt irgendwann das Ende. Eltern zu sein, das heißt doch, eines Tages in den Schatten gestellt zu werden, der Schwäche ausgeliefert zu werden, dem Fehler.«

Ihr Atem stockte, als sie sich eine Frage verkniff, noch bevor sie ausgesprochen wurde. Sie war ihm so nah, dass er ihren Schweiß und schlechten Atem riechen konnte, sogar über die weihrauchgeschwängerte Luft hinweg. Sie hatte den halben Tag darauf gewartet, dass er aufwachte, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Er roch ihren Eifer.

»Wer«, sagte er langsam, mit trockener, wunder Kehle, »wer wollte darum die Götter für ihre Fehler tadeln? Wo ist jenes vollendete Wesen, das die Hand heben und die Götter strafen könnte, die es geschaffen haben? Wenn uns unsere Götter im Stich lassen, zu wem sollen wir dann um Fürsprache in diesem leidvollen Leben beten?«