10

Der Himmel war schiefergrau und aufgewühlt. Ein scharfkantiger Berg brannte in der Ferne, umhüllt von schwarzen Rauchfahnen. Der eisige Wind fuhr in seine zerschlissene Kleidung, während er in dem rutschigen Schlamm nach einem sicheren Tritt suchte. Er taumelte erschöpft weiter über den versehrten Boden und musste sich bei jedem Schritt auf sein Schwert stützen, um Halt und Kraft zu finden, aber es machte einfach keinen Unterschied. Der Berg kam nicht näher, und die Dunkelheit hinter ihm erstreckte sich ins Unendliche.
Er sank auf die Knie, schnappte nach Luft und sah sich um. Die Landschaft war zerrissen. Tiefe Gräben waren in den Boden gezogen, und sogar die Gräser wirkten wie abgestorben. Tod war überall um ihn herum, und obwohl hier und da Gegenstände herumlagen – ein Helm hier, ein zerbrochener Säbel dort –, sah er doch niemanden, weder lebendig noch tot. Der Berg erhob sich wie ein abgebrochener schwarzer Zahn über ihm, unwirklich und unerreichbar.
Er grub die Finger in den Schlamm und spürte, dass sie hineingezogen wurden. Er löste seine Hand wieder aus dem Griff des Landes und versuchte aufzustehen, aber seine Beine verweigerten den Dienst und die Dunkelheit umhüllte ihn. Er versuchte zu schreien, konnte seiner Angst aber keine Stimme verleihen. Er versuchte seine letzte verbliebene Kraft zusammenzunehmen, um das Schwert zu heben, doch es gelang nicht. Die Dunkelheit beugte sich über ihn, so körperlos wie Rauch. Doch dann packten ihn eisige Finger an der Kehle. Er fiel in den wartenden Schlamm zurück, und es brannte, als die Erde ihn in sich hineinzog, wobei ihn die Hand an seiner Kehle unablässig weiter hinabdrückte, hinab in das kalte Grab.
»Darf ich eine Vermutung äußern, warum Ihr gerade diesen Ort ausgesucht habt?«
Isak drehte den Kopf zu Mihn um, der bewegungslos dasaß, ein dunkler Schemen vor dem Licht, das durch die verzogenen Bretter schien.
»Könnte es nicht sein, dass ich einfach nicht im Weg sein wollte und mir da ein Stall so recht war wie jeder andere Ort?« Isak wies auf die Tenne, auf der sie saßen. Im Halbdunkel unter ihnen regten sich Ochsen. »Hier ist es wärmer als draußen in der Gasse, oder?«
»Das ist es tatsächlich, aber ich vermute, dass Ihr in diesem Stall schon einmal wart.«
Isak zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber das macht ihn noch nicht zu etwas Besonderem.«
Er wusste, dass sich Mihn nicht täuschen ließe. Der schweigsame Nordmann betrieb kein eitles Geschwätz. Er fing selten selbst ein Gespräch an, auch wenn die Monate in Morghiens Begleitung ihn etwas offener hatten werden lassen. Morghien war zwei Wochen in Tirah geblieben, dann hatte die Straße zu laut nach ihm gerufen, und er hatte seiner unsteten Natur nachgegeben. Während dieser Zeit hatte Isak den unausgesprochenen Bund zwischen den beiden bemerkt, der seiner eigenen Beziehung zu Mihn ähnelte. Es wirkte, als habe Mihn vergessen, wie es war, Freunde zu haben, sich dann aber langsam doch wieder daran erinnert.
»Ich denke schon, dass er bedeutsam ist, mein Lord. Ihr seid kein Schwärmer, darum meine ich, dass Ihr nicht aus nostalgischen Gründen hier seid.«
»Ziehst du mich auf?«
»Nein, Isak, ich bin besorgt. Scree hat Euch verändert, auf mehr als eine Weise. Die Hexe von Llehden ist auch dieser Ansicht, und ich spreche hier nicht nur vom Erscheinen der Schnitter auf dem Irienn-Platz.«
»Wovon sprichst du dann?«, fragte Isak barsch und erinnerte sich erst im letzten Moment daran, leise sprechen zu müssen.
Der Wind war den Tag über stärker geworden und jetzt, nach Mitternacht, peitschte er durch die Stadt und rüttelte mit einem gequälten Stöhnen am Stalldach über ihnen. Anfang der Woche hatte es ein bisschen geschneit und Isak glaubte gespürt zu haben, wie die Kälte bei diesen ersten Flocken noch eisiger wurde.
»Ich spreche über Euch«, sagte Mihn geduldig. »Ihr scherzt nicht mehr so oft wie früher. Es scheint beinahe, als hättet Ihr vergessen, dass es einstmals Euer Lachen war, das andere zu Euch zog …«
»Ich bin der Lord der Farlan«, unterbrach ihn Isak. »Ich sollte kein Gelächter brauchen, damit sie mir gehorchen.«
»Das meinte ich nicht. Es war bei Euch so natürlich wie das Atmen. Dass Ihr Lord der Farlan seid, bedeutet nicht, dass sie Euch gedankenlos folgen, nur, dass sie Eure Befehle befolgen werden.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ihr erscheint gehetzt. Ihr werft Blicke über die Schulter, sogar beim Essen, wenn Ihr mit dem Rücken zur Wand sitzt – und Ihr schiebt Euren Stuhl weiter zurück, um hinter allen anderen zu sitzen. Ja, ich habe es bemerkt.«
Isak blickte auf den Stallboden hinab. »Was soll ich dazu sagen?«
»Dass ich Euer Gefolgsmann bin und Ihr mir Eure Geheimnisse anvertraut.«
»Natürlich vertraue ich dir.«
»Dann erlaubt mir auch zu helfen«, sagte Mihn ruhig. »Ich stehe Euch voll und ganz zur Verfügung, ob ich den Sinn hinter Euren Befehlen nun durchschaue oder nicht.«
»Und das wird helfen, ja?«, fragte Isak verstimmt.
»Ihr seid ein Weißauge, mein Lord. Es liegt in Eurer Natur, Dinge nicht einfach friedlich hinzunehmen. Da Ihr so unruhig wirkt, denke ich, dass ihr bisher noch keine Möglichkeit gefunden habt, wie sie zu bekämpfen sind. Wenn dies geschieht, werdet Ihr merken, dass mit einem Ziel viel von Eurer Unruhe von Euch weicht.«
Isak lachte leise und freudlos auf. »Du könntest Recht haben, aber ich habe einige Probleme, für die es meiner Meinung nach überhaupt keine Lösung gibt.«
»Zählt sie auf.«
Er sah Mihn an, erwartete halb, der Mann würde scherzen, aber er meinte es todernst.
»Gut, wenn du schon fragst: Als Erstes ist da dieser religiöse Wahn, der alle in den Irrsinn treibt und Dummheit statt Politik verlangt. Dann träume ich seit dem Fall von Scree nur noch vom Tod, und das wird zunehmend schlimmer.« Er verzog das Gesicht und kratzte sich an der Wange. »Und dann gibt es keine Spur von den Anhängern Azaers, die Scree überlebten. Wir haben noch immer wenig Ahnung davon, was die Motive des Schattens sind, und ich habe keine Ahnung, wo wir ansetzen sollen.
Also, hast du jetzt die eine oder andere Lösung für mich?«
»Nein, mein Lord«, antwortete Mihn schwermütig. »Aber ich habe einen Rat anzubieten, der vielleicht von zumindest geringem Nutzen sein könnte. Ihr müsst stets Eure Stärken nutzen. Ein Schmied breitet sein Werkzeug aus, bevor er mit der Arbeit beginnt, und das solltet Ihr auch tun.«
»Soll ich alle meine Lordprotektoren in einer Reihe aufstellen lassen?«, fragte Isak und lächelte bei diesen Worten kurz.
»Nein, es geht um die Werkzeuge des Mannes Isak, nicht um die des Herzogs.«
»Davon habe ich nur wenige«, sagte er grimmig und war sich bewusst, dass Mihn seinen Vornamen benutzt hatte, was er nur selten tat. »Ich bin ein Weißauge, was bedeutet, dass ich so viele schlechte wie gute Eigenschaften habe.«
»Ihr habt Euch vor diesen bisher nie versteckt«, führte Mihn aus. »Ich habe den Ausdruck auf Eurem Gesicht gesehen, der erscheint, sobald jemand die Schlacht auf den Chir-Ebenen erwähnt – Ihr seht dann eher entschlossen als peinlich berührt aus.«
Isak hob die Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen, denn nun hörten sie Schritte vor der Tür des Stalls. Es klapperte, als die Tür aufgeschoben wurde und ein Gesicht in dem Spalt erschien. Vesna sah sich überall im Stall um, bis er Isak auf dem Heuboden entdeckte.
»Sprich weiter, rasch«, sagte Isak zu Mihn und stand auf.
»Nehmen wir die religiöse Angelegenheit. Dies ist ein unangenehmer Teil der Gesellschaft. Bedenkt Euer Temperament, es ist sogar noch heute sprunghaft. Was habt Ihr daran geändert?«
Isak stand mit nachdenklichem Ausdruck da, überragte Mihn weit und sagte schließlich: »Ich habe es als Teil meiner selbst angenommen, etwas, das niemals verschwinden wird und darum beherrscht werden muss.« Vorsichtig stieg er die knarrende Leiter hinab.
»Genau. Ihr habt es in Euer Inneres getragen und dort zu besserem Nutzen gebracht. Euch blieb ja auch nur dies übrig, wollt Ihr nicht für den Rest Eures Lebens einen Krieg gegen Euch selbst führen.«
»Da hast du wohl Recht.« Isak lächelte matt. »Und das andere Problem? Meine Träume vom Tod? Es erscheint mir dumm, den Tod einfach hinzunehmen … und das ist ein Problem, was man nur schwerlich umgehen kann. Aryn Bwr hat das versucht – und sieh dir nun an, was aus ihm wurde. Ich bin lieber ganz tot, als ein zerschlagener Passagier im Geist eines anderen zu sein, selbst wenn ich die Fähigkeiten hätte, das herbeizuführen.«
Mihn nickte ernst. »Natürlich, aber gilt möglicherweise auch hier das gleiche Prinzip? Euer Leben ist durch die Prophezeiungen und die Mächte, die sie vorantreiben, bestimmt – wenn diese Euch nicht mehr auf der Fährte sind, werdet Ihr von Eurer eigenen Existenz vielleicht auch nicht mehr so bedrängt. Es gibt Geschichten von Männern, die Tod selbst ausgetrickst haben. Befreit Euch das von Euren Bürden?« Er seufzte und wies auf den Stallboden. »Auf der anderen Seite habt Ihr selbst mir berichtet, dass man Lord Bahls Träume als Waffe gegen ihn eingesetzt hat. Dies mag nichts anderes sein als das Bestreben eines Magiers, Euch auf einen bestimmten Weg zu zwingen.
Doch wie dem auch sei, dieses Gespräch müssen wir an einem anderen Tag weiterführen, mein Lord, denn der Herzog erwartet Euch.«
Drei weitere Männer waren nun in den Stall getreten. Sie wirkten nervös und hatten die Hand am Schwert. Der Herzog von Perlir wurde von zwei stämmigen Leibwachen flankiert, die schlichte Wämser trugen. Isak schätzte sie als eingeschworene Soldaten ein, die für ihre Dienste den Ritterschlag erhalten hatten. Er bemerkte ein blaues, verschlungenes Hautbild am Hals eines dieser Männer. Der Herzog war das genaue Gegenteil seiner Wachen: ein schlanker Mann mit gewichstem Schnurrbart, dessen Kleidung in Rot, Braun und Gold fein genug für einen öffentlichen Ball erschien. Nachdem er sich einen Augenblick im Stall umgesehen hatte, gab er seinen Wachen ein Zeichen und alle drei nahmen ihre Scheiden ab und knieten zum formellen Gruß vor Isak, wobei die Schwertgriffe auf ihn wiesen.
»Herzog Sempes«, sagte Isak möglichst freundlich. »Danke, dass Ihr gekommen seid. Bitte, erhebt Euch.« Statt ihm die offenen Hände hinzustrecken, umfasste Isak den Unterarm des Herzogs zum Gruß, wofür er einen etwas verwunderten, aber dankbaren Blick erntete.
»Ich danke Euch, mein Lord. Ganz Perlir trauert um Lord Bahl. Er war ein größerer Mann, als manch einer gelten lassen will.«
»Ich trete in große Fußstapfen, das ist sicher«, sagte Isak, verstummte aber, als ein weiteres Trio hereinkam, das von einem Weißauge angeführt wurde, das größer als General Lahk war. Eine missgünstig dreinschauende, rothaarige Frau folgte. Sie war eine Geweihte der Dame, erkannte Isak, als nun der Herzog von Merlat hinter ihr hereinschlüpfte und sich nervös umsah.
Herzog Shorin Lokan wirkte etwas älter als sein Gegenstück aus Perlir und schien ganz anders gebaut. Er war eine watschelnde, ziemlich fette, kränkelnde Kreatur und kämmte sich das spärliche Haar über den Kopf. Haushofmeister Lesarl hatte Isak zwar stets daran erinnert, dass der Mann keineswegs ein Narr war, aber in Isaks Augen sah er so klug aus wie eine Kröte in einem blauen Mantel.
»Herzog Lokan, welche Freude«, sagte er und versuchte dieses Bild aus seinem Kopf zu bekommen.
Der Herzog schaffte es, so weit in die Hocke zu gehen, dass er mehr oder weniger kniete, und hielt nun sein Rapier – das offensichtlich nur der Zier galt – grob in Isaks Richtung.
»Jede Fingerbreit ein Lord«, murmelte Lokan nervös, ließ sich von einer Leibwache aufhelfen und taumelte dabei rückwärts. »Ihr wirkt wie Lord Bahl, was bei einem so jungen Lord sehr beruhigend ist.«
»Ich danke Euch. Nun, meine Lords, dort drüben gibt es ein Hinterzimmer, in dem wir uns zusammensetzen und einen Becher Wein trinken können. Ich gestehe, dass die Umgebung kaum Eurem Rang angemessen ist, aber der Wein, das kann ich Euch versichern, ist ausgezeichnet.«
Ohne auf eine Antwort zu warten führte er sie an den Kuhställen vorbei zu einer Tür in der Rückwand. Ein Paar großer Öllampen ließ ihr Licht von der anderen Seite durch die Spalte in der Tür scheinen. Ein ganz schlichter Eichentisch, von vier Stühlen umgeben, stand in der Mitte des Raumes. Tila wartete an einer Seite mit einem großen Krug in den Händen.
»Demnach müsst Ihr die Dame Tila sein«, sagte Lokan, der dem Herzog von Perlir in den Raum folgte.
»Das stimmt, mein Lord«, sagte Tila mit erschrockenem Blick und einem Knicks.
»Das habe ich mir gedacht.« Lokan schnaufte tief und ließ sich auf den Stuhl sinken, den Isak für ihn bestimmt hatte. »Meine Frau hat Euren Namen erst heute Morgen verflucht.«
»Eure Frau, mein Lord? Aber ich glaube, ich hatte bisher noch nicht die Ehre, sie …«
»Interessant, nicht wahr? Es war, als hättet Ihr sie irgendwie verärgert, aber da Ihr sie nie zuvor getroffen habt, wüsste ich nicht, wie das geschehen sein kann«, sagte Lokan fröhlich und mit der Andeutung eines Lächelns. »Natürlich ist sie jünger als ich und vor zehn Jahren noch hat man sie als einen guten Fang betrachtet – eine der schönsten Frauen des ganzen Stammes, wisst Ihr? Es liegt ja sicher nur daran, dass Eure Schönheit Ihr diesen Titel abspenstig macht, mehr wird es schon nicht sein. Immerhin habt Ihr sie nicht in irgendeinem Wettbewerb besiegt, oder etwa doch?«
Tila blickte unwillkürlich zu Graf Vesna hinüber, der gerade an der Tür stand und jetzt seine Füße in Augenschein nahm.
»Oh, nun, nein, natürlich nicht«, stammelte sie und knickste erneut, um dann den Becher zu füllen, den ihr Lokan hinhielt. »Ich danke Euch für das Kompliment, auch wenn ich nicht glaube, dass ich der Schönheit Eurer Frau jemals ebenbürtig sein könnte, damals oder heute.«
»Vier Stühle?«, fragte Sempes und setzte sich Lokan gegenüber.
»Es kommt noch jemand dazu«, sagte Isak. »Aber im Augenblick wäre es schön, wenn wir drei uns erst einmal allein unterhalten könnten …«
Beide Männer wirkten misstrauisch, nickten dann aber gleichzeitig und Tila zog sich mit den Leibwachen zurück. Als sich die Tür schloss, setzte sich Isak und musterte die Herzöge eingängig.
»Ich weiß nicht viel darüber, wie ihr zu Lord Bahl standet«, fing er an. »Aber jetzt ist die Zeit gekommen, ungeachtet früherer Probleme neu zu beginnen.«
Die Herzöge wussten natürlich nur zu gut, dass er über ihre Beziehungen zu Lord Bahl bestens im Bilde war. Lesarl hätte ein solches Treffen niemals stattfinden lassen, ohne seinen Lord vorher ausführlich darüber unterrichtet zu haben. Aber sie verstanden, was er damit sagen wollte.
»Im Laufe der nächsten Jahre werden wir bisher ungekannten … nun, nennen wir es einmal Schwierigkeiten gegenüberstehen«, fuhr Isak fort. »Darum müssen wir ein geeintes Land sein, und damit hatten die Farlan in der Vergangenheit immer Probleme.«
»Darf ich offen sprechen, mein Lord?«, fragte Sempes mit einem Mal. Er saß so aufrecht auf dem Stuhl, dass sich Isak fragte, ob er unter dem feinen Zwirn wohl eine maßgefertigte Rüstung trug.
»Natürlich.« Isak überging die ungewöhnliche Direktheit und schrieb sie eher der Vorsicht als einer Art von Feindseligkeit zu.
»Ihr wollt, dass wir Euch öffentlich unsere Unterstützung aussprechen, mein Lord? Ich weiß Eure bisher an den Tag gelegte Höflichkeit zu schätzen – das Treffen so zu gestalten, dass man es leugnen kann. Und auch dass Ihr uns überhaupt um unsere Unterstützung bittet. Ich bin mir wohl bewusst, dass Ihr uns auch einfach bei Eurer Krönungszeremonie hättet zwingen können, uns öffentlich zu Euch zu bekennen. Doch ein Weißauge, das solchen Bedacht zeigt? Ich hoffe, Ihr verzeiht einem alten Mann, dass er dabei Unbehagen empfindet. Ich frage mich, wofür Ihr unsere Unterstützung braucht.«
»Ich verzeihe«, sagte Isak fröhlich. »Die Lage ist einfach, aber – um gänzlich offen zu sein – ich möchte Euch an meiner Seite wissen, weil ich vermute, dass im Land bald nur noch für meine Verbündeten Platz sein wird.« Er hob beruhigend die Hand. »Das soll keine Drohung sein, nur eine Feststellung der Tatsachen. Ich werde in den kommenden Jahren viel von Euch verlangen, und damit die Farlan stark bleiben können, müssen wir alle Opfer bringen.«
»Und die Unterstützung?«
»Ich habe vor, ein Edikt bezüglich des freigewordenen Herzogtums zu erlassen und den nächsten Herzog von Lomin selber zu ernennen, statt der Erbfolge zu entsprechen.«
»Ihr wollt einem Nachfolger sein Amt verweigern?« Herzog Lokan saß vorgebeugt auf dem Stuhl und musterte Isak so eingängig, als könne er die Wahrheit erkennen, wenn er nur gut genug hinsah.
»Ja. Ich habe Euch hergebeten, um Euch meine Gründe vorab zu erläutern, bevor ich öffentlich um Eure Unterstützung bitte. Wenn Ihr bei meiner Krönungszeremonie nicht davon überrascht seid, wird das ein deutliches Signal für die anderen sein. Wenn die Herzoge sich einig sind, werden auch die Lordprotektoren, die bisher noch nicht treu ergeben waren, sich einreihen.«
»Eine treffende Beobachtung.« Sempes nickte. »Aber ich verstehe nicht, warum das Amt verweigert werden muss. Ich hörte, dass es einigen Streit über die Nachfolge gab, aber sobald Disten seine Nachforschungen abgeschlossen hat, sollte eine Einmischung Eurerseits doch nicht mehr nötig sein. Euer Haushofmeister hat Euch sicherlich davon informiert, dass unsere Beziehung keineswegs freundlicher Natur ist. Einige unserer Konflikte wurden öffentlich und darum brauche ich einen guten Grund, um über die Jahre der Feindseligkeiten hinwegzusehen.«
Isak nickte und war sich durchaus bewusst, dass in den Scharmützeln der Städte Tirah, Perlir und Merlat auf allen Seiten Adlige gestorben waren. »Die Verweigerung ist notwendig, weil ich denke, dass Ihr den rechtmäßigen Herzog nicht annehmbar finden werdet.«
»Ach?«
»Lesarl interessiert sich für solche Dinge. Er unterrichtete mich und ich bat die Dame Tila, es genauer zu untersuchen. Sie bemerkte dies sofort. Wenn Tila aber nur einen Blick darauf werfen muss, werden auch andere es bald entdecken. Ich bat sie also, sich mit dem Sohn des Vettern des früheren Herzogs zu treffen, dessen Familie die beste Mischung aus Anspruch und Macht aufweist. Sein Name ist Sir Arole Pir. Er wurde nach der Schlacht vom ehemaligen Herzog zum Ritter geschlagen, und man erwartet eine große Zukunft für ihn.
Tila beschrieb ihn als ›charmanten und sehr gut aussehenden Mann‹.«
»Hah«, grunzte Lokan mit einem breiten Grinsen. »Und meine Frau wird ohne Zweifel das Gleiche sagen! Der ganze Stamm weiß ja, welche Sorte Mann die Dame Tila bevorzugt.«
Isak lächelte. »Ganz recht. Er mag uns vielleicht alle überraschen und einen guten Herzog abgegeben, aber ich glaube, dass viele ihn etwas zu bequem finden werden.«
»Es sind schon aus geringeren Gründen Unfälle geschehen«, bemerkte Sempes. »Und sogar mit unserer Zustimmung würden es diejenigen, die vermutlich schon die Wahrheit kennen, nicht hinnehmen. Die Lordprotektoren von Meah mochten es noch nie, die geringeren Vettern in der Familie des Herzogs zu sein, und gemeinsame Ländereien bringen stets Probleme hervor.«
Perlir nickte zustimmend. Die Lehngesetze der Farlan waren streng. Jeder Herzog beherrschte eine der vier Städte, besaß aber nur wenig Land, darum waren sie stets von einem Lordprotektorat umgeben. Weil ihm der Reichtum einer Stadt zur Verfügung stand, besaß der Herzog oft genauso viel Land im Lordprotektorat wie sein Lord, und Farlan teilten nicht gerne.
»Lordprotektor Imis wäre darüber noch weniger erfreut«, sagte Isak. »Seine Grenze zum Großen Wald ist länger als jede andere, darum beeinflusst Tirah seine Entscheidungen schon jetzt wesentlich stärker, als ihm lieb ist. Wenn eine Marionette die Herzogskrone aufsetzt, wird er sich beschnitten fühlen.«
»Eure Lösung?«
»Oberst Belir Ankremer aus der zweiten lominschen Infantrie.«
»Lomins Bastard?«
Wie Oberst Jachen Ansayl, der Befehlshaber von Isaks Leibwache, der ein Bastard des Sayl-Lordprotektorats war, trug auch Oberst Ankremer den Namen der Adelsfamilie, aus der sein Vater stammte. Der alte Herzog hatte jedoch, als Zeichen der Treue zu Bahl, den Namen der Ländereien Kremer und nicht seinen eigenen benutzt. Das war eine Geste, von der sein rechtmäßiger Sohn, Herzog Certinse, sich absetzte, und dies nicht nur einmal, sondern zweimal, indem er nämlich die Namen Lomin und Kremer gleichermaßen zu Gunsten des Namens der Familie seiner Mutter ablegte.
»Ihr wollt, dass die Farlan erstarken, aber wie soll das möglich sein, wenn Ihr einem Soldaten, der ein Bastard ist, ein Herzogtum gebt?«, wollte Lokan wissen. »Ihr verlasst Euch doch selbst nicht auf göttliche Berufung, sondern haltet Euren Titel mithilfe Eurer Gaben und der Palastgarde. Was sollte Oberst Ankremer daran hindern, in noch stärkerem Maße zu einer Marionette zu werden als Sir Arole?«
»Er ist einer der besten Soldaten, über die Lomin noch verfügt. Ein Bastard kann nur bei der Infanterie eine Stellung als Kommandant erhalten, weil all die Erben, Marschalle und Ritter sich natürlich der Kavallerie zuwenden, wo es mehr Ruhm zu ernten gibt. Das war der Grund, warum die meisten erfahrenen Offiziere aus adligem Haus im letzten Jahr fielen, als die Kavallerie aufgerieben wurde. Aus militärischer Sicht hat sich das Spiel dort gewendet und die östlichen Lordprotektoren bringen einem erfahrenen Soldaten zumindest Respekt entgegen, weil sie sich meist an der Front befinden. Lesarl berichtete mir, dass Oberst Ankremer eine Reihe von Vorteilen für uns bereithält, nicht zuletzt, weil er ein guter Offizier ist. Jeder Oberst in der Gegend weiß, dass er seinen Mann gestanden hat. Er hat keine ernstzunehmenden Feinde in der Armee und die Legionen des Ostens stehen hinter ihm.
Außerdem ist der Bastard Herzog Lomins illegitimer Sohn, also nicht der Sproß einer illegitimen Nebenlinie, und der Herzog war sehr beliebt. Die Gerüchte, Herzog Certinse sei nicht Lomins Sohn gewesen, sind wohl unwahr, aber selbst wenn er von reinem Blut sein sollte, hat er viele der Tugenden seines Vaters nicht geerbt. Oberst Ankremer ist in Aussehen und Wesen das Ebenbild seines Vaters, und dies verschafft ihm politische Vorteile, vor allem mit Eurer Unterstützung. Und das Wichtigste: Er ist so willensstark wie sein Vater. Einige Adlige werden sich an ihn hängen, im Glauben, sie könnten ihn manipulieren. Aber Lesarl versicherte mir, dass sie es nicht schaffen werden.«
Isak machte eine Pause, um Luft zu holen und den Herzögen Gelegenheit für Kommentare zu bieten.
Nach kurzem Nachdenken räusperte sich Sempes: »Gehen wir einmal davon aus«, sagte er langsam, »dass wir bereit sind, Eure Wahl zu unterstützen, mein Lord, und uns wie treue Untertanen verhalten, während Ihr Eure Kriege führt. Das wird uns einiges kosten, nicht nur was unseren Ruf betrifft … Was bietet Ihr uns als Gegenleistung?«
Isak musste sich zusammennehmen, um bei »Eure Kriege« nicht das Gesicht zu verziehen. Es klang tatsächlich so, als glaubten die beiden Männer, dass in Isaks Geist nichts anderes Platz habe als das Verlangen eines jungen Weißauges nach Eroberungen. »Ich bin sicher, ihr habt einige Vorschläge zu machen.«
»Als Erstes möchte ich wissen, welche neuen Steuern erhoben werden sollen«, sagte Sempes barsch, »und welche der bestehenden Abmachungen Euer Haushofmeister tatsächlich einhalten wird.«
»Es wird keine zusätzlichen Steuern geben, aber ich werde Truppen und Versorgungsgüter von Euch benötigen. Vor allem Pferde, Vieh und Weizen werden wir brauchen, und zwar das Doppelte von dem, was die Niedere-Tempel-Abgabe vorsieht.«
»Das Doppelte?«, stieß Loken hervor. »Mein Lord, Ihr habt seltsame Vorstellungen davon, was ›keine zusätzlichen Steuern bedeutet.«
»Die Abgabe ist keine Steuer, sie ist Teil Eurer Pflichten als meine Untertanen«, sagte Isak. »Und es wurde bereits vereinbart, dass die Abgabe in Kriegszeiten verdoppelt wird. Ihr erklärt Euch nur bereit, dem Sinn und nicht den Worten der Vereinbarung zu folgen. Wir führen im Augenblick keinen Krieg, aber das ändert sich, sobald es Sommer wird – und wir müssen vorbereitet sein.«
»Wenn wir schon über Vorbereitungen sprechen«, antwortete Lokan, der sich schnell wieder beruhigt hatte, »dann müssen wir auch über den Zustand der Seestreitkräfte reden.«
»Es wird keine weiteren Mittel dafür geben. Ich stimme mit Euch darin überein, dass die Flotte dringend überholt werden muss, aber das werdet Ihr selbst zahlen müssen. Es obliegt natürlich Euch, Euren Untertanen weitere Steuern aufzuerlegen, aber wir können es uns nicht leisten, dass bei einem von Euch Unruhen wegen zu hoher Steuern aufkommen. Ich kann Euch jedoch Magier von der Akademie der Magie zur Seite stellen, eine Abordnung für jede Eurer Städte.«
»Ein paar Magier machen keinen großen Unterschied«, wiegelte Lokan ab, doch Isak wusste, dass dies ein sehr großzügiges Angebot war. Mit magischer Unterstützung konnten Arbeiten erheblich schneller bewältigt werden. Die Akademie der Magie war in Tirah ansässig, damit der Lord der Farlan die Anstellung von Magiern in anderen Städten begrenzen konnte.
Der dicke Herzog von Merlat leerte seinen Krug und schenkte sich dann erneut ein. »Wichtig ist vor allem, dass die Zölle am Carfin-Fluss beschränkt und einige Abschnitte tiefer gegraben werden, damit ihn Schiffe mit größerem Tiefgang befahren können.«
Der Carfin floss von Tirah nach Merlat und stellte den besten Weg dar, Waren von den Ebenen im Norden heranzuschaffen, woher der Großteil von den Nahrungsmitteln der Farlan stammte. Da er durch ein halbes Dutzend Lordprotektorate floss, gab es ein kompliziertes Zollwesen.
»Beides geht nicht«, führte Isak aus, »aber Lesarl mag einen Vorschlag für die betroffenen Lordprotektoren erarbeiten, der dann natürlich von Tirah unterstützt werden wird.«
»Merlats Herden können wenigstens laufen«, sagte Sempes. »Denkt daran, dass der Stamm auch von meinem Weizen abhängig ist. Mein größtes Problem sind im Augenblick die Plündertrupps aus dem Süden.Werdet Ihr mich hier unterstützen?«
»Was braucht Ihr?«
»Südmark.«
In den Augen des Herzogs blickte ein Trotz auf, bei dem Isaks Instinkte ansprangen. Im Hinterkopf spürte er, wie sich Aryn Bwr regte. Der letzte König war in letzter Zeit schweigsam gewesen, seit ihn das Erscheinen der Schnitter auf dem Irienn-Platz verschreckt hatte. Isak mochte wegen seiner wiederkehrenden Träume vom Tod sehr beunruhigt sein, aber Aryn Bwr hatte noch größere Angst vor dem Grab. Es war keine Übertreibung, wenn der Volksmund sagte, die tiefsten Gruben Ghennas seien für ihn reserviert.
»Eine Feste?« Der Name sagte Isak überhaupt nichts – und Unwohlsein breitete sich in seiner Magengrube aus. Bis hierhin hatte ihn Lesarl auf jeden Schritt des Gesprächs vorbereitet, ab jetzt aber war er auf sich allein gestellt. Der verdrießliche Ausdruck Lokans verriet Isak, dass seine Sorge berechtigt war.
»Einstmals eine Feste, heute wenig mehr als eine Ruine. Sie liegt am Ende der Gebirgskette, südlich von Perlir, in einer Gegend, die man Hartoals Stufen nennt.«
»Das ist Vanach-Land«, sagte Isak und sah in den Augen des Herzogs, dass er damit richtig lag.
Die Grenze ist ein Nadelöhr zwischen den Bergen und dem Meer, zischte Aryn Bwr Isak ins Ohr. Ein Mann, der sein Land verteidigen will, baut dort eine Festung; wer jenseits davon baut, will einen Brückenkopf für Eroberungen schaffen.
»Nur vorgeblich«, sagte Sempes. »Heutzutage erinnert die Gegend nördlich des Turnarn-Flusses nur noch vage an eine Zivilisation, daher auch die häufigen Plünderungen. Sie sind wenig mehr als Wilde, die völlig verwahrlosen.«
»Wilde mit einigen sehr guten Weingütern, wie ich hörte«, steuerte Lokan bei.
Sempes wandte sich an den Mann und tadelte: »Sie haben einen guten Boden, wissen aber nicht, was sie damit anstellen sollen. Es fällt ihnen leichter, Farlan zu überfallen, als ihr eigenes Land zu bestellen.«
Isak hob die Hand, bevor Lokan antworten konnte. Er wusste, dass die beiden ihre eigenen Streitigkeiten hatten. »Das sind Einzelheiten, die später geklärt werden können«, sagte er bestimmt. Damit stand er auf und ging zur Tür, streckte den Kopf hinaus, um Tilas Blick auf sich zu ziehen. Sie sprach leise mit den Leibwachen, aber als Isak winkte, entschuldigte sie sich und eilte davon.
»Ihr verlangt von uns, darauf zu vertrauen, dass all dies schon geklärt werden wird?«, fragte Sempes, der vermutete, dass Isak seinen erwählten Herzog holen ließ.
»Ja, das tue ich. Jetzt müsst Ihr beide nur noch Oberst Ankremer kennenlernen. Ihr sollt Euch davon überzeugen, dass er stark genug ist, um die Herzogskrone zu bewahren.«
»Weiß er, warum er hier ist?«
Isak schüttelte den Kopf. »Nein, er glaubt, dies sei Teil von Kardinal Distens Ermittlungen, aber ich bin zuversichtlich, dass er Euch zufriedenstellen wird, und dann können wir ihm auch die gute Nachricht mitteilen.«
Der Herzog von Perlir erhob sich mit roten Wangen. »Die letzten drei Verhandlungen, die ich mit Eurem Haushofmeister führte, endeten im Chaos. Der Mann ist wankelmütig und unvernünftig. Ich habe keinen Anlass zu vermuten, dass diese jetzt anders verlaufen wird, darum sehe ich auch nicht, wie ich ohne konkreten Grund meine Zustimmung zu der Berufung dieses Bastards geben kann – ganz davon abgesehen, dass Ihr damit ein gefährliches Exempel statuiert. Bastarde hatten noch nie Ansprüche, und nun wollt Ihr einem ein Herzogtum übergeben?«
Isak schloss die Tür und trat an den Tisch. Er blickte jetzt nicht mehr versöhnlich drein, lange genug war er höflich gewesen. »Ihr werdet es tun, weil ich es Euch sage. Ich habe Lesarl angewiesen, für eine gerechte Lösung zu sorgen, aber gebt Euch keinen Illusionen hin: In diesem Jahr werden Farlan sterben. Ich sorge mich nicht um das zerbrechliche Gleichgewicht der Beziehungen innerhalb des Stammes. Es geht mir vielmehr darum zu überleben, damit wir auch das nächste Winterfest noch feiern können. Ich brauche Eure Unterstützung dringend, vor allem, weil die Kulte nun gewalttätig werden. Aber Ihr solltet wissen, dass ich nicht allzu lange darüber nachgrübeln werde, was für Auswirkungen es haben könnte, wenn ich Euch beide umbringen lasse.«
Wieder öffnete er die Tür, um einen untersetzten Mann von rund dreißig Sommern zu erblicken, der die rot-schwarze Uniform eines Offiziers der Lomin-Legionen trug. Isak bemerkte zuerst das verfilzte, gelockte braune Haar und den düsteren Gesichtsausdruck, bevor die Überraschung darüber, ein riesiges Weißauge vor sich zu sehen, die Oberhand gewann.
»Guten Morgen, Oberst Belir«, sagte Isak ohne zu stocken, da er vermutete, dass der Mann es ähnlich sah wie der Kommandant seiner Garde. Oberst Ansayl ließ sich mit seinem Vornamen Jachen ansprechen und bevorzugte es, seinen Nachnamen nicht zu benutzen.
»Ah, mein Lord«, sagte der Oberst verwundert, sank dann auf ein Knie. »Guten Morgen.«
»Das reicht. Kommt rein und trinkt mit uns.«
»Mit uns?«, wiederholte Ankremer verwirrt. Er machte einen Schritt in den Raum und sah die beiden Herzöge, die am Tisch auf ihn warteten. Dann kniff er die Augen zusammen, um die Wappen auf der Brust der beiden zu mustern. Lokans Kraken war ebenso gut zu erkennen wie die Sense des Todes von Perlir. »Meine Lords«, sagte er und verneigte sich vor beiden. Dann erstarrte er, sah von den Herzogen zu Isak und zurück. »Ihr Götter, Ihr müsst scherzen.«
Isak schlug dem Mann auf die Schulter. »›Ihr müsst scherzen, mein Lord‹«, verbesserte er den Mann lachend. »Aber … davon einmal abgesehen, befürchte ich, dass es kein Scherz ist.«