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Der mehr als fünfzig Schritt breite und acht Stockwerke hohe Palast der Gelehrten wurde immer beeindruckender, je näher Bernstein herankam. Er war aus weißem Marmor errichtet, der sich von dem dunklen Fels des Schwarzzahns abhob. Am Ende der oberen sechs Stockwerke befanden sich offene Umläufe, die von einem gemeinsamen Balkon verbunden wurden. Darauf stand ein gutes Dutzend Männer und Frauen aus verschiedenen Reichen, die ihre Ankunft beobachteten. Dunkelhaarige Farlan in den traditionellen Hemden mit weiten Ärmeln standen neben in Fell gehüllten Chetse-Gelehrten – aber er konnte nur die Hälfte von ihnen zuordnen. Die wenigen Blonden wirkten nicht wie Litse, vermutlich kamen sie eher aus den westlichen Staaten. Wie es schien, wusste der Stamm, der die Aufgabe erhalten hatte, die Bibliothek zu bewachen, ihren Wert nicht recht zu schätzen.

Schweigend ging er neben Lord Styrax einher, und ihre geflügelte Eskorte folgte nach. Die Schreie der Vögel in der Luft über ihnen waren die einzigen Lebenszeichen, die er hörte. Er sah sich um und entdeckte im hinteren Bereich des Tals weiße Flecken, vielleicht Schafe oder Ziegen, und zwei Reihen von etwas, das er für Hühnerställe hielt, die unter einem Überhang standen. Die Bibliothek der Jahreszeiten konnte sich selbst besser versorgen, als er vermutet hatte. Zwischen den Felsen gab es sogar einige Felder, auf denen Weizen angebaut wurde.

Vielleicht können sie sich aber auch nur nicht darauf verlassen, dass Ismess sie versorgt.

Die Quartiere für Besucher der Bibliothek lagen in den oberen sechs Stockwerken des Palastes der Gelehrten. In geringem Abstand führten Türen auf den Balkon jedes Stockwerks; so kam man in kleine, schmucklose Gasträume. Das Erdgeschoss wurde wohl von der Küche beherrscht. Es war doppelt so tief wie die anderen Stockwerke und verfügte über eine gewaltige Terrasse, die in den Farben derer geschmückt worden war, die Lord Styrax bei dem ausgerufenen Mittagessen Gesellschaft leisten sollten.

Eine Balustrade aus weißem Stein umgab die Terrasse. Die Säulen zeigten Menschen und Tiere in unterschiedlicher Haltung. Tod und Ilit befanden sich an den Ecken, und die ausgestreckten Hände hielten eine breite Schiene, unter der die Menschen lebten und starben. Die meisten Statuen des Gottes waren bemalt oder aus dunklem Fels gefertigt, aber die in einen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt Tods war ebenso weiß wie die übrigen Statuen. Und das wirkte auf Bernstein irgendwie falsch.

Der mit Fängen bewehrte Schädel Lord Styrax’ bestimmte die Mitte des Balkons und blickte ins Tal hinab. Zu seinen Seiten befanden sich Lord Celaos Pfeilbündel und der Rubinturm, der Natai Escrals Familienwappen darstellte. Dem Schädel gegenüber befand sich das Runenschwert der Ritter der Tempel, und zwar ohne jedes weitere Zeichen. Verwendeten die Ritter der Tempel keine persönlichen Wappen oder hatte Kardinal Sourls Stellung sich vor kurzem erst geändert?

Unter jedem Wappen stand ein langer Tisch, so dass sich ein an den Ecken offenes Viereck ergab. Litse-Diener deckten den Tisch für ein formelles Mahl und Bernsteins Laune wurde schlechter, als er die Zahl der Gedecke an Lord Styrax’ Tisch zählte. Wenn sich Lord Larim nicht zu ihnen gesellte, was der Magier wohl kaum tun würde, so wusste Bernstein schon, wer auf diesem Platz sitzen würde.

Als hätte er die Gedanken des Soldaten gelesen, zeigte Lord Styrax auf eine offene Treppe in der Nähe, von der aus ein Diener ihn beobachtete. Er hatte langes, goldenes Haar und ein freundliches Gesicht.

»Deine Kleidung wurde auf ein Zimmer gebracht. Zieh dich für das Essen um. Ich glaube, Kardinal Sourl ist noch nicht eingetroffen, du hast also noch etwas Zeit.«

»Ja, mein Lord«, sagte Bernstein. Er blickte zum Himmel und versuchte die Stellung der Sonne zu deuten.

»Ja, es ist Zeit«, bestätigte Lord Styrax. »Das Heer wird mittlerweile eingetroffen sein.«

Bernstein nickte. »Das steigert meinen Appetit nicht eben«, murmelte er mit finsterem Gesicht, dann verneigte er sich und ging.

»Wir müssen Opfer bringen«, rief ihm Lord Styrax nach. Bernstein wagte es nicht, sich umzudrehen und dem Lord, den er verehrte, seinen Gesichtsausdruck zu zeigen.

Schlag es dir aus dem Kopf, dachte er. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen.«

 

Eine tiefe, dröhnende Stimme hallte durch die Faust – Akells vorgelagerte Verteidigungstellung – und ließ Oberst Teral zusammenzucken. Er blickte von seiner Suppe auf, verstand die Worte erst nicht, weil weitere Stimmen den Ruf aufnahmen und die Aussage noch weiter verschleierten. Aber die Not war eindeutig. Als er die Worte endlich begriff, war er bereits auf den Beinen und griff nach seinem Schwertgurt: »Zu den Waffen, zu den Waffen!«

Oberst Teral war Farlan-Geborener und erst vor zwei Wochen mit seiner Legion in Akell angekommen. Dies war sein erster Tag als diensthabender Kommandant. Als er den Gang erreichte, musste er kurz innehalten und auf weitere Rufe warten, denn in seiner Angst wusste er nicht mehr, wo es zur oberen Plattform ging. Er hatte sich schon drei Mal in diesem Gewirr aus Gängen verirrt, die im Inneren der gewaltigen Festung verliefen.

»Oberst!«, rief eine Stimme hinter ihm. Teral drehte sich herum und sah Sergeant Jackler herankommen. Der alte bärtige Sergeant hatte ihn vor Jahren als Offizier, der eine führende Hand brauchte, unter seine Fittiche genommen, und es hatte ihnen beiden genutzt. Mittlerweile hatte sich das Ganze zu bedingungsloser Treue ausgewachsen. »Die verdammte Menin-Armee steht vor den Toren, Herr!«

Jackler ging den Weg zurück, den er gekommen war, und Teral folgte ihm auf dem Fuße. Sie stiegen zur oberen Plattform hinauf, von der sie eine gute Aussicht hatten.

»Greifen sie an?«, rief er, während Jackler Soldaten aus dem Weg stieß, um Teral den Weg zu öffnen.

»Nein, die Scheißkerle sind gerade erst in Sicht gekommen«, rief Teral zurück. »Das verrät uns, warum die Späher zu spät dran sind.« Mit einem mitleidlosen Lachen fügte er hinzu: »Und jetzt brauchen sie auch nicht mehr Bericht zu erstatten.«

Teral antwortete nicht darauf, während er dem Mann die Treppe hinauffolgte und auf die obere Plattform trat. Am höchsten Punkt der Faust standen jetzt schon unzählige Soldaten, und er musste sich nach vorne durchkämpfen, um etwas sehen zu können.

»Jackler, sorg dafür, dass die Angeheuerten ihren Posten einnehmen«, rief er und bahnte sich mit den Ellbogen grob den Weg. Hinter ihm fing Jackler an, Befehle zu bellen. Dann erreichte Teral den Rand und schob seinen Kopf vorsichtig durch die Zinnen.

»Pisse und Dämonen«, flüsterte er und riss die Augen auf.

»Dreiste Mistkerle, was, Herr?«, fragte Jackler hinter ihm und lachte. »Die haben keine Eile, haben überhaupt keine Angriffsformation eingenommen. Sieht aus, als würden sie erwarten, dass wir ihnen einfach die Tore öffnen.«

Das unter der Menin-Standarte versammelte Heer war zwar nicht das größte, das Teral jemals gesehen hatte, aber während er die drei Gruppen betrachtete, die sich außerhalb der Bogenschussweite sammelten, erkannte er, dass dies auch nicht nötig war. Es gab mindestens zwei Legionen schwere Infanterie, die in Reih und Glied standen und die langen Speere in die Luft reckten. Hinter ihnen standen zwei Legionen weniger schwer gepanzerter Soldaten. Die Kavallerie wurde von den berüchtigten Blutgeschworenen angeführt, die allesamt den Schädel mit Fängen ihres verehrten Lords auf der Brust trugen. Aber das, was ihm am meisten Angst machte, befand sich auf der rechten Seite: eine Gruppe dunkler Gestalten, die zu groß für Menschen waren. Sie blökten und brüllten und übertönten damit sogar das Hufgetrappel der gesamten Armee. Neben ihnen kreischten die Soldaten eines Regiments schwerer Infanterie in irrer Freude und schwenkten polierte Stahlschilde über ihren Köpfen. Teral musste die Klingen an den Rändern der Schilde gar nicht erst sehen, um zu wissen, dass sie da waren. Und er bemerkte die Magier-Einheit hinter ihnen kaum.

»O ihr Götter«, keuchte er. »Die Plünderer … und nun auch noch Minotauren.«

»Na, dann ist es ja gut, dass sie noch nicht angreifen!«, sagte Jackler fröhlich. Er wies auf die Infanterie unter der großen Menin-Standarte: »Seht, die weiße Flagge – sie wollen verhandeln. Vermutlich sind sie gekommen, um sich uns zu ergeben, Herr!«

Drei Reiter lösten sich aus der Gruppe und ritten auf die Faust zu. Zwei Blutgeschworene mit blutroten Schädeln auf den schwarzen Brustplatten und Schilden und zwischen ihnen ein Adliger mit der weißen Fahne. Er überragte die beiden Ritter, die ihn begleiteten.

Den Göttern sei Dank. Jemand, mit dem ich tatsächlich verhandeln kann und nicht diese gotteslästerliche Kreatur, die Styrax’ Lieblingsgeneral ist, dachte er und war für kleine Gnaden dankbar.

»Ein Weißauge?«, fragte Jackler, als er sah, dass der Mann in der Mitte größer war als seine Begleiter.

»Für ein Weißauge ist er prächtig gekleidet«, bemerkte Ternal. Die rot-weiß-blaue Uniform machte ihn zu einem offensichtlichen Ziel. Er wirkte unscharf, aber Teral war Farlan und wusste darum, dass daran nicht seine Sicht schuld war. »Der Mann trägt Bänder«, rief er aus. »Wenn er ein Weißauge ist, dann eines mit genug Prunksucht, um sogar Lordprotektor Saroc in den Schatten zu stellen.«

»Dann ist das Herzog Vrill«, erklärte Jackler. »Er soll der Haushofmeister von Lord Styrax sein.« Dann setzte er lachend hinzu: »Stellt Euch das vor: Haushofmeister Lesarl mit dem Temperament eines Weißauges.«

»Lesarl übertrifft an Grausamkeit jedes Weißauge«, sagte Teral verstimmt. »Aber du hast Recht, das muss Vrill sein. Was glaubt er, das wir sagen werden? Er muss doch wissen, dass hier niemand über dem Rang eines Obersten zu finden ist. Alle Kommandanten treffen sich gerade mit seinem Lord.« Er stieß sich von der Wand ab und ging mit Jackler im Schlepptau auf die Treppe zu. »Niemand hier ist befugt, über eine Kapitulation zu verhandeln, und warum sollte er sonst seine Armee herführen?«

»Reden ist besser, als die Faust anzugreifen«, erklärte Jackler.

Damit hatte er Recht, erkannte Teral. Auch für die erschreckenden Truppen der Menin wäre die Faust selbst im besten Falle noch eine echte Herausforderung – und gerade war Verstärkung für die Verteidiger Akells eingetroffen: vier Legionen der Ritter der Tempel aus Canar Fell und Aroth. Das war der Großteil der Ordensmitglieder in Narkangs Herrschaftsgebiet. Der Orden besaß erhebliche Mittel, viel Land und stellte sicher, dass seine Soldaten gut ausgerüstet und ausgebildet waren. Die Truppen waren auf ein Dutzend oder mehr Stadtstaaten verteilt, unterstanden handverlesenen Generälen und besaßen allesamt den Ruf, ausgezeichnete Kämpfer zu sein.

Sie hatten vorgehabt, in der Faust ihre Vorräte aufzufrischen und dann nach Raland weiterzuziehen, einer wichtigen Stadt unter dem Einfluss des Ordens. Aber Sourl war mehr als froh, sie hier begrüßen zu können. Die Politik innerhalb des Ordens schien zwar verworren, aber es war nie ein gutes Zeichen, wenn ein General Truppen in den Farben seines Vorgesetzten empfing.

»Was wird er sagen, um uns zur Aufgabe zu bringen?«, rief Teral über die Schulter, als sie den Fuß der Treppe erreichten und auf das befestigte Torhaus zugingen, das den einzigen Zugang zur Faust darstellte.

Über ihnen wurde der Alarm geschlagen, und überall um sie herum kam Bewegung in die Männer, die sich auf ihre Gefechtsposten begaben. Die Faust war ein großes, viereckiges Gebäude, dessen gerade Mauern nur von einem hervorspringenden Torhaus an der Nordseite durchbrochen wurden. Die äußere Wand war drei Schritt dick und verfügte über eingelassene Wehrgänge. Sie diente als Schutzhülle für die inneren Gebäude, die fünf Stockwerke hoch waren und einen Irrgarten aus Küchen, Lagerräumen, Baracken, Schmieden, Arbeitszimmern und Ställen bildeten.

Es würde nicht leichtfallen, die Faust einzunehmen. Die Außenbereiche der Stadt waren mit der Zeit immer näher gekommen. Mittlerweile trennten keine fünfhundert Schritt mehr die nächsten Häuser von den dicken Mauern – aber das Gelände dazwischen war mit Sorgfalt so angelegt worden, dass es Angreifer behinderte. Rund um die Feste hatte man Erdwälle und tiefe Gräben ausgehoben, doch drumherum lag genug offenes Gelände, dass sich niemand an der Faust vorbeischleichen konnte, ohne dabei viel zu lang in freier Sicht und damit verwundbar zu sein.

Teral sah zum Himmel hinauf, der grau war. Sogar das Rot ihrer Uniformen wirkte in diesem Licht verbleicht und stumpf.

»Wo ist Oberst Dake?«, blaffte er, während er das kontrollierte Chaos um sich herum beobachtete.

»Er ist in der Stadt«, antwortete Jackler. »Ich schicke einen Reiter nach ihm aus.«

»Und wo im Namen des Dunklen Orts ist dann Oberst Sants?«

»Ich bin hier, Teral«, rief eine gelassene Stimme aus den Schatten des Torhauses. »Ich warte nur darauf, dass du endlich auftauchst.«

Teral biss sich auf die Zunge, um nicht zu fluchen. Jetzt war es keinesfalls die richtige Zeit, um sich von Sants provozieren zu lassen. »Wie es scheint, will ihr General, das Weißauge Vrill, verhandeln. Ich glaube nicht, dass wir auf Oberst Dake warten können, also sollten wir uns sofort anhören, was er zu sagen hat.«

Er ging los, und Hauptmann Shael und der wilde Kaplan Fell folgten ihm. Der Kaplan trug noch immer das Bronzegeflecht auf seiner schwarz-roten Robe.

Ihr Götter, der Ritter-Kaplan muss seine Entscheidung zurückgenommen haben, nur, damit ein paar Kaplane behaupten können, sie seien Mystiker des Karkarn, dachte Teral beim Anblick der Kleidung des Kaplans.

Die Kleriker waren bei den Rittern der Tempel immer schon eine einflussreiche Kraft gewesen, aber der Fanatismus, der sich im Augenblick gerade in den Kulten ausbreitete, hatte dies auf die Spitze getrieben. Es hätte komisch erscheinen können, dass einst sanfte Kleriker plötzlich die Prahlerei und Gewalttätigkeit eines Regimentskaplans der Farlan an den Tag legten, wenn dies nicht mit wilder Raserei und zunehmend brutalen Strafen für jeden einhergegangen wäre, der es auch nur im geringsten Maße an Hochachtung für die Robenträger ermangeln ließ.

Sicher hat dieser Priester Belarannars dem Ritter-Kardinal wieder einen Floh ins Ohr gesetzt. Er ist ihm näher als eine Laus und genauso freundlich. Wie lange dauert es wohl, bis man auch mir einen »Berater in Glaubensfragen« zuweist?, fragte er sich.

Oberst Sants zeigte auf vier Pferde, die hinter Teral gerade um die Ställe geführt wurden. »Wir haben nur darauf gewartet, dass du uns endlich einholst«, sagte er mit einem gehässigen Lächeln.

Teral entriss dem Stallburschen die Zügel seines Pferdes, und es war ihm gleich, wie undankbar er erscheinen mochte. Der Mann wirkte jedoch nicht verärgert und zeigte auch keine Reaktion, als Sants die Zügel seines Streitrosses mit übertriebener Höflichkeit entgegennahm. Als sie aufgesessen hatten, räusperte sich Sants. »Ähem, Oberst?«

Das Tor war geschlossen, und da Teral diensthabender Kommandant war, würde es nur auf seinen Befehl hin geöffnet werden. Die Torflügel maßen vier Meter in jede Richtung und bestanden aus Mooreiche, mit Stahlbändern verstärkt. Vier Mann blickten vom Wehrgang über dem Tor zu ihm hinab und warteten auf seinen Befehl.

Er öffnete den Mund, doch da trat ein Mann vor sein Pferd, das daraufhin scheute. Teral brauchte einen Augenblick, um das Tier wieder unter Kontrolle zu bekommen. Der Mann, der ihm den Weg versperrte, war ein Priester in schwarzer Robe. Auf jedem der weiten Ärmel und um seine Taille herum verlief ein roter Strich, der Teral nichts sagte, und auch der kleine, gebogene Dolch, der an der Robe befestigt war, schien ungewöhnlich. Offensichtlich war es eine rituelle Waffe, aber er kannte den Kult nicht, der so etwas verwendete.

»Oberst«, rief der Mann. Er sprach Farlan, wenn auch mit einem starken Akzent, der Teral fremd war. »Oberst, ich erbitte einen Gefallen.«

»Euer Ehren, dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte Teral und versuchte sich zu beherrschen. »Bringt Euer Anliegen bitte zu einem anderen Zeitpunkt vor.«

»Nein, Oberst, es muss jetzt sein«, antwortete der Mann laut – und seine hohe, fremdartige Stimme ließ es wie einen Tadel klingen. Als wolle sie seine Aussage unterstreichen, trat nun eine kleine Gruppe näher. Vier waren in Schwarz und fünf in das Grau der Novizen gekleidet, doch die Farben ihrer Streifen unterschieden sich. Sie war im diesigen Licht schwer auszumachen.

Was sind das für Priester? Sind diese Striche gelb oder weiß? Ein Bauchgefühl hieß ihn, sein Pferd von den Männern abzuwenden. Jackler bemerkte es und trat zwischen Teral und den Priester, die Hand am Schwert.

»Welchem Gott dient ihr?«, fragte Teral, während die Soldaten das Wachhaus verließen und die Priester umstellten. »Was könnte so wichtig sein, dass Ihr ausgerechnet jetzt mit mir sprechen wollt? Ihr wisst schon, dass da draußen eine Menin-Armee wartet?«

»Ich höre den Alarm. Es ist Zeit«, beharrte der Priester. Er schlug die Kapuze seiner Robe zurück und offenbarte ein haarloses und erschreckend bleiches Gesicht von unbestimmbarem Alter.

Teral fragte sich, ob der Mann aus der Brache stammte. Er hatte gehört, dass dort viele Stämme eine merkwürdige Hautfarbe hatten, die von Totengrau bis zu Feuermalrot reichte.

»Wir sind Priester des Todes. Wenn es einen Kampf gibt, müssen wir beten.«

»Dann betet, bei den Feuern Ghennas«, rief Kaplan Fell, ein Priester Karkarns, »aber geht verdammt noch mal aus dem Weg!«

Teral zog unwillkürlich eine Grimasse, denn er befürchtete, in eine Fehde zwischen Priestern hineingezogen zu werden, aber der Fremde schien an Fells rauem Ton keinen Anstoß zu nehmen.

»Nun, Vater?«, sagte er. »Ihr braucht doch meine Erlaubnis nicht, um zu beten.«

»Ich bitte um Verzeihung, wir sind …« Der Priester zögerte und sah sich hilfesuchend nach seinen Kameraden um.

»Gebunden«, sagte einer der Novizen leise. Er war älter als die meisten Novizen. Auch er war haarlos, hatte aber das wettergegerbte Gesicht eines Pönitenten.

»Ah, ja.« Der Priester verneigte sich leicht vor dem Novizen und wandte sich dann wieder Teral zu. »Wir sind gebundene Priester und dienen den Schnittern.«

Teral war überrascht. Mit den Schnittern verbunden? Davon hatte er vorher noch nie gehört. Aber das erklärte die Farben auf den Roben der Männer.

Aber ihr Götter, welcher Verrückte würde denn Priester eines Schnitters werden?

»Ihr dient den Schnittern?«, sagte er verwundert. »Was wollt ihr von mir?« Die Angst ließ seine Frage grob klingen, aber der Priester schien es nicht zu merken.

Gütiger Nartis, verehrt einer dieser Männer den Henker?

Der Priester verneigte sich. »Alle Priester des Todes müssen vor einem Kampf beten. Wir haben auf dem Schlachtfeld zu beten.«

»Da draußen?«, gab Sants zurück und wies auf das immer noch geschlossene Tor. »Ihr wollt dort hinausgehen, um zu beten?«

Der Priester nickte stumm.

Teral versuchte das alles zu begreifen. Der Orden unterwarf sich der religiösen Herrschaft. Das war eine seiner Grundlagen, die in der letzten Zeit deutlich zutage getreten war, und doch sagte ihm sein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Er musterte jeden einzelnen Priester. Sie trugen alle schwarz und hatten ein ähnliches, altersloses Gesicht.

Ihr Götter, sind das Magier?, fragte er sich.

»Sergeant«, rief er zum Wachzimmer hinüber. »Wo ist Euer Hexensucher?«

»Ich bin hier«, erklang es von oben, bevor der Sergeant des Tores antworten konnte. Ein Mann mit hellem Haar und langen Gliedern winkte von seinem Platz auf einem der Wehrgänge herüber. Er saß dort und ließ ein Bein über den Rand baumeln. Teral vermochte nicht zu sagen, ob es am Licht lag oder an einer Mischung aus Alter und Schmutz, dass sein weißes Haar und seine Robe grau wirkten. Die Hexensucher waren die einzigen Ordensmitglieder, die Weiß und Schwarz trugen.

Der Mann machte sich nicht die Mühe zu salutieren, aber das überraschte Teral keineswegs. Für Hexensucher galten andere Regeln, und sogar die besten unter ihnen waren halbverrückt.

»Name?«

»Islir«, lautete die Antwort, schließlich gefolgt von einem »Herr«.

»Hast du diese Priester überprüft?«

»Natürlich«, klang es spöttisch zurück. »Das ist doch meine Aufgabe, oder nicht?«

»Sind sie Magier?«

»Leck mich am Arsch, jawoll, das sind sie, und mächtige dazu«, sagte Islir lachend.

Jeckler zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide, und die anderen Soldaten folgten seinem Beispiel. Islir beobachtete das Geschehen mit wachsender Erheiterung. »Ha, ihr seid doch allesamt alte Weberfrauen! Sie sind ungefährlich, ich hab sie selbst behandelt. Die werden ein paar Tage lang keine Zauber wirken  – ich habe ihnen genug verabreicht, um Aryn Bwr höchstselbst aus den Schuhen zu hauen.«

Teral verzog bei der Erwähnung des größten Ketzers, dessen Name innerhalb des Ordens nie laut ausgesprochen wurde, das Gesicht.

»Komm runter und überprüf sie erneut«, befahl er. Mit einem übertriebenen Seufzer erhob sich der Hexensucher und ging auf die Treppe zu.

»Was tust du da, Teral?«, fragte Sants mit sichtlicher Verärgerung.

»Sie sind fremde Priester und Magier«, erklärte er. »Und bevor ich das Tor öffne, will ich, dass sich dieser faule Scheißkerl noch einmal vergewissert, dass sie keine Gefahr bedeuten, so wie es im Kodex des Ordens festgelegt ist.« Er nickte dem Priester auf eine Weise zu, von der er hoffte, dass sie respektvoll genug sein mochte. Der Priester lächelte und verneigte sich erneut, um zu zeigen, dass er sich nicht beleidigt fühlte.

Die Ritter der Tempel griffen im Kampf nicht auf Magier zurück, denn all die vielen unterschiedlichen Parteien innerhalb des Ordens waren sich einig, dass die Magie den Göttern vorbehalten bleiben sollte. Magier wurden nur aufgenommen, wenn sie all ihren Kräften abschworen. Die einzige Ausnahme waren die Hexensucher, deren armselige Fähigkeiten ihnen nur erlaubten, Macht in anderen zu spüren. Jeder Magier, der nicht Teil des Ordens war, sich aber in ihrer Mitte aufhalten wollte, musste ein Gebräu trinken, das alle magischen Fähigkeiten unterdrückte. Teral wollte sichergehen, dass sie keinen Weg gefunden hatten, die Auswirkungen des Elixiers aufzuheben.

»Das ist doch überflüssig«, grummelte Islir, als er das Ende der Treppe erreichte.

»Mir zuliebe«, sagte Teral grimmig.

Der Hexensucher ergriff den ersten Priester bei der Hand, hielt kurz inne, und trat dann näher, um dem bleichen Mann in die Augen zu sehen. Seine Lippen bewegten sich, vermutlich sprach er ein Gebet an Larat.

Das würde den Humor des Mannes erklären, dachte er düster. Wollen wir hoffen, dass die Laune des Priesters gut genug bleibt, sonst stecke ich wirklich tief in der Scheiße drin.

»Mit dem hier ist alles in Ordnung«, verkündete Islir. »Ich bin mächtig genug, um bei den anderen Magie zu erspüren, ohne sie zu berühren. Und das ist auch gut so, denn ich fasse ganz sicher keinen Mistkerl an, der mit der Königin des Verfalls verbunden ist. Ihre Mächte sind tief in sie zurückgezogen und verschlossen. Sie könnten nicht mal eine Kerze anzünden, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Nur diese Dolche enthalten noch Magie, und die ist ruhend.«

»Was soll das heißen: ruhend?«

»Ruhend meint, dass sie zurzeit nicht wirkt. Es sind Ritualwaffen, darum enthalten sie ganz selbstverständlich Spuren von Macht, aber nicht genug, um sich mit einer Armee anzulegen, also macht Euch deswegen keine Sorgen.«

»Seid Ihr sicher?«

Islir sah aus verkniffenen Augen zu Oberst Teral auf. »Kardinal Sourls Befehle lauten, dass jeder Hexensucher, der einen Fehler macht, ohne Gnade als Verräter hingerichtet wird. Glaubt mir also, wenn ich sage: Ich bin sogar verdammt sicher.«

»Zufrieden, Oberst?«, fragte der Priester. »Wir stellen keine Gefahr dar. Dürfen wir nun beten gehen, oder müssen wir erst noch für Euch tanzen?«

In der Stimme des Mannes lag eine Schärfe, eine Warnung, die Teral in den letzten Monaten oft genug gehört hatte. Wenn man einem Priester mit Einfluss im Orden querkam, so galt das mittlerweile als Ketzerei. Sogar diese unbekannten Reisenden könnten ihm Ärger bereiten.

Teral versuchte reumütig zu wirken. »Natürlich, Vater. Ich bitte um Entschuldigung, aber unsere Vorgaben sind eindeutig, und ich muss meine Pflichten erfüllen. Was hiermit auch geschehen ist. Eurer Bitte komme ich gerne nach.« Er blickte zu den Männern auf dem Wehrgang hinauf und rief: »Öffnet das Tor!«

 

»Was ist das?«

Lord Styrax blickte mit übertrieben unschuldiger Miene nach rechts. »Dies, Lord Celao? Man nennt es ›Essen‹. Ich war mir nicht bewusst, dass aus dem Mangel nun ein gänzliches Fehlen geworden ist, so dass Ihr es nicht einmal mehr erkennt.«

Der Erwählte des Ilit hielt dem Blick des Lords nicht lange stand und blickte darum wütend in die Schale vor sich.

Oberst Bernstein musste sich sehr zusammennehmen, um das Weißauge nicht beständig anzustarren. Sein Kopf war riesig und kugelrund und im Augenblick so rot vor Wut, dass er für Bernstein immer mehr aussah wie eine rote Melone mit einer Perücke aus Stroh.

Celao war beinahe so groß wie Lord Styrax und einer der wenigen Männer im ganzen Land, die mehr wogen als der Menin-Lord. Er war nicht einfach nur dick. Er war eine so fette Ungeheuerlichkeit, dass er ohne seine göttergegebene Stärke gar nicht in der Lage gewesen wäre zu laufen. Die Flügel auf seinem Rücken waren deutlich größer als die von Kiallas oder Gesh, doch es schien unmöglich, dass sie Celao auch nur einen Finger breit vom Boden heben würden.

Um diesen Leib anzuheben, bedürfte es schon eines Drachen, vermutete Bernstein. Und für einen solchen wäre er auch eine willkommene Zwischenmahlzeit. An seiner Stelle wäre dies der Stoff meiner Alpträume.

»Das Essen von Bauern«, verkündete Celao tadelnd und schob die Schüssel mit Pilzsuppe von sich, die dadurch auf den Tisch schwappte. Die Begleiter des Lords lehnten sich zurück, denn sie konnten nicht essen, was ihr Lord verschmäht hatte.

»Es würde Euch nicht schaden, einmal eine Mahlzeit aus…«, setzte Kohrad an, wurde aber von seinem Vater unterbrochen.

»Bitte benimm dich beim Essen«, sagte Lord Styrax scharf, bevor sein streitlustiger Sohn noch etwas sagen konnte. »Lord Celao, ich entschuldige mich für das Verhalten meines Sohnes und auch für das Essen. Ich bin ein Mann mit bescheidenen Ansprüchen und finde an Delikatessen wie Schwanenleberpastete oder Weißdrosselzungen keinerlei Gefallen.«

Bernstein bemerkte den Unterschied zwischen dem völlig beherrschten Styrax und seinem aufgewühlten Weißaugensohn. Lord Celao war ein schnaubender Wal, der in ein Zelt aus Tuch gehüllt war, das mit Gold durchwirkt sein mochte, und zeigte durch eine ganze Reihe von Zimperlichkeiten sein Unwohlsein deutlich. Aber wenigstens war er von der Stärke eines Gottes berührt worden. Kohrad blieb nur die Verärgerung der Jugend im Angesicht mindestens zweier Männer, die in der Hackordnung über ihm standen.

Gesh und Kiallas saßen an den Enden von Lord Celaos Tisch. Der Lord saß zwischen Adligen mit goldenem Haar und androgynen Gesichtern, die sich sehr ähnlich sahen, obwohl ihre Wappen keine Familienzusammengehörigkeit zeigten. Sie alle schienen die Ritter der Tempel oder die Herzogin Byoras gar nicht zu bemerken, sondern hatten nur Augen für ihre althergebrachten Feinde, die Menin.

Bernstein fragte sich, was Lord Styrax ihrer Meinung nach tun würde, denn sie saßen dort wie Hasen, die nur darauf warteten, dass der Hund sie bemerkte und angriff. Glaubt ihr, er sei die Wiedergeburt Deverk Grasts? Hat sich das Land in den Augen der Litse so wenig gewandelt?

»Euer Essen und Eure Gastfreundschaft sind für einen Mann meiner Stellung nicht angemessen«, sagte Celao nach langem Schweigen.

Kohrad öffnete den Mund und seine Lippen formten stumm das Wort »angemessen«, aber da hielt ihn sein Vater bereits mit einem Blick zurück.

»Ich für meinen Teil bin sehr zufrieden«, sagte ein Mann, der Lord Styrax gegenübersaß. »Ich bin zeitlebens zu viel gereist, um eine gute Suppe nicht als Freude zu betrachten.«

Alle Augen wandten sich dem Mann in der Mitte des Tisches der Geweihten zu. Mit Ausnahme des Hohepriesters Belarannars waren die Männer fast gleich gekleidet. Sie trugen Schuppenpanzer aus Schwarzeisen über rot-blauen Wamsen und rote Schärpen, auf denen das weiße Runenschwert des Ordens prangte. Der Sprecher, einen halben Kopf größer als seine Gefährten, war offensichtlich nicht von hier, und die dunklen Haare und feinen Farlan-Züge hoben ihn deutlich von den anderen ab. Er blickte freundlich drein und überging die neugierigen Blicke, während er einen Löffel Suppe schlürfte und sich dann mehr Brot nahm.

»Es freut mich, dass wir da ähnlich denken«, sagte Lord Styrax und nahm den Löffel auf, der in seiner Hand winzig und zerbrechlich wirkte. »Ich hoffe, das bleibt weiterhin so.«

»Vielleicht«, sagte der Mann ruhig. »Das hängt stark davon ab, ob Ihr Eure Drohung von gestern widerruft.« Er zeigte zum Boten Karapin hinüber, der steif an der Seite stand, flankiert von zwei Offizieren der Geweihten.

Bernstein hatte den Farlan beinahe übersehen, als die Geweihten den Palast der Gelehrten betraten – bis ihm auffiel, dass Kardinal Sourl einen Schritt hinter ihm ging, statt die Gruppe anzuführen. Als Lord Styrax das Treffen plante, hatte er nicht erwartet, dass sich Ritter-Kardinal Certinse, Oberbefehlshaber der Ritter der Tempel, auch nur in einem Umkreis von hundert Meilen aufhielte. Und doch war er nun hier und fiel schweigend über sein Essen her, während alle anderen darauf warteten, dass Lord Celao den Anfang machte. Bernstein fragte sich, welche Auswirkungen diese unerwartete Wendung auf ihre Pläne haben würde.

»Nachricht«, piepte eine Kinderstimme. Bernstein blickte an seinem Lord vorbei Ruhen an, der neben Natai Escral saß. Der Junge saß in der Mitte, zwischen dem großen Sergeanten Kayel und der Herzogin, die wie das ungleiche Paar einer albernen Liebesgeschichte wirkten. Seltsamerweise kümmerte sich Sergeant Kayel, der hier im magielosen Tal keinerlei Ähnlichkeit mit Bernstein aufwies, genauso aufmerksam um das Kind wie die Herzogin. Der Mann war ein besserer Schauspieler, als Bernstein es für möglich gehalten hätte.

»Ja, Liebling«, sagte die Herzogin mit sanfter Stimme und warf Ritter-Kardinal Certinse einen strafenden Blick zu. »Die Nachricht. Lord Styrax, Ihr wünscht unsere Kapitulation. Nun, ich bin vielleicht nur eine schwache Frau, aber ich möchte dennoch darauf hinweisen, dass Ihr fern der Heimat seid. Die langweiligen Männer, die ich dafür bezahle, auf solche Dinge zu achten, sagten mir, dass dies in Kriegsangelegenheiten eher hinderlich sei.«

»Eure Armee ist nicht die erste, die von Tor Salan kommend hermarschiert ist«, fügte Lord Celao barsch hinzu.

»Meine ehrenwerten Gäste, ich möchte Euch nichts aufzwingen«, sagte Styrax. »Ich möchte Euch nur einige unausweichliche Tatsachen vor Augen führen.«

Bernstein erkannte den Tonfall seines Lords wieder. Wenn er so übertrieben höflich war, versuchte er nicht mit einer schwachen Hand zu täuschen, sondern war sicher, seinen Drohungen auch Taten folgen lassen zu können. Es gab keinen Grund, Druck aufzubauen, darum vermochte er hier versöhnlich zu sein. Dieses Mittagessen diente dem Zweck, den Anführern der Runden Stadt in die Augen zu sehen und ihnen die einfache Wahrheit mitzuteilen: Er konnte sie auch vollständig vernichten.

Die Erkundigungen ihrer Spione hatten sie zu dem Schluss gebracht, dass die Herzogin, eine herzlose, der Tat zugeneigte Frau, sich schnell mit ihrer Rolle als Vasallin abfinden würde. Lord Celao war ein Feigling ohne eigene Armee. Nur Kardinal Sours Viertel stellte ein Problem dar, und es wurde durch die Anwesenheit des Ritter-Kardinals Certinse und seines Heeres nicht kleiner.

Stolz, dachte Bernstein, darauf wird es hinauslaufen. Sie sind zu stolz, um die Bedrohung anzuerkennen, und unter normalen Umständen hätten sie dazu auch guten Grund. Unser Nachschub ist begrenzt, und Raland und Embere sind noch immer Stadtstaaten der Geweihten. Sie mögen sich um die Herrschaft innerhalb des Ordens streiten, aber das wird sie nicht davon abhalten zu erkennen, wer das nächste Opfer sein wird. Sie werden Akell lieber zu Hilfe eilen, als uns allein zu bekämpfen.

»Ihr habt uns die Tatsachen noch nicht dargelegt, mein Lord«, sagte die Herzogin mit der Hand auf Ruhens Schulter. Hier, in der Anwesenheit von Ebenbürtigen, hatte sie etwas von der Haltung wiedergefunden, die Bernstein bei seiner ersten Begegnung mit ihr vermisst hatte. Der kleine Junge lenkte sie immer noch ab, aber mit ihren politischen Instinkten war alles in Ordnung. Sie behielt alle Vorgänge genau im Auge.

Lord Styrax senkte den Kopf. »Die Tatsachen, Eure Gnaden, sind Folgende: Ich werde die Runde Stadt in den nächsten Tagen einnehmen. Ihr habt nur noch auf die Form dieser Eroberung einen Einfluss.«

»Ihr tut doch nur so«, blaffte Celao. »Dafür habt Ihr gar nicht die nötigen Truppen.«

»Ich habe alles mitgebracht, was ich für diese Aufgabe brauche«, antwortete Styrax freundlich. »Warum sollte ich mit einem so schwachen Blatt spielen, wenn ich auch einfach die zweite und vierte Armee hätte mitbringen können?«

»Weil Tor Salan nicht das Teekränzchen war, das Ihr erwartet hattet«, sagte Certinse. Der Ritter-Kardinal wischte den Rest der Suppe weg und blickte mit unverändert freundlichem Lächeln auf. »Ohne eine starke Garnison werdet Ihr die Stadt wieder verlieren. Ihr müsst dort erst weitere Truppen ausheben, bevor Ihr die Runde Stadt erobern könnt, und Ihr hattet nicht die nötige Zeit, um dort eine Streitmacht aufzubauen.«

Er verstummte, als ihm der Mann neben ihm, seiner Robe zufolge der Hohepriester Belarannars, auf den Arm klopfte.

Kardinal Sourl, der auf der anderen Seite Certinses saß, warf dem Priester einen bösen Blick zu. Er war mit seinem neuen Rang als Untergebener offensichtlich nicht glücklich. Der Kardinal trug eine Uniform, wie es sich für einen General geziemte, aber sie passte ihm nicht sonderlich gut, und er fühlte sich darin sichtlich unwohl. Er verfügte nicht über die militärische oder politische Macht, um die Befehlsgewalt des Ritter-Kardinals infrage zu stellen, aber dennoch musste es ihn fuchsen, dass der Priester Certinse so gut im Griff hatte, dass man nicht einmal Sourls Rat suchte.

Sourl war dünner geworden, seit er diese Uniform das letzte Mal getragen hatte. Die Menin wussten noch immer nicht viel darüber, warum die Götter so wütend geworden waren, aber in der Folge dieses Ereignisses hatte Sourl es sich angewöhnt, täglich in der Kluft eines Priesters des Nartis zu seinen Truppen zu predigen. Er war zu einem solchen geweiht worden, als er dem Orden beigetreten war.

Der ehemals sehr angesehene Soldat hatte seitdem wie ein Mönch gespeist und sich wie ein Eiferer aufgeführt, was dafür gesorgt hatte, dass er nicht mehr der kräftige Mann in seiner fünften Dekade war, den sie erwartet hatten anzutreffen.

Nach einem kurzen, geflüsterten Gespräch blickte Certinse wieder auf. »Mein Glaubensbruder erinnert mich daran, dass Ihr, Lord Styrax, Denkmäler zu Eurem eigenen Ruhm errichtet und den Sonnentempel in Thotel vernichtet habt. Diese Schändung untermauert unsere Haltung nur: Die Ritter der Tempel können Eure Herrschaft nicht anerkennen.«

Lord Styrax lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Seid so gut und hört mir noch ein bisschen zu. Ich werde Euch all dies umfassend erklären.«

Und in der Zwischenzeit, fügte Bernstein im Geiste hinzu, während du dich um Rat an deine Priester wendest, werden wir das Vertrauen ausnutzen, dass du in sie legst. In rund einer Stunde wirst du nicht mehr so fröhlich lächeln.

 

Das Weißauge wirkte sehr zufrieden, und genau davor hatte Oberst Teral immer schon Angst gehabt.

»Grüße, meine Herren«, sagte er. »Mein Name ist Anote, Herzog von Vrill, und der Menin-Tradition folgend komme ich, um Euch die Möglichkeit zur Kapitulation zu bieten.«

Die Offiziere der Geweihten warfen sich amüsierte Blicke zu. Oberst Sants mochte ein selbstherrliches Arschloch sein und jede Gelegenheit nutzen, um Terals Autorität zu untergraben, aber im Angesicht des Feindes wusste er, wo sein Platz ist.

»Und was genau bringt Euch auf den Gedanken, wir könnten uns ergeben wollen?«, fragte Teral. »Die Faust ist seit dreihundert Jahren von keinem Feind erobert worden, und Ihr habt für Eure Drohung eine schlechte Woche gewählt. Wegen unseres Nachschubs ist es im Augenblick unsere größte Sorge, dass die Schlafplätze knapp werden könnten. Fühlt Euch also eingeladen, Eure Armee an der Faust aufzureiben und unseren Männern eine Stunde lang die Zeit zu vertreiben.«

Vrill lachte bösartig. Er hatte den Helm abgenommen, als er auf die Geweihten getroffen war und zeigte nun mehr als schulterlanges, dunkelrotes Haar. Vermutlich war es gefärbt, denn Menin-Haar war normalerweise so dunkel wie das von Terals eigenem Stamm. Auf dem Helm war mit aufgerissenem Maul ein Tier abgebildet, das Teral nicht kannte, und seine Rüstung war weiß angemalt, mit roten und blauen Bändern verziert und mit einem Zauber belegt, der den Herzog verschwimmen ließ, sobald er sich bewegte.

Teral hatte so etwas schon einmal gesehen und wusste, wie schwer es sein würde, gegen einen Mann zu kämpfen, der eine solche Rüstung trug.

Er wurde von Blutgeschworenen begleitet, die stur geradeaus starrten. Ihre Lanzen hingen in den Halterungen, und die rechte Hand ruhte leicht auf dem Sattel, knapp neben den Griffen ihrer langstieligen Äxte.

»Habt Ihr noch nicht gehört?«, fragte Vrill und musterte die Männer, die ihm gegenüberstanden. »Lord Styrax hat Tor Salan mit Leichtigkeit erobert und ihre Verteidigungsmaßnahmen waren besser als die Euren. Mein Lord möchte, dass sich die Runde Stadt seiner Herrschaft ohne Blutvergießen unterwirft.«

»Euer Lord«, sagte Kaplan Fell, der sich nicht länger beherrschen konnte, einigermaßen ärgerlich, »hat sich von den Göttern abgewendet. Er entweihte den Tempel Tsatachs und entsagte seinem Schutzgott, dem Herrn des Kampfes.«

»Mein Lord kämpft und siegt«, antwortete Vrill, »und was sollte das denn anderes sein, als der Dienst an Karkarn?«

»Er wird in den schwarzen Feuern Ghennas brennen!«, brüllte Fell und seine Hand zuckte zum Streitkolben, aber Sants hatte dies erwartet und ergriff den Arm des Kaplans. Fell wehrte sich zwar noch eine Weile, aber er war ein kleiner Mann und konnte sich darum nicht aus Sants Griff lösen.

»Herzog Vrill«, sagte Teral laut. »Ich bin der diensthabende Kommandant und habe weder die Ermächtigung noch den Wunsch, eine Kapitulation zu verhandeln, wenn nicht Ihr es seid, der sich ergeben möchte. Ihr habt nicht genug Männer, um uns mit Gewalt zu besiegen, darum befürchte ich, dass Ihr Eure Zeit verschwendet.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Vrill und sein Lächeln wurde noch breiter. »Es ist keineswegs eine Verschwendung.«

»Und warum?«, fragte Teral, beantwortete sich die Frage jedoch gleich darauf selbst: um uns abzulenken. Er drehte sich um und betrachtete die Festung. Noch hatte sich nichts verändert.

Ich verstehe das nicht, dachte er verwundert. Sie können keine Soldaten an uns vorbeigeschleust haben, das ist unmöglich.

Sogar die fünf Priester der Schnitter taten nichts Ungewöhnliches, knieten nur mit ihren Akolythen im Schlamm und beteten. Genau wie die Priester des Tods und Karkarns im Inneren der Faust.

»Ich möchte betonen, dass jeder, der sich ergibt und seine Waffen niederlegt, verschont werden wird«, sagte das Menin-Weißauge. Er hob die linke Hand und ein schreckliches Brüllen durchschnitt die Luft.

Teral wäre vor Schreck beinahe aus dem Sattel gefallen. Die Minotauren brüllten, während sie auf den offenen Bereich auf der rechten Seite der Faust zurannten.

»Nach Eurer Kapitulation solltet Ihr Eure Truppen durch das Westtor abziehen lassen«, riet der Menin-General.

»Seid Ihr taub oder nur irrsinnig?«, wollte Oberst Sants wissen, dabei war er offensichtlich genauso besorgt wie Teral selbst. »Wir werden Euch die verdammte Faust nicht übergeben, nur weil Ihr lieb darum bittet.«

»Meine Redekunst reicht nicht aus, um Euch zu überzeugen?« Vrill zuckte die Achseln. »Wie Ihr wünscht, dann werde ich es Euch also zeigen. Ich will Euch nicht länger aufhalten, meine Herren.«

Er salutierte knapp und saß lächelnd im Sattel, während die geweihten Soldaten ihre Pferde wendeten und zurück zum halboffenen Tor der Faust ritten. Alle vier fragten sich, was sie dort wohl vorfinden würden.

 

»Genug!«, rief Lord Celao und unterbrach Styrax mitten im Satz. »Eure Pläne für die Verwaltung interessieren mich auch nicht, Eure Handelsstrategien interessieren mich nicht, Eure Einschätzung der politischen Lage interessiert mich nicht!« Sein Gesicht war rot, und seine Wangen schlackerten hin und her, weil er vor Wut bebte. »Ihr beleidigt meinen Stamm durch Eure bloße Anwesenheit  – und dass Ihr glaubt, wir würden jemals die Herrschaft eines Menin hinnehmen, ist eine weitere Beleidigung. Die Nachfahren Grasts werden Ismess niemals beherrschen!«

»Ganz recht«, fügte Certinse gemessen hinzu. »Und darf ich Euch außerdem zu einem neuen Koch raten, der Aal war leider sehr fad.«

Der mächtige Farlan schien sich zu amüsieren, obwohl er gerade eine halbe Stunde damit verbracht hatte, Lord Styrax bei seiner Rede über belanglose Dinge zuzuhören. Er kannte dieses Spiel schon und war es zufrieden, zuzuhören und die Leute im Auge zu behalten, gelegentlich einen Kommentar einzuwerfen und alle paar Minuten zu lauschen, was ihm der Priester in Braun ins Ohr flüsterte. Sie würden schon noch zur Hauptsache kommen, und dann mochte das Spiel erst richtig in Schwung kommen.

Die Herzogin von Byora trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Ruhen starrte wie gebannt Lord Celao an und ließ sich davon auch nicht abbringen, egal, was sie versuchte. Der Sergeant auf der anderen Seite des Kindes verärgerte sie ebenso sehr. Kayel übersah ihre tadelnden Blicke und mischte sich nicht nur in das Gespräch ein, obwohl dies einem Mann seines Standes nicht anstand, sondern ermutigte den Jungen auch noch, an dem geflügelten Weißauge Interesse zu zeigen.

»Lord Celao, Ihr seid hier, weil Ihr der Erwählte Ilits und Herrscher von Ismess seid«, sagte Styrax schließlich, »aber Ihr solltet nicht davon ausgehen, dass Euch dies dazu befähigt, mich weiter zu beleidigen, wenn Ihr nicht wollt, dass Kohrad Euch den Kopf von Eurem fetten Körper reißt. Eure Armee ist armselig und passt zu dem Fettsack, den der Götterbote erwählt hat. Die Schande Eures Daseins ist wohl ein Ausdruck dafür, dass Ilits Einfluss schwindet.«

Das Litse-Weißauge kreischte empört auf, schien aber noch wütender darüber zu sein, dass weder Gesh noch Kiallas aufsprangen, um diese Schmähung zu strafen. Die geflügelten Männer versteiften sich zwar, aber keiner machte Anstalten, Styrax zum Widerruf seiner Aussage zu bewegen.

»Ihr werdet die Herrschaft der Menin akzeptieren, denn Euch bleibt gar keine andere Wahl«, fuhr Lord Styrax ernsthaft fort, wobei er seinem Sohn, der vor Wut bebte, beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Eure Anwesenheit hier verdankt Ihr nur meiner Höflichkeit. Eigentlich will ich lediglich mit der Herzogin und Ritter-Kardinal Certinse sprechen.«

Als er weitersprach, verschwand jede Feindseligkeit aus seiner Stimme. »Natai, bitte verzeiht mir diese Anmaßung, aber Eure Lage ist die Folgende: Ihr verfügt nicht über genug Soldaten, um allein Krieg zu führen, vor allem nicht im Augenblick, da Euer Viertel von religiösen Streitigkeiten zerrissen wird. Ihr werdet die Verteidigungstruppen der Stadt unterstützen, Euch aber Akell unterwerfen.

Ritter-Kardinal, Kardinal Sourl, Ihr werdet gemeinsam entscheiden, ob Ihr kämpfen oder kapitulieren wollt. Die nahe liegende Entscheidung für einen Ritterorden ist natürlich der Kampf.« Er sah übertrieben betont zum Himmel, als wolle er die Zeit abschätzen. Die Sonne verbarg sich hinter dichten Wolken, aber was er sah, reichte dem Menin-Lord. Er wusste, dass er auf Vrills Gespür für den richtigen Zeitpunkt vertrauen konnte.

»Meine Herren, ich habe Euch heute hierhergebracht, um Euch mitzuteilen, dass dies keine Möglichkeit mehr für Euch darstellt.«

Das Lächeln auf Certinses Gesicht geriet ins Wanken. »Was meint Ihr damit?«, fragte er.

Lord Styrax stand auf und winkte den Boten Karapin heran, der mit drei Schriftrollen im Arm herbeieilte. »Ich meine, Ritter-Kardinal, dass ich gerade die Faust eingenommen habe, die Hauptverteidigung Eures Viertels. Wenn Ihr den Friedensvertrag nicht unterschreibt, den der Bote Karapin hier vorlegt, werde ich es nicht dabei bewenden lassen.«

Er wandte sich ab und verließ den Tisch. »In Kürze wird ein Bote aus der Stadt hier eintreffen. Wenn Ihr verhindern wollt, dass meine Minotauren in Eurer Stadt Amok laufen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um vor mir auf die Knie zu sinken.«

 

Teral trieb sein Pferd an, entschlossen, der Erste zu sein, der sah, was in der Faust geschehen war. Die Schnitter-Priester blickten auf, aus dem Gebet gerissen, hoben verwundert ihren Blick zu ihm, und als er sie erreichte, sprangen die Novizen auf. Sie spürten das nahende Unheil, was ihn auch in dem Verdacht bestätigte, dass sie früher Soldaten gewesen sein mussten – wer sonst sollte den Schnittern freiwillig dienen?

Sie waren jetzt weniger als fünfzig Schritt von der Mauer der Faust entfernt und damit nah genug, um die Festung zu erreichen, bevor sie von der Menin-Kavalerie niedergeritten werden konnten. Aber die Priester achteten nicht auf ihre Novizen. Sie sahen erst auf die vorbeihetzenden Reiter und dann auf die Menin-Armee hinter ihnen.

»Lauft, ihr Narren!«, rief Oberst Sants und peitschte die Gruppe damit in Bewegung.

Sie liefen auf die Faust zu, wobei die kleinste Gestalt, eine Frau, wie Teral erkannte, von einem der Novizen halb gezogen wurde. Es gab eine plötzliche Bewegung, und der Novize stürzte, schlitterte reglos über den Boden.

»Ihr Götter, Bogenschützen!«, rief er und beugte sich über sein Pferd, zügelte es aber erst, nachdem er durchs Tor gelangt war. Er war bereits aus dem Sattel, bevor ein Stallbursche die Zügel ergreifen konnte.

»Jackler!«, rief er. »Nehmt Euch eine Einheit und durchsucht die Faust, verdoppelt die Wachen an jedem Eingang.« Da wurde er von Oberst Sants und Hauptmann Shael unterbrochen, die hinter ihm hereingeritten kamen und ihn in ihrer Eile fast niederritten.

»Gebt Alarm!«, brüllte Sants. »Und kommt gefälligst in Wallung, ihr Mistkerle!«

»Wo ist Fell?«, fragte Teral und befürchtete das Schlimmste.

Sants schüttelte mit vor Wut geröteten Wangen den Kopf. »Der Idiot hat gewendet, um Vrill anzugreifen, glaube ich.« Er lief zum Tor und sah hinaus. »Wo sind diese …« Der Oberst erstarrte.

Ein Heulen durchschnitt die Luft, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Hoch und schrill, doch es war ein Wut- und kein Schmerzensschrei. Er verklang schlagartig, als eine kantige Gestalt in Sicht kam und Sants umriss, ohne dabei langsamer zu werden. Es geschah im Handumdrehen. Teral sah nur für einen Augenblick lange, verformte Fänge aufblitzen, dann drangen sie in Sants Körper ein.

Der Boden unter seinen Füßen erbebte, wie unter den Schritten eines Riesen, und als drei Wachen mit eingelegter Pike zu Sants Hilfe eilten, zog er sein Schwert. Sie stürmten genau in die Hände einer zweiten Gestalt. Der erste Soldat wurde von einem riesigen Arm gegen seine Kameraden geschleudert und riss sie zu Boden.

Teral lief los, doch bevor er sie erreichen konnte, segelte eine dritte Gestalt durch die Luft und stach nach ihm. Instinktiv riss er das Schwert hoch, da blitzte eine Klinge auf, schnitt durch sein Gesicht und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Er taumelte beiseite, und die Gestalt drängte sich mit wirbelnden Armen, wie ein wütender Mystiker Karkarns, an ihm vorbei, um den nächsten anzugreifen. Blut lief über sein Gesicht, während eine weitere Kreatur mit flirrenden Klingen durch das Tor sprang. Teral blinzelte, versuchte die Augen klar zu bekommen und zu begreifen, was da vor sich ging. Das erste Wesen wandte sich ihm zu und die roten Augen glühten im Halbdunkel. Die Kreatur schüttelte sich wie ein Hund, und dabei löste sich eine Wolke übelriechenden, dunklen Rauchs aus ihrem verfilzten Fell. Er wich zurück.

In der Luft war plötzlich ein Gestank nach Verwesung und zwang ihn würgend in die Knie. Die größte der Kreaturen brüllte erneut, lauter noch als die Minotauren, aber mit einer menschenähnlicheren Stimme. Das Untier war von schmutziggrauer Farbe, Lappen oder Federbüschel hingen ihm vom Leib. Die riesigen Arme reichten beinahe bis zum Boden und waren mit glänzenden Hornplatten bedeckt. Es packte einen der Torflügel und riss ihn aus den Angeln, wobei die dicken, stahlverstärkten Balken wie Reisig splitterten. Mit einem Brüllen schleuderte es die Teile auf Teral und warf den Oberst zu Boden, dann wandte er sich wieder dem Tor zu.

Der Rauch wurde dichter. Hinter ihm arbeiteten sich zwei der Wesen mit schwertförmigen Unterarmen durch die Mannschaft des Wachhauses. Die erste der Bestien – Dämonen waren es, erkannte er nun – war ihnen nicht gefolgt, sondern stand im Tordurchgang und gab zunehmend dichtere, faulige Wolken von sich, die der Wind in die Faust hineintrug. Es beobachtete das Morden mit einem Leuchten in den Augen, das Teral für schreckliche Erregung hielt.

Jetzt kam eine fünfte Gestalt in Sicht. Sie ähnelte dem Rest aber gar nicht, und Teral kroch entsetzt rückwärts, achtete nicht mehr auf den stinkenden Rauch in seinem Mund und seiner Lunge. Er konnte die Angst nicht bekämpfen, die ihn beim Anblick der weiß glühenden, flammenumtosten Gestalt befiel.

Der brennende Mann, dachte er, vor Furcht wimmernd. Dann bemerkte er, dass dies kein in Flammen stehender Mann war, sondern ein gänzlich aus Feuer bestehendes Wesen, ein ebensolcher Dämon wie die anderen auch.

Dämonen, allesamt Dämonen.

Er versuchte zu fliehen, aber der Rauch hatte die Faust nun vollständig eingehüllt. Aus allen Richtungen gellten Schreie und das ohrenbetäubende Brüllen des größten Dämonen. Er sah nur dessen glühend rote Augen und diese grausige, züngelnde Gestalt aus Feuer.

Terals Augen brannten, sein Magen krampfte sich zusammen, und seine Glieder zitterten unkontrollierbar, während sich der Rauch in seinen Adern ausbreitete …

Aus dem Nichts erschien eine Hand, ergriff ihn und zog ihn weg. Er schlug danach, kreischte entsetzt, aber dann wurde er durch die Luft geschleudert. Der Himmel wurde heller, der Rauch verging, und dann war da kalte Erde unter ihm und kühle Luft auf seinem Gesicht. Er überschlug sich einmal, zweimal, dann aber wurde er von etwas aufgehalten. Andere Hände ergriffen ihn und zogen ihn auf die Beine, stützten ihn, weil seine Knie unter dem Gewicht nachgeben wollten.

»Versteht Ihr, was ich meine?«, rief ihm jemand ins Ohr, und er wurde geschüttelt wie eine Ratte in den Fängen eines Terriers. Ein helles gelbes Licht vertrieb den Rauch aus seinen Augen, und seine Sicht klärte sich. Er blinzelte einige Male angestrengt und sah den Haupteingang der Faust vor sich. Das zersplitterte, eingerissene Tor brannte, und der Feuerdämon breitete sich aus, um die ganze Festung zu verschlingen.

Der größte Dämon stand seitlich und sah sie auf seine Arme gestützt mit offenem Mund an. Ein Dolch ragte aus seiner Brust. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, dass jemand einen Treffer gelandet hatte – dann aber erkannte er das Messer.

Ihr Götter, das waren die Priester! Die grauen Lumpen sahen aus, als wenn sie geradewegs aus dem Fleisch herauswuchsen. Ihre Dolche haben ihre eigenen Novizen in Dämonen verwandelt!

Diese Erkenntnis raubte Oberst Teral die letzte Kraft, und er sackte zusammen, bemerkte dabei aber kaum, dass der Griff um seine Arme zu schmerzhaft wurde, um ihn zu ertragen. Er wurde erneut hochgezogen, und Herzog Vrills Gesicht erschien vor ihm. Das Weißauge sah mit einem Ausdruck wilder Freude auf ihn herab.

»Und, schon bereit, Euch zu ergeben?« Vrill zeigte auf das Tor. »Oder wollt Ihr abwarten, bis alle dem Feuer und Rauch zum Opfer gefallen sind?«

Teral nickte so gut es ging, und Tränen liefen seine Wangen hinab. Er wurde vorwärtsgestoßen und einer der Männer, die ihn hielten, schob ihn auf das brennende, mit Rauch gefüllte Tor zu.

»Dann geht«, rief ihm Vrill dröhnend nach, während sich die Flammen teilten. »Geht und sagt es dem Rest Eurer Soldaten!«