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Es geschehen Dinge, die wie Fragen sind. Eine Minute vergeht oder auch Jahre, dann antwortet das Leben. Die Geschichte von Morivar war eines von diesen Dingen. 

 

Als Mr. Rail kaum mehr als ein Junge war, ging er eines Tages nach Morivar, denn in Morivar war das Meer.

Und dort sah er Jun.

Und er dachte: Ich werde mit ihr leben.

Jun stand inmitten einer Menschentraube. Man wartete darauf, an Bord eines Schiffes namens Adel zu gehen. Koffer, Kinder, Geschrei und Schweigen. Der Himmel war klar, und es kündigte sich ein Unwetter an. Merkwürdigkeiten.

»Ich heiße Dann Rail.«

»Na und?«

»Nichts, nur so, ich meine … fährst du weg?«

»Ja.«

»Wohin fährst du?«

»Und du?«

»Ich nirgendwohin. Ich fahre nicht weg.«

»Was machst du dann hier?«

»Ich bin hier, um jemanden abzuholen.«

»Wen?«

»Dich.«

/Du hättest sie sehen sollen, Andersson, sie war so was von schön … Sie hatte nur einen Koffer, er stand auf dem Boden, und in der Hand ein Päckchen, das sie fest umklammerte, das sie nie losließ, nicht eine Sekunde ließ sie es los an diesem Tag. Sie wollte nicht weg von dort, sie wollte auf dieses Schiff, also fragte ich sie: »Wirst du zurückkommen?«, und sie antwortete: »Nein.« Da sagte ich: »Also dann glaube ich nicht, daß es wirklich gut für dich ist, wenn du fährst«, das sagte ich zu ihr. »Und warum nicht?« Sie fragte mich: »Und warum nicht?«/

»Wie willst du es denn sonst anstellen, mit mir zusammenzuleben?«

/Und da lachte sie, es war das erste Mal, daß ich sie lachen sah, und Andersson, du weißt ja, wie Jun ist, wenn sie lacht, da kann man nicht so tun, als ob nichts wäre, wenn Jun einen anlacht, ist klar, daß man nicht anders kann als zu denken: Wenn ich diese Frau nicht küsse, werde ich verrückt. Und ich dachte: Wenn ich dieses Mädchen nicht küsse, werde ich verrückt. Natürlich war das nicht ganz das, was auch sie dachte, aber entscheidend ist, daß sie lachte, ungelogen, sie stand da, zwischen all den Leuten, mit ihrem Päckchen fest im Arm, und lachte/

Es blieben noch zwei Stunden bis zur Abfahrt der Adel. Mr. Rail erzählte Jun, daß er sich, wenn sie nicht etwas mit ihm trinken ging, einen großen Stein um den Hals binden und sich ins Hafenwasser stürzen wollte und daß der große Stein, wenn er ins Wasser fiele, den Kiel der Adel aufreißen würde, die daraufhin sinken und das Nachbarschiff rammen müßte, welches mit dem Laderaum voller Schießpulver unter schrecklichem Getöse explodieren könnte, so daß Dutzende Meter hohe Flammen auflodern würden, die in kurzer Zeit …

»Ja, ja, schon gut, bevor der ganze Ort lichterloh brennt, gehen wir zusammen etwas trinken, ja?«

Er nahm den Koffer, sie preßte das Päckchen an sich. Die Kneipe war etwa hundert Meter entfernt. Sie hieß »Herrjemine«. Das war kein Name für eine Kneipe.

Mr. Rail hatte zwei Stunden Zeit, eher noch etwas weniger. Er wußte, wohin er wollte, aber er wußte nicht, wo er beginnen sollte. Ein Satz, den Andersson ihm einmal gesagt hatte und der seit Jahren auf seine Stunde gewartet hatte, half ihm aus der Not. Sie war gekommen, seine Stunde. »Und wenn du merkst, daß wirklich nichts zu machen ist, dann erzähl vom Glas. Die Geschichten, die ich dir erzählt habe. Du wirst sehen, sie beißt an. Keine Frau könnte solchen Geschichten wirklich widerstehen.«

/So einen Quatsch habe ich nie gesagt, Natürlich hast du das gesagt, Ausgeschlossen, Was dir fehlt, mein lieber Andersson, ist ein gutes Gedächtnis, Was dir nicht fehlt, mein lieber Mr. Rail, ist Phantasie/

Zwei Stunden lang erzählte Mr. Rail Jun vom Glas. Er dachte sich fast alles aus. Doch ein paar Sachen stimmten auch. Wunderschöne Sachen. Jun hörte zu. Als redeten sie über den Mond. Dann kam ein Mann in die Kneipe und rief, daß die Adel zum Ablegen bereit sei. Leute, die aufstehen, von hier nach da geschleuderte Worte, das Wogen von Koffern und Paketen, weinende Kinder. Jun steht auf. Sie nimmt ihre Sachen, dreht sich um und geht zur Tür. Mr. Rail legt Geld auf den Tisch und läuft ihr nach. Jun strebt eilig zum Schiff. Mr. Rail läuft ihr nach und denkt: Einen Satz, ich muß unbedingt den richtigen Satz finden. Doch sie ist es, die ihn findet. Sie bleibt ruckartig stehen. Sie stellt den Koffer ab, dreht sich zu Mr. Rail um und flüstert:

»Kennst du noch mehr von diesen Geschichten? … Geschichten wie die vom Glas?«

»Massenhaft.«

»Kennst du eine, die so lang ist wie die Nacht?«

/Und so bestieg sie es nicht, dieses Schiff. Wir blieben beide dort, in Morivar. Es dauerte sieben Tage, bis das nächste ging. Sie vergingen schnell. Dann vergingen noch einmal sieben. Diesmal hieß das Schiff Esther. Jun wollte wirklich mitfahren. Sie sagte, sie müsse wirklich fahren. Es hing mit diesem Päckchen zusammen, verstehst du? Sie sagte, sie müsse es dorthinbringen, ich weiß nicht mal, wo dieses Dorthin überhaupt ist, sie hat es mir nie gesagt. Aber dorthin muß sie es bringen. Zu jemandem, glaube ich. Sie wollte mir nie sagen, zu wem. Ich weiß, das ist eine merkwürdige Geschichte, aber so ist es. Es gibt dort jemanden, und eines Tages wird Jun zu ihm kommen und ihm dieses Päckchen in die Hand drücken. Damals, als wir in Morivar waren, zeigte sie es mir einmal. Sie wickelte es aus, und es war ein Buch darin, ganz in einer winzigen Handschrift geschrieben, blau eingebunden. Ein Buch, verstehst du? Nur ein Buch/

»Hast du das geschrieben?«

»Nein.«

»Und was steht drin?«

»Ich weiß nicht.«

»Du hast es nicht gelesen?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Vielleicht werde ich es irgendwann lesen. Aber erst muß ich es dorthinbringen.«

/Großer Gott, Andersson, ich habe keine Ahnung, wie man sich im Leben verhält, aber sie muß dieses Buch dorthinbringen und ich … ich habe es geschafft, daß sie nicht mit diesem Schiff namens Esther fuhr, ich habe es geschafft, sie hierherzubringen, und jede Woche geht ein Schiff, das ohne sie abfährt, seit Jahren schon. Aber ich kann sie nicht immer und ewig hierbehalten, ich habe es ihr versprochen, eines Tages wird sie aufstehen, ihr gottverfluchtes Buch nehmen und nach Morivar zurückkehren. Und ich werde sie gehen lassen. Ich habe es ihr versprochen. Mach nicht so ein Gesicht, Andersson, ich weiß selbst, daß das verrückt klingt, aber so ist es. Vor mir war dieses Buch da, in ihrem Leben, und ich kann nichts dagegen tun. Es ist da, auf halbem Weg, dieses verfluchte Buch, und es kann nicht immer da bleiben. Eines Tages wird es seine Reise fortsetzen. Und diese Reise ist Jun. Verstehst du das? Alles andere – Quinnipak, dieses Haus hier, das Glas, du, Mormy und sogar ich –, alles andere ist nichts weiter ah eine große unvorhergesehene Zwischenstation. Wie durch ein Wunder hält ihr Schicksal seit Jahren die Luft an. Doch eines Tages wird es weiteratmen. Und sie wird fortgehen. Es ist gar nicht so schrecklich, wie es aussieht. Weißt du, manchmal denke ich … vielleicht ist Jun so schön, weil sie ihr Schicksal klar und deutlich mit sich herumträgt. Es muß etwas sein, das einen außergewöhnlich macht. Sie hat es. Von jenem Tag, damals am Pier von Morivar, werde ich zwei Dinge nie mehr vergessen: ihre Lippen und wie sie dieses Päckchen umklammerte. Jetzt weiß ich, daß sie ihr Schicksal umklammerte. Sie wird es nicht loslassen, bloß weil sie mich liebt. Und ich werde es ihr nicht wegnehmen, bloß weil ich sie liebe. Ich habe es ihr versprochen. Es ist ein Geheimnis, und du darfst es niemandem erzählen. Aber so ist es./

»Läßt du mich dann gehen, an dem Tag?«

»Ja.«

»Wirklich, Mr. Rail?«

»Wirklich.«

»Und bis dahin werden wir nie wieder über diese Geschichte sprechen, wirklich nie wieder?«

»Wenn du nicht willst, nein.«

»Dann nimm mich mit, damit ich mit dir leben kann. Bitte.«

Deshalb kehrte Mr. Rail eines Tages aus Morivar zurück, und es war ein so schönes Mädchen bei ihm, wie Quinnipak noch nie eines gesehen hatte. Deshalb liebten sich diese beiden auf diese wunderliche Art, die von außen betrachtet unmöglich schien, aber trotzdem schön war, die, wenn man nur lernen könnte … Und deshalb auch tat Mr. Rail zweiunddreißig Jahre später viele Tage lang so, als sähe er die unscheinbaren Vorbereitungen nicht, die Juns Gesten entschlüpften, bis er es wirklich nicht mehr aushielt und, nachdem er in jener Nacht das Licht gelöscht hatte, ein paar wenige Augenblicke verstreichen ließ, dann die Augen schloß und anstatt:

»Gute Nacht«

zu sagen, fragte:

»Wann fährst du?«

»Morgen.« 

 

Es geschehen Dinge, die wie Fragen sind. Eine Minute vergeht oder auch Jahre, dann antwortet das Leben. Es vergingen zweiunddreißig. Zweiunddreißig Jahre, bevor Jun ihren Koffer wieder aufnahm, das Päckchen an sich preßte und aus der Tür von Mr. Raus Haus trat. Früher Morgen. Die Luft von der Nacht reingewaschen. Wenig Geräusche. Niemand unterwegs. Jun geht den Weg zur Straße hinunter. Dort steht Arolds Kutsche und wartet auf sie. Er kommt jeden Tag hier vorbei. Es macht ihm nichts aus, es an jenem Tag ein bißchen früher als sonst zu tun. Danke, Arold. Keine Ursache. Die Kutsche fährt ab. Langsam läßt sie die Straße hinter sich. Sie wird nicht zurückkehren. Jemand ist gerade aufgewacht. Er sieht sie vorbeifahren.

Es ist Jun.

Es ist Jun, die fortgeht.

Sie hat ein Buch in der Hand, das sie weit fortbringt. (Leb wohl, Dann. Leb wohl, kleiner Mr. Rail, der mir das Leben gezeigt hat. Du hattest recht: wir sind nicht gestorben. Es ist nicht möglich, in deiner Nähe zu sterben. Sogar Mormy hat gewartet, bis du weit weg warst, bevor er es tat. Jetzt bin ich es, die weit weg geht. Und ich werde nicht in deiner Nähe sterben. Leb wohl, mein kleiner Herr, der von den Zügen träumte und wußte, wo die Unendlichkeit ist. Alles, was war, habe ich gesehen, wenn ich dich ansah. Und wenn ich mit dir zusammen war, bin ich überall gewesen. Das ist etwas, das ich nie jemandem werde erklären können. Aber so ist es. Ich werde es mitnehmen, und es wird mein schönstes Geheimnis sein. Leb wohl, Dann. Denke nie anders als lachend an mich. Leb wohl.)