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Im Hospital von Abelberg – das wußte jeder – waren die Verrückten. Mit geschorenen Köpfen und einer grau und braun gestreiften Uniform. Eine tragische Armee des Wahnsinns. Die Schlimmsten steckten in Holzkäfigen. Aber es gab auch welche, die frei herumliefen, ab und an fand man einen, der sich unten im Städtchen herumgetrieben hatte, man nahm ihn an die Hand und brachte ihn zurück, hinauf ins Hospital. Wenn sie durch die Gittertür gingen, sagten sie manchmal: »Danke.«

Es mochten an die hundert Verrückte gewesen sein, in Abelberg. Dazu ein Arzt und drei Schwestern. Und es gab so etwas wie einen Assistenten. Er war ein stiller Mann mit freundlichen Manieren und vielleicht sechzig Jahre alt. Er war eines Tages mit einem kleinen Koffer in der Hand dort aufgetaucht.

»Meinen Sie, daß ich hierbleiben könnte? Ich kann mich nützlich machen und werde niemandem zur Last fallen.«

Der Arzt fand nichts dabei. Und die drei Schwestern fanden, daß er auf seine Art ein sympathischer Mann war. Er zog ins Hospital. Mit sanfter Präzision kam er den verschiedensten Pflichten nach, als sei er im Bann eines transzendentalen Verzichts auf jeglichen Ehrgeiz gefangen. Er verweigerte nichts. Er erlaubte sich nur, jede Einladung zum Verlassen des Hospitals, und sei es auch nur für eine Stunde, mit höflicher Bestimmtheit abzulehnen.

»Ich bleibe lieber hier. Wirklich.«

Er zog sich jeden Abend um die gleiche Zeit in sein Zimmer zurück. Auf seinem Nachttisch gab es keine Bücher, gab es keine Bildnisse. Niemand hatte ihn je schreiben oder einen Brief erhalten sehen. Er schien einer zu sein, der aus dem Nichts gekommen war. Die absolute Unergründlichkeit seiner Existenz wurde von genau einem außergewöhnlichen und nicht unbedeutenden Riß durchzogen: Man fand ihn in regelmäßigen Abständen zusammengekauert in einem versteckten Winkel des Hospitals, mit unkenntlichem Gesicht und einem Singsang, der halblaut über seine Lippen kam. Dieser Singsang bestand aus der unermüdlichen, demütigenden Wiederholung eines einzigen Wortes: »Hilfe.«

Das geschah zwei-, dreimal im Jahr, öfter nicht. Etwa zehn Tage lang blieb der Assistent in einem Zustand harmloser, doch vollkommener Teilnahmslosigkeit gegenüber allem und jedem. Die Schwestern waren dazu übergegangen, ihm in diesen Tagen die grau und braun gestreifte Uniform anzuziehen. Wenn der Anfall vorbei war, kehrte der Assistent zu einer höchst vertrauenerweckenden und uneingeschränkten Normalität zurück. Er zog sich die Streifenuniform aus und trug wieder den weißen Kittel, in dem ihn alle für gewöhnlich im Hospital herumlaufen sahen. Er nahm sein Leben wieder auf, als sei nichts gewesen.

Jahrelang fristete der Assistent in fleißiger Entsagung dieses besondere Leben, das friedlich über der hauchdünnen Grenzlinie pendelte, die den weißen Kittel von der Streifenuniform trennte. Das Pendel seines Rätsels hatte aufgehört, Erstaunen auszulösen, und arbeitete nun still eine Zeit ab, die sich auch als unendlich hätte erweisen können. Doch ungläubig sah man eines Tages mit an, wie sich sein Mechanismus plötzlich verklemmte.

Der Assistent ging gerade über den Flur im zweiten Stockwerk, als sein Blick auf etwas fiel, das er in den vielen Jahren schon tausendmal gesehen hatte. Und das er in diesem Augenblick offenbar trotzdem das erste Mal sah. Da saß ein Mann in seiner grau und braun gestreiften Uniform zusammengekauert auf dem Boden. Mit systematischer Akribie zerlegte er seine Exkremente in kleine Stückchen, die er dann langsam in den Mund schob und geduldig und seelenruhig kaute. Der Assistent blieb stehen. Er ging zu dem Mann und hockte sich vor ihn hin. Er begann ihn wie gebannt anzustarren. Der Mann schien von seiner Anwesenheit nicht einmal Notiz zu nehmen. Er fuhr mit seiner absurden, doch gründlichen Arbeit fort. Minutenlang starrte der Assistent ihn an, ohne sich zu rühren. Dann begann seine Stimme fast unmerklich zwischen die tausend Geräusche dieses von unschuldigen Monstern bevölkerten Korridors zu gleiten.

»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ihr sitzt alle in einem See voll Scheiße. Der Arsch verfault euch in einem Meer voll Scheiße. Die Seele verfault euch. Die Gedanken. Alles. Eine riesige Sauerei, wirklich wahr, eine erstklassige Sauerei. Ein tolles Schauspiel. Verfluchtes Pack! Ich hatte euch nichts getan. Ich wollte bloß leben. Aber das geht nicht, stimmt’s? Man muß krepieren, man muß sich der Reihe nach anstellen, um zu verfaulen, einer nach dem anderen, nur da, um sich anzuekeln, mit viel Anstand. Los, krepiert, ihr Schweine! Krepiert. Krepiert. Krepiert. Ich werde euch krepieren sehen, einen nach dem anderen, das ist alles, was ich jetzt noch will, sehen, wie ihr krepiert, und auf die Scheiße spucken, die ihr seid. Wo ihr euch auch verkrochen habt, ihr müßt euch vom Schlimmsten aller Übel fressen lassen und schreiend vor Schmerzen sterben, ohne daß auch nur ein Hahn nach euch kräht, einsam wie Tiere, die Tiere, die ihr gewesen seid, abscheuliche, widerwärtige Bestien. Wo du auch sein magst, mein Vater, du und der Schrecken deiner Worte, du und der Skandal deines Glücks, du und die Widerlichkeit deiner Feigheit … nachts sollst du krepieren, mit einer Angst, die dir die Kehle zuschnürt, und einem höllischen Schmerz im Leib und dem Gestank des Entsetzens an dir! Und mit dir soll deine Frau krepieren, Flüche ausspuckend, die ihr ein endloses Paradies der Qualen bescheren werden! Die Ewigkeit würde nicht reichen, sie für all ihre Schandtaten büßen zu lassen. Soll doch alles krepieren, was ihr berührt habt, die Dinge, die ihr gesehen habt, und jedes einzelne Wort, das ihr sagtet! Die Wiesen sollen verwelken, auf die ihr eure elenden Füße gesetzt habt, und die Menschen, die ihr mit dem Moder eures Lächelns besudeltet, sollen wie verwesende Harnblasen platzen. Genau das will ich. Euch krepieren sehen, euch, die ihr mir das Leben gegeben habt. Und zusammen mit euch all die, die es mir später wieder genommen haben, Stück für Stück, überall versteckt, nur um meine Wünsche auszuspähen. Ich bin Hector Horeau, und ich hasse euch! Ich hasse den Schlaf, den ihr schlaft, ich hasse den Stolz, mit dem ihr die Ödnis eurer Kinder wiegt, ich hasse alles, was eure verfaulten Hände berühren, ich hasse es, wenn ihr euch in Schale werft, ich hasse das Geld, das ihr in der Tasche habt, ich hasse den grausamen Fluch des Augenblicks, in dem ihr euch erlaubt, zu weinen, ich hasse eure Augen, ich hasse die Unzüchtigkeit eures guten Herzens, ich hasse die Pianos, die wie Särge den Friedhof eurer Salons bevölkern, ich hasse eure ekelhaft angemessenen Lieben, ich hasse alles, was ihr mir beigebracht habt, ich hasse das Elend eurer Träume, ich hasse das Geräusch eurer neuen Schuhe, ich hasse jedes einzelne Wort, das ihr je geschrieben habt, ich hasse jeden Augenblick, in dem ihr mich angefaßt habt, ich hasse jeden Moment, in dem ihr recht hattet, ich hasse die Madonnen, die über euren Betten hängen, ich hasse die Erinnerung an die Zeit, als ich mit euch geschlafen habe, ich hasse eure nichtigen Geheimnisse, ich hasse all eure schönsten Tage, ich hasse alles, was ihr mir gestohlen habt, ich hasse die Züge, die euch nicht weit wegbrachten, ich hasse die Bücher, die ihr mit euren Blicken besudelt habt, ich hasse die Widerwärtigkeit eurer Gesichter, ich hasse den Klang eurer Namen, ich hasse es, wenn ihr euch umarmt, ich hasse es, wenn ihr in die Hände klatscht, ich hasse, was euch anrührt, ich hasse jedes einzelne Wort, das ihr mir entrissen habt, ich hasse das Elend dessen, den ihr erkennt, wenn ihr in die Ferne seht, ich hasse den Tod, den ihr gesät habt, ich hasse jede Stille, die ihr zerrissen habt, ich hasse euren Duft, ich hasse es, wenn ihr euch versteht, ich hasse jeden Landstrich, der euch beherbergt hat, und ich hasse die Zeit, die über euch hinweggegangen ist. Jede Minute dieser Zeit ist ein Fluch gewesen. Ich verachte euer Schicksal. Und jetzt, wo ihr mir meines gestohlen habt, liegt mir nur noch daran, zu wissen, daß ihr krepiert seid. Der Schmerz, der euch zerreißt, werde ich sein, die Angst, die euch zerfrißt, werde ich sein, der Modergeruch eurer Leichen werde ich sein, die Würmer, die sich an euren Knochen mästen, werde ich sein. Und jedesmal, wenn euch jemand vergißt, werde ich zur Stelle sein.

Ich wollte doch bloß leben.

Ihr Schweine.«

An jenem Tag zog der Assistent sanftmütig seine Streifenuniform an, um sie nie wieder abzulegen. Das Pendel hatte sich für immer verklemmt. In den sechs Jahren, die er noch im Hospital verbrachte, hörte ihn niemand ein Wort sprechen. Von den unzähligen Gewalttätigkeiten, aus denen sich der Wahnsinn speist, wählte der Assistent die subtilste und untadeligste für sich: das Schweigen. Er starb in einer Sommernacht, mit blutüberströmtem Gehirn. Ein gräßliches Röcheln trug ihn mit der jähen Gier eines Blickes fort.