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Wie man bereits Gelegenheit hatte festzustellen, pflegt das Schicksal seltsame Zusammentreffen zu arrangieren. Zum Beispiel war Pekisch gerade dabei, sein monatliches Bad zu nehmen, als er deutlich die Melodie von Duftende Blüten erklingen hörte. Das war an sich noch nichts Besonderes. Man bedenke aber, daß in diesem Augenblick niemand die Melodie von Duftende Blüten spielte. Weder in Quinnipak noch anderswo. Genaugenommen existierte diese Musik in diesem Augenblick nur in Pekischs Kopf. Von wer weiß wo hereingeschneit.
Pekisch hörte auf zu baden, doch die außergewöhnliche und vollkommen private Aufführung von Duftende Blüten (für vier Singstimmen, Klavier und Klarinette) hörte nicht auf. Zum wachsenden Erstaunen des privilegierten und einzigen Zuhörers spielte sie den ganzen Tag weiter – in gedämpfter Lautstärke, doch mit konsequenter Beharrlichkeit. Das war an einem Mittwoch, und Pekisch mußte die Kirchenorgel stimmen. Er war in der Tat der einzige, dem es gelingen konnte, mit der unaufhörlichen Wiederholung von Duftende Blüten im Ohr irgend etwas zu stimmen. Es gelang ihm auch wirklich, doch er war erschöpft, als er zur Witwe Abegg nach Hause kam. Er aß schnell und schweigend. Als er unvermutet und im Grunde sogar ohne es zu merken anfing, zwischen einem Gabelbissen und dem nächsten vor sich hin zu pfeifen, unterbrach Mrs. Abegg ihren üblichen Abendmonolog und sagte fröhlich: »Dieses Lied kenne ich … «
»Ach was!«
»Das ist Duftende Blüten.«
»Ach was!«
»Es ist ein sehr schönes Lied, nicht wahr?«
»Wie man’s nimmt.«
In dieser Nacht schlief Pekisch wenig und schlecht. Am Morgen stand er auf, und Duftende Blüten war immer noch da. Die Klarinette fehlte, aber zum Ausgleich dafür waren ein paar Geigen und ein Kontrabaß dazugekommen. Ohne sich auch nur anzuziehen, setzte sich Pekisch mit der Absicht ans Klavier, in die außergewöhnliche Aufführung einzustimmen, und hegte dabei die stille Hoffnung, sie in ein hübsches Finale zu drängen. Doch er merkte sofort, daß etwas nicht stimmte. Er wußte nicht, wohin er seine Hände legen sollte. Er, der imstande war, jede beliebige Note zu erkennen, konnte nicht ausmachen, in welcher vermaledeiten Tonart dieses verfluchte Orchester in seinem Kopf spielte. Er beschloß, es auf gut Glück zu versuchen. Er probierte es in allen nur möglichen Tonlagen, doch immer klang das Klavier hoffnungslos falsch. Schließlich gab er auf. Eines war jetzt klar: Nicht genug damit, daß diese Musik keinerlei Anstalten machte, wieder aufzuhören – sie war noch dazu aus unsichtbaren Tönen gemacht.
»Was ist das bloß für ein blöder Scherz?«
Zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte Pekisch wieder den Stachel der Angst.
Duftende Blüten spielte vier Tage ungestört weiter.
Im Morgengrauen des fünften hörte Pekisch deutlich, wie ihm die unverkennbare Melodie von Wachteln am Morgen in den Kopf drang. Er lief in die Küche, setzte sich grußlos an den Tisch und erklärte entschieden: »Mrs. Abegg, ich muß Ihnen etwas sagen.«
Dann erzählte er ihr alles.
Die Witwe war erschüttert, zeigte jedoch eine gewisse Neigung, die Dinge nicht zu dramatisieren.
»Na wenigstens sind wir Duftende Blüten los.«
»Nein.«
»Nicht?«
»Sie spielen zusammen.«
»Duftende Blüten und Wachteln am Morgen?«
»Ja. Beide übereinander. Zwei verschiedene Orchester.«
»Du liebe Güte!«
Natürlich hörte niemand außer Pekisch das große Konzert. Mrs. Abegg versuchte sogar, aus rein experimentellen Gründen, ihr Ohr an Pekischs Kopf zu pressen. Sie erklärte, daß nicht ein Ton zu hören sei. Er war ganz und gar innen, der große Tumult.
Notfalls wäre es sogar erträglich gewesen, mit Duftende Blüten und Wachteln am Morgen im Kopf zu leben, für einen wie Pekisch zumindest. Allerdings kamen in den zwanzig darauffolgenden Tagen in schneller und zum Schluß fast täglicher Abfolge noch Die Zeit kehrt zurück dazu sowie Schwarze Nacht, Süße Mary, wo bist du?, Zähl das Geld und sing, Firlefanz und Tränen, Hymne auf die Krone und Für alles Gold der Welt, nein, ich komme nicht. Als im Morgengrauen des einundzwanzigsten Tages die unerträgliche Melodie von Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp am Horizont auftauchte, kapitulierte Pekisch und weigerte sich, das Bett zu verlassen. Sie erschütterte ihn, diese ganze absurde Sinfonie. Sie verschlang ihn Tag für Tag mehr, sie richtete ihn gehörig zu. Die Witwe Abegg saß stundenlang an seinem Bett, ohne zu wissen, was zu tun war. So ziemlich jeder kam vorbei, um ihn zu besuchen, aber niemand wußte etwas zu sagen. Es gibt so viele Krankheiten, aber was zum Teufel war das für eine? Es gibt doch keine Medizin für Krankheiten, die es nicht gibt.
Kurz, die Musik in Pekischs Kopf war explodiert. Da war nichts mehr zu machen. Mit fünfzehn Orchestern im Kopf, die sich den lieben langen Tag kräftig ins Zeug legen, kann man nicht leben. Man kann nicht schlafen, man kann nicht reden, essen, lachen. Man kann überhaupt nichts mehr. Man liegt da und versucht durchzuhalten. Was könnte man auch sonst tun? Pekisch lag da und versuchte durchzuhalten.
Dann eines Nachts geschah es, daß er aufstand und mit grenzenloser Mühe zum Zimmer der Witwe Abegg taumelte. Leise öffnete er die Tür, ging zum Bett und legte sich neben sie. Ringsumher herrschte eine tiefe schöne Stille. Für alle, außer für ihn. Er sprach leise, doch sie hörte ihn.
»Sie fangen an, falsch zu spielen. Sie sind plemplem, vollkommen plemplem.«
Sie wollte ihm so viel antworten, die Witwe Abegg. Doch wenn einen dieses irrsinnige Verlangen zu weinen überkommt, das wirklich alles aus einem herauswringt, so daß man es nicht mehr zurückhalten kann, dann ist überhaupt nicht daran zu denken, auch nur ein Wort herauszupressen, es kommt nichts mehr heraus, es kommt alles zu einem zurück, in einen hinein, von diesen verdammten Schluchzern verschluckt, im Schweigen dieser blöden Tränen untergegangen. Gottverdammt. Bei all dem, was man so gern sagen möchte … Aber statt dessen nichts, nichts kommt heraus. Kann man schlimmer beschaffen sein?
Zu Pekischs Begräbnis hatten die Leute von Quinnipak einer gewissen Logik folgend beschlossen, keine einzige Note zu spielen. In einem wunderbaren Schweigen zog der Holzsarg auf den Schultern der tiefsten Oktave des Humanophons durch das Städtchen und hinauf zum Friedhof. »Möge dir die Erde so leicht sein, wie du für sie warst«, betete Pater Obry. Und die Erde antwortete: »Amen.«