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»MRS. RAIL, Mrs. Rail … Verzeihen Sie … Mrs. Rail …«

»Komm herein, Brath.«

»Mrs. Rail, es ist etwas …«

»Na sag schon, Brath.«

»Mormy …«

»Was ist los, Brath?«

»Mormy … Mormy ist tot …«

»Was sagst du da?«

»Sie haben Mormy umgebracht.«

»Was sagst du da?«

»Sie haben ihn umgebracht. Er war da, und sie haben ihn am Kopf getroffen, sie haben mit Steinen geschmissen, und einer hat ihn genau am Kopf getroffen. Er ist umgefallen wie ein nasser Sack. Er hat nicht mehr geatmet.«

»Was sagst du da?«

»Da waren die von der Eisenbahn, die Arbeiter, sie waren stinkwütend, sie schrien uns an, es waren ungefähr vierzig, vielleicht noch mehr, wir haben versucht, sie aufzuhalten, aber es waren zu viele, da sind wir weggerannt … wir rannten schon, als sie anfingen, mit diesen verfluchten Steinen nach uns zu schmeißen, und ich weiß nicht, wieso, aber Mormy blieb zurück, ich habe geschrien, er soll machen, daß er wegkommt, aber er hat nicht darauf geachtet, ich weiß auch nicht, er ist dageblieben, und schließlich hat ihn ein Stein genau am Kopf getroffen, er fiel plötzlich um, und da hörten alle auf, aber es war schon zu spät, da war nichts mehr zu machen, er atmete nicht mehr, und sein ganzer Kopf … also, er war tot.«

»Was sagst du da?«

»Sie wollten die Eisenbahn abbauen, darum sind wir hingegangen, und am Ende haben wir eine ordentliche Keilerei angefangen, aber das sind gemeine Kerle, und wir waren bloß eine Handvoll Leute, also mußten wir schließlich abhauen, und da machten wir uns alle aus dem Staub, außer Mormy … das heißt, er rannte am Anfang noch mit uns los, aber dann auf einmal drehte er sich um und blieb stehen, ich weiß auch nicht warum, und so stand er genau in der Mitte, wie angewurzelt, als die andern anfingen, mit diesen verfluchten Steinen zu schmeißen, sie lachten laut und dreckig und schmissen Steine hinter uns her, aber bloß so, um uns zu verscheißern … nur daß Mormy eben immer noch genau in der Mitte stand und sie anstarrte, er starrte sie an, vielleicht hat sie das auch auf die Palme gebracht, ich weiß es nicht, jedenfalls habe ich gesehen, wie er auf einmal umkippte, ein Stein hatte ihn genau am Kopf getroffen, er kippte um, und die anderen hörten auf zu lachen … und wir hörten auf zu laufen. Wir gingen zurück, aber da war nichts mehr zu machen, sein Kopf war zertrümmert, überall Blut, sie hatten ihm den Schädel eingeschlagen; ich weiß nicht, was es da für ihn zu sehen gegeben hatte, warum er da stehengeblieben war, es wäre nichts passiert, wenn er mit uns mitgekommen wäre …«

»Was sagst du da?«

»Sie waren stinkwütend, die von der Eisenbahn, weil sie schon seit Monaten keinen roten Heller mehr gesehen hatten, da fingen sie eben an, die Schienen wieder abzubauen, Stück für Stück, und sie sagten, sie wollten nicht eher aufhören, als bis das Geld käme, das ihnen zustand, und so bauten sie wirklich eine Schiene nach der anderen ab … da sagte ich ihnen, daß Mr. Rail das Geld, auf das sie warteten, bei seiner Rückkehr bestimmt mitbringen würde, aber sie wollten nichts davon wissen, sie glaubten nicht mehr daran … wir wollten nicht, daß sie Mr. Rails Eisenbahn abbauten, darum sind wir hingegangen, um sie irgendwie aufzuhalten, und es war auch gar nicht nötig, daß Mormy mitkam, aber er wollte mit, und da meinten die anderen, einer mehr käme uns gerade recht, und so kam er eben mit. Als wir da ankamen, versuchten wir mit ihnen zu reden und sie umzustimmen, aber das sind gemeine Kerle, das hatte ich Mr. Rail auch gesagt, die kommen alle direkt aus dem Knast, müssen Sie wissen … aber er wollte nichts davon hören … jedenfalls flogen ein paar Schimpfwörter hin und her, und dann, ich weiß nicht, wie es anfing, aber schließlich steckten wir mitten in einer Prügelei, wir hatten ein paar Knüppel dabei, aber bloß so, nicht um sie wirklich zu benutzen, nur so, um nicht mit leeren Händen dazustehen … aber als ich plötzlich ein Messer auftauchen sah, brüllte ich, daß alle abhauen sollten, denn sie waren in der Überzahl, und das sind gemeine Kerle, wirklich wahr, und so rannten wir los, alle außer Mormy, der am Anfang noch mitrannte, aber dann verlor ich ihn aus den Augen, und als ich mich umdrehte, sah ich, daß er auf halbem Weg stehengeblieben war, wie angewurzelt, und diese Verbrecher anstarrte, ich weiß nicht wieso, er war wie verzaubert, er merkte überhaupt nichts, er starrte sie an und damit basta, wie eine Statue, die aber plötzlich auf dem Boden zerbrach … sie hatten ihn genau am Kopf getroffen, und er kippte um … nach hinten … wie eine Puppe … da hörten wir alle auf, wir blieben stehen, und auch diese Kerle hörten auf zu lachen und zu reden, eine schreckliche Stille, wir wußten nicht, was wir machen sollten, und Mormy lag da, auf dem Boden, er rührte sich nicht, kein bißchen. Da bin ich zurückgerannt, weil ich dachte, sie hätten ihn umgebracht, und so war es dann auch, diese Schweine hatten ihn umgebracht … Sein Kopf war zerschmettert, es kam Blut und noch was anderes raus, ich wollte was tun, aber man wußte ja nicht mal, wo man ihn anfassen sollte, nicht mal die Augen waren in diesem ganzen Brei zu finden, sonst hätte man ihm ins Gesicht sehen und ihm sagen können, daß er durchhalten soll, daß er es schon schaffen würde, aber sie waren nicht mehr da, die Augen, es war überhaupt nichts mehr da, man hatte nichts, womit man hätte sprechen können, also habe ich seine Hände genommen, was anderes ist mir nicht eingefallen, ich habe einfach seine Hände festgehalten, wie ein Idiot, und geweint wie ein Kind, ich weiß nicht, es war einfach schrecklich, noch dazu wegen so einem Blödsinn … warum ist er nicht weggerannt, wie? Was hat er denn gesehen, daß er wie angewurzelt stehenblieb und sich umbringen ließ? Was immer er da gesehen haben mag, ich weiß es nicht; er hat einen immer mit diesen verrückten Augen angesehen, er sah einen nicht an, wie alle andern es tun, er hatte so eine Art … kann es sein, daß ausgerechnet das ihn das Leben gekostet hat? Was hatte er vor Augen, daß er sich so umbringen ließ? Was zum Teufel hat er gesucht … was zum Teufel hat er gesucht …«

An einem Januarnachmittag acht Monate nach dem Fest des heiligen Laurentius brachten sie Mormy um. Mr. Rail war verreist, niemand wußte wohin. Jun war allein, als Mormy beerdigt wurde. Und sie blieb es noch viele Tage, bis endlich ein Päckchen bei ihr eintraf, auf dessen braunem Papier in schwarzer Schrift ihr Name stand. Sie schnitt die Schnur durch, die es zusammenhielt, und schob das braune Papier beiseite. Darunter war weißes Papier. Sie öffnete das weiße Papier, das ein rotes Papier umhüllte, das eine veilchenblaue Schachtel enthielt, in der sie ein gelbes Stoffkästchen fand. Sie öffnete es. Es lag ein Juwel darin.

Da rief Jun Brath zu sich und sagte: »Mr. Rail kommt zurück. Finde heraus, wann und wo er ankommen wird. Ich will ihm entgegengehen.«

»Aber das ist unmöglich, kein Mensch weiß, wo er hingefahren ist!«

»Bring mich zu ihm, Brath. So schnell du kannst.«

Zwei Tage später saß Jun auf dem Bahnhof einer Stadt, von der sie nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gab. Züge kamen an, Züge fuhren ab. Doch sie saß beharrlich da und schaute vor sich hin. Sie atmete ruhig, unter einem Schleier grenzenloser Geduld. Stunden vergingen. Dann kam ein Mann auf sie zu, der Mr. Rail war.

»Jun, was machst du denn hier?«

Sie stand auf. Sie schien um Jahre gealtert. Doch sie lächelte und sagte leise: »Verzeih mir, Dann. Aber ich muß dich etwas fragen.«

Brath stand ein paar Schritte weiter hinten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Du hast einmal gesagt, daß wir niemals sterben werden, wir beide. War das die Wahrheit?«

Die Züge kamen und gingen, wie verrückt. Und all die Menschen, die ein- und ausstiegen, jeder damit beschäftigt, an seiner Geschichte zu stricken, mit den Nadeln seines Lebens, eine verfluchte und schöne Arbeit, eine endlose Aufgabe.

»Es war die Wahrheit, Jun. Ich schwöre es dir.«

Als Mr. Rail nach Hause kam, fand er eine schreckliche Stille und einen ungebetenen Gast vor: Ingenieur Bonetti. Er redete viel, der Ingenieur, und kam dabei immer wieder auf zwei Wendungen zurück, die er offenbar für entscheidend hielt: »bedauerlicher Unfall« und »tadelnswerter Zahlungsrückstand«. Mr. Rail hörte ihm eine Weile zu, an der Tür, ohne ihn ins Haus zu bitten. Dann, als er endgültig davon überzeugt war, daß dieser Mann ihn anwiderte, unterbrach er ihn und sagte: »Ich möchte, daß Ihre Männer bis heute abend verschwunden sind. In einem Monat bekommen Sie Ihr Geld. Und jetzt gehen Sie!«

Verärgert brummte Ingenieur Bonetti etwas vor sich hin.

»Und noch etwas: An dem bewußten Tag waren ungefähr vierzig Männer da unten. Einer von ihnen hat einen Volltreffer gelandet oder hatte großes Pech. Sollten Sie ihn kennen, richten Sie ihm aus, daß ihm alle hier verziehen haben. Aber sagen Sie ihm auch folgendes: er wird dafür büßen. Es ist böse gelaufen, und er wird dafür büßen.«

»Ich kann Ihnen versichern, Mr. Rail, daß ich als Überbringer einer so brutalen Nachricht nie in Frage käme, denn wie ich Ihnen schon sagte, ist mir in keiner Weise bekannt, um wen es sich überhaupt …«

»Verschwinden Sie! Sie stinken zum Himmel!« Am folgenden Tag war die Baustelle menschenleer. Alle verschwunden. Neun Kilometer und vierhundertsieben Meter Schienen lagen vor Elisabeth. Reglos. Stumm. Sie hörten irgendwo in einer Wiese auf, mitten im Gras. Genau dort kam Mr. Rail an, nachdem er in aller Ruhe stundenlang allein durch einen feinen Regen gewandert war. Er setzte sich auf das letzte Gleisstück. Als er sich umschaute, gab es nichts als Wiesen und Hügel, alles ertränkt in diesem grauen Wasser, das von oben herabglitt. Wohin man sich auch wandte, alles sah verflucht eintönig aus. Nichts, was zu einem sprach oder einen ansah. Eine aufgeweichte Wüste, ohne Worte und ohne Ziele. Mr. Rail schaute sich unentwegt um, aber es war nicht daran zu denken, der Sache auf den Grund zu kommen. Er konnte es wirklich nicht verstehen. Nichts zu machen. Er konnte es wirklich nicht erkennen. Wo das Leben war.