Kapitel Fünfzehn

Am späten Nachmittag trommelte Vera das ganze Team zu einer Besprechung in der Einsatzzentrale zusammen. Jemand hatte Tee hingestellt und mit Zuckerguss überzogene Gebäckstückchen aus der Bäckerei gegenüber. In diesem Fall gab es so viel zu bedenken, dass sie den Überblick über den Stand der Ermittlungen nicht verlieren durfte. Einmal hatte man sie für die Police Gazette interviewt und gefragt, welches die wichtigste Eigenschaft einer guten Kommissarin sei. «Konzentration», hatte sie geantwortet. Wenn sie selbst die vielen möglichen Szenarien nicht im Kopf behielt, durfte sie von ihren Leuten erst recht nicht erwarten, dass sie das Geschehen in den Griff bekamen.

Holly hatte erst nicht kommen wollen, als Vera sie anrief. «Ich finde, ich sollte hierbleiben. Hannah ist echt am Boden, und wir haben einen richtig guten Draht zueinander gefunden.»

Doch Vera bestand darauf, dass sie kam. «Sie tun ihr keinen Gefallen, wenn Sie sie von sich abhängig machen. Ist zwar prima für Ihr Selbstbewusstsein, aber für Hannah ist es genau das Falsche. Außerdem müssen wir erfahren, was Sie aus ihr herausbekommen haben. Sie können ja später wieder zu ihr, wenn Sie unbedingt meinen, aber kümmern Sie sich um eine Polizeipsychologin, die Sie ab morgen ablöst. Die sind für so was ausgebildet, und Sie nicht.»

Also war Holly auch da. Zu ihren Füßen stand eine Tasche mit Sachen zum Übernachten, damit auch jeder sah, dass sie anderswo gebraucht wurde. Trotz der Ermahnung genoss sie es, sich unentbehrlich vorzukommen, das merkte Vera genau. Charlie war schon bei seinem zweiten Gebäckstück angekommen, an seiner Nase klebte Zuckerguss, und er hatte Krümel vorn auf dem Jackett. Und Ashworth runzelte die Stirn, während er seine Notizen durchging, er sah beinahe erwachsen aus. Vera war sich nicht sicher, ob die gewachsene familiäre Verantwortung ihm guttat. Er hatte seinen Sinn für Humor verloren, die Freude an seiner Arbeit. Sie hatte ihren Spielkameraden verloren.

«Okay», sagte sie und lenkte die Aufmerksamkeit ihres Teams auf sich. Sie stand, den dicken schwarzen Filzstift gezückt, vor der weißen Kunststofftafel. «Mal sehen, was Sie haben. Holly? Haben wir noch etwas über Jennys Privatleben rausgefunden? Soweit ich weiß, ist das Haus schon durchsucht worden. Gibt’s da was Neues?»

Holly strich sich das Haar aus dem Gesicht und tat so, als wäre ihr die Aufmerksamkeit unangenehm. «Hannah weiß nichts von einem neuen Freund. Sie sagt, in der Vergangenheit hat es ein paar Männer gegeben. Einer hat beim Nationalpark gearbeitet. Hannah zufolge war er ganz verrückt nach Jenny, aber die hat ihm vor etwa einem Jahr den Laufpass gegeben. Das hat Hannah überrascht. Sie dachte, ihre Mutter wäre auch verliebt. Seitdem weiß sie von keinem mehr.»

«Wissen Sie, wie der Mann heißt?» Vera war klar, dass Holly das wusste. Holly war ehrgeizig und hütete sich davor, Anlass zur Kritik zu geben.

«Sicher. Lawrence May. Alter: Ende vierzig. Geschieden. Keine Kinder. Sie sind zusammen spazieren gegangen und haben Vögel beobachtet.» Vera horchte auf: Vielleicht hatte Hector, ihr Vater, den Mann sogar gekannt. Auch Hector war ganz wild auf Vögel gewesen, vor allem darauf, sie zu töten und auszustopfen. Als sie sein Haus in den Bergen übernommen hatte, war die Kühltruhe voll mit toten Vögeln gewesen, die darauf warteten, dass er sich ihnen widmete. Als Präparator, der abseits der gesetzlichen Wege wandelte, hätte er May wohl als Feind betrachtet. Ein Hasenfuß, der Rotkelchen durchs Gefieder strich und nicht den Hauch einer Ahnung davon hatte, worum es beim Leben auf dem Lande eigentlich ging.

«Haben Sie schon mit ihm gesprochen?»

«Noch nicht.»

Natürlich nicht. Sie waren ja vollauf damit beschäftigt, Mutter Teresa für das Mädchen zu spielen.

«Machen Sie das morgen als Erstes.» Vera blickte auf den Teller mit dem Gebäck und sah, dass er leer war. Ihr Fehler. Sie hätte ihn nicht in Charlies Reichweite stehen lassen dürfen. «Sind unsere Leute bei der Durchsuchung von Jennys Haus und Büro auf irgendwas Interessantes gestoßen?»

«Im Haus haben sie ihren Laptop gefunden», sagte Holly. «Wenn sie noch Kontakt mit Lawrence May hatte, sind bestimmt E-Mails drauf. Sie hat einen elektronischen Kalender geführt, aber der betraf hauptsächlich die Arbeit. Die von der IT schauen sich den Rest gerade an.»

«Wir haben immer noch nicht ihre Handtasche gefunden», sagte Vera. «Eine Frau wie Jenny hatte mit Sicherheit eine Handtasche dabei. Wahrscheinlich auch eine Aktentasche. Holly, können Sie Hannah danach fragen? Sie weiß doch bestimmt, worin ihre Mutter ihren Krempel für gewöhnlich mit herumgetragen hat.»

Holly nickte, aber Vera sah genau, dass sie mit den Gedanken nicht bei diesem profanen Kleinkram war. Sie dachte immer noch darüber nach, wie sie das Mädchen trösten könnte.

«Ihrer besten Freundin zufolge gab es einen neuen Mann in ihrem Leben», sagte Vera. «Einen heimlichen Geliebten. Wenn sie wieder was mit May angefangen hätte, dann hätte sie doch keinen Grund gehabt, das geheim zu halten.»

«Außer sie wollte erst mal abwarten, wie es sich entwickelt, bevor sie es an die große Glocke hängt», warf Joe Ashworth ein. Manchmal dachte Vera, dass er ihre feminine Seite verkörperte. Er besaß das Mitgefühl und sie die Muskeln. Na ja, die Masse. An Muskeln, das musste sie zugeben, mangelte es ihr leider. «Sie wollte sich vielleicht nicht lächerlich machen, erst verkünden, dass sie wieder zusammen sind, und dann geht es wieder in die Brüche.»

«Die Freundin meint, dass der Neue vielleicht verheiratet ist», sagte Vera. «Das sollten wir im Hinterkopf behalten. Wir haben bislang kaum ein anderes Motiv.»

«Abgesehen vom Elias-Jones-Fall.» Charlie sprach mit vollem Mund. «Der hat jede Menge Hass und Wut ausgelöst.»

«Dann schauen wir uns den noch mal genauer an.» Vera schrieb den Namen des Kindes auf die Tafel. «Was wissen wir inzwischen darüber? Joe, Sie haben doch mit dieser Sozialarbeiterin gesprochen, die von den Zeitungen so angeprangert worden ist. Connie Masters. Glauben wir, dass sie ihre Chefin umgebracht hat?»

«Sie behauptet, nicht mal gewusst zu haben, dass Lister da im Dorf wohnt.»

«Und, glauben wir ihr?» Na los, Joe. Sag, was du denkst.

«Ja», sagte er, und sie hätte am liebsten gejubelt. Joe Ashworth bemühte sich immer so sehr um Neutralität, dass er ihr manchmal fast wie die Schweiz vorkam. «Das kann man erst mal nicht glauben – ein so kleiner Ort, und da sollen sie sich nicht irgendwann mal über den Weg gelaufen sein? Aber Masters wohnt erst seit ein paar Monaten da, und Lister war den ganzen Tag arbeiten. Und an den Abenden, wenn sie vielleicht mal im Ort unterwegs war, ist Connie Masters mit ihrer kleinen Tochter daheim.»

«Und sie haben nie was gemeinsam unternommen, als sie noch zusammen gearbeitet haben?» Holly genoss die Abende mit den Kollegen im Pub, wenn ein Fall abgeschlossen war. Sie ließ sich gern anhimmeln.

«Offenbar nicht. So hat Jenny nicht gearbeitet. Sie hat Arbeit und Privates lieber voneinander getrennt.»

«Kommt mir trotzdem ziemlich unwahrscheinlich vor», beharrte Holly.

«Die Chefin hat mich nach meiner Meinung gefragt, und die habe ich jetzt gesagt.» Joe und Holly funkelten einander an, zwei Musterschüler, die darum wetteiferten, Klassenbester zu werden.

«Haben wir Michael Morgan schon ausfindig gemacht?», fragte Vera. Die Rivalität zwischen den jüngeren Mitgliedern ihres Teams belustigte sie manchmal, aber jetzt musste sie dafür sorgen, dass sie an einem Strang zogen und sich konzentrierten. Als alle sie nun anschauten, als hätten sie nicht die leiseste Ahnung, von wem sie da überhaupt sprach, fügte sie barsch hinzu: «Den Freund von Mattie Jones. Den Mann, in den sie sich verliebt hat, den Mann, für den sie gemordet haben will. Den Mann, der für Elias Jones so was wie ein Stiefvater war. Alles, was ich bislang über ihn weiß, ist, dass er ein merkwürdiger Typ ist. Kann sein, dass ich mich da täusche, aber suchen wir nicht nach einem merkwürdigen Typen? Wissen wir, ob er immer noch Nadeln in Menschen sticht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Wenn er sich zum Akupunkteur hat ausbilden lassen, nehme ich doch mal an, dass er ein paar Grundkenntnisse in Anatomie haben muss. Die können ja ganz nützlich sein, wenn man vorhat, eine kräftige, gesunde Frau zu erdrosseln. Wir haben wahrscheinlich noch nicht überprüft, ob er irgendwie zum Willows gehört, oder?»

Sie war froh, dass alle recht belämmert dreinsahen, obwohl sie Matties Geliebten ebenso vergessen hatte wie ihre Leute. Auch sie hatte sich auf Jenny Listers Privatleben konzentriert.

«Das will ich morgen früh als Erstes auf dem Tisch haben», sagte sie. «Adresse, was und wo er zuletzt gearbeitet hat und einen Abgleich, ob er zum Willows gehört oder gehört hat. Aber nehmen Sie noch keinen Kontakt zu ihm auf. Erst müssen wir mehr über ihn wissen. Ich habe den Eindruck, dass das ein aalglatter Typ ist. Vielleicht fahre ich nach Durham und rede mit Mattie, bevor wir ihn uns vorknöpfen.»

«Da ist sie nicht.» Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Charlie überhaupt zuhörte, aber jetzt mischte er sich ein, ein breites Grinsen im Gesicht.

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Mattie Jones ist nicht im Knast von Durham.»

«Und wo ist sie dann?» Vera funkelte ihn an. Alle Frauen der Gegend, die zu lebenslänglich verurteilt waren, kamen in den Hochsicherheitstrakt von Durham. Und Vera konnte es nicht ausstehen, wenn ihr Team sie zum Narren hielt.

«Im Krankenhaus.» Jetzt war Charlie kleinlaut geworden. «Blinddarmentzündung. Sie ist vorgestern aufgenommen worden, ein Notfall. Hat sich irgendeine Infektion eingefangen und ist immer noch da.»

«Dann besorge ich wohl besser mal ein paar schöne Weintrauben. Sie freut sich bestimmt über Besuch.»

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Vera merkte plötzlich, wie müde sie alle waren. Sie ermittelten jetzt seit einem Tag, und schon gab es zu viele Informationen. Nichts an diesem Fall war einfach. Sie musste ihr Team mehr pushen und darauf achten, dass sie aufmerksam blieben. Vielleicht würden ihnen allen ja ein paar Bahnen im Schwimmbad oder ein paar Trainingseinheiten im Fitnessraum guttun. Beim Gedanken an Charlie auf einem Stepper musste sie grinsen.

«Das Willows», fuhr sie fort. «Was sagt uns das Willows?»

«Meiner Ansicht nach muss Lister vor halb zehn umgebracht worden sein», sagte Charlie.

«Der Gerichtsmediziner will sich da nicht so genau festlegen.»

«Mir doch egal», sagte er. «Ab halb zehn gibt’s ermäßigte Tarife, und da kommen dann die ganzen Tattergreise und schnuckeligen jungen Mütter. Die stehen mindestens ebenso lang am Beckenrand rum und schnattern, wie sie schwimmen. Die meisten von den älteren Herrschaften sind ohne ihre Brillen im Pool blind wie die Maulwürfe, weshalb es ja auch so lang gedauert hat, bis jemand gemerkt hat, dass die junge Frau tot ist, aber das dürfte der Mörder nicht gewusst haben. Vor halb zehn ist die arbeitende Bevölkerung da, auf ein paar schnelle Bahnen vor dem Büro. Joe zufolge hat da auch noch kein Bademeister Dienst. Ich habe mit den Angestellten geredet. Von denen, die in der Früh zum Schwimmen kommen, geht kaum einer ins Dampfbad. Die haben es eilig.»

«Das klingt plausibel», gab Vera zu. Dann und wann musste man Charlie ein kleines Lob hinwerfen, um ihn bei der Stange zu halten.

«Es hat ein paar Bagatelldiebstähle gegeben.» Das war Ashworth, der die Besprechung zu einem Ende bringen wollte. Vera sah, wie er einen Blick auf die Uhr an der Wand warf. Seine Madame machte ihm das Leben immer schwer, wenn er nicht rechtzeitig zu Hause war, um die Kinder vor dem Zubettgehen noch zu sehen. «Das könnte ein Motiv sein, falls Lister einen von ihnen beim Stehlen erwischt hat.»

«Wer ist der Hauptverdächtige?»

«Die Angestellten geben Lisa die Schuld, der Kleinen aus dem Westend, aber der stellvertretende Geschäftsführer meint, dass sie bloß ein Sündenbock ist. Ich würde auf Danny wetten, den Studenten. Das mit den Diebstählen ist erst losgegangen, als er den Aushilfsjob bekommen hat, und er ist ein arroganter kleiner Dreckskerl. Der Typ, der denkt, dass er mit so was davonkommen wird. Sein Chef meint, dass er seine zukünftige Karriere nicht wegen ein paar wertlosen Sachen aufs Spiel setzen würde, aber ich bin mir da nicht so sicher. Er lebt gern gefährlich.»

Vera hatte auf einmal Durst auf Alkohol. Ein Bier, dachte sie. In der Speisekammer zu Hause standen noch ein paar Büchsen Speckled Hen. Wenn er sich gut benahm, würde sie Joe Ashworth vielleicht sogar eine abgeben. Ihr Haus lag auf seinem Heimweg. Fast jedenfalls.

«Soweit ich das sehe, müssen wir auf drei verschiedenen Gebieten ermitteln», sagte sie abrupt. «Erstens, Jenny Listers Privatleben. Wir müssen ihren geheimnisvollen Geliebten finden. Warum wollte sie ihn um jeden Preis geheim halten? Wenn er verheiratet ist, müssen wir uns vielleicht eine eifersüchtige Ehefrau vornehmen. Dann ist da der Fall Elias Jones. Ist er von Bedeutung für die jetzigen Ermittlungen? Wenn ja, inwiefern? Und schließlich die Diebstähle im Willows. Sieht nicht nach einem überragenden Motiv aus, aber die Leute haben schon für weniger gemordet.»

Das Klischee ließ sie zusammenzucken, aber ihr Team war mit diesem Resümee offenbar zufrieden. Sie wären mit allem zufrieden gewesen. Das ganze Gerede langweilte sie auf einmal, und sie wollten bloß noch raus aus dem Zimmer.

 

Ashworth ließ sich leichter dazu überreden, noch auf ein Bier mit zu ihr zu kommen, als sie erwartet hätte. Vielleicht kam er ja lieber erst nach Hause, wenn die Tumulte im Bad und beim Zubettgehen vorüber waren, wenn das Haus still war und er seine Frau für sich hatte. Joe hielt sich gern für den perfekten Familienvater, und sie gönnte den Menschen ihre kleinen Selbsttäuschungen ja auch.

Der Abend war ruhig, es dämmerte gerade, als sie an Veras Haus eintrafen. Sie stieg aus dem Wagen und roch den Ginster und das feuchte Laub und die Kühe. Wenn Hector ihr auch sonst nicht viel mitgegeben hatte, dieses Haus hier hatte er ihr gegeben, und dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Mitten in dem ganzen Gerede über Eltern und Kindererziehung hatte sie vorhin plötzlich an ihn gedacht und auf einmal begriffen, dass sie in ihm einen bequemen Sündenbock gefunden hatte. Sie gab ihm die Schuld an allem, was in ihrem Leben schieflief, und das war womöglich nicht ganz gerecht. Hector mochte an den meisten Dingen schuld sein, aber gewiss nicht an allen.

Sie zündete die Holzscheite an, die schon im Kamin bereitlagen, nicht, weil es besonders kalt gewesen wäre, sondern weil eine heillose Unordnung bei ihr herrschte und sie so zumindest etwas hatten, was sie betrachten konnten. Und weil sie wusste, dass Joe Kaminfeuer mochte. Ihre Nachbarn hatten bei einem Kerl an der Grenze zu Schottland ein halbes Lamm gegen eine Ladung Brennholz eingetauscht und ihr davon etwas geschenkt; eines Abends war sie nach Hause gekommen und hatte das Holz säuberlich aufgestapelt vor dem kleinen Schuppen hinter dem Haus gefunden. Das Pärchen war immer gut für solche freundlichen Gesten, und sie war froh, dass es sie gab, ertrug ohne Murren die Sonnwendfeiern, bei denen Dutzende der seltsamsten Leute auf dem Feld vor ihrem Haus campten, und wenn sie Dope rauchten, stellte sie sich blind – sogar wenn es aus Gedankenlosigkeit bei ihr im Haus geschah.

Vera ließ die Vorhänge offen, holte das Bier aus der Küche und legte einen Laib Brot und ein Stück Käse auf ein Brett. Sie setzten sich auf die beiden kleinen Stühle und streckten die Füße dem Feuer entgegen. Vera dachte, dass sie dem Glück nie näher kommen würde als in solchen Momenten.

Ashworth unterbrach ihre Gedanken. «Was halten Sie von der Verbindung zu dem Elias-Jones-Fall? Hat das was zu bedeuten oder lenkt es uns bloß vom Eigentlichen ab?»

Sie überlegte einen Augenblick, spürte dem metallischen Geschmack des Biers und der Blechbüchse auf der Zunge nach. «Wichtig ist es auf jeden Fall», sagte sie. «Ich meine, auch wenn es kein unmittelbares Mordmotiv liefert. Weil es uns eine Menge über Jenny Lister mitteilt.»

«Nämlich?»

«Sie war tüchtig, organisiert. Kontrollsüchtig. Wollte Arbeit und Privates nicht miteinander vermischen. Sie hatte Prinzipien. Prinzipien machen einen nicht immer beliebt. Wenn sie jemanden bei etwas erwischt hätte, was sie für falsch hielt, hätte sie niemals Stillschweigen bewahrt.»

«Denken Sie dabei an die Diebstähle im Willows?»

Vera nahm sich Zeit, um das zu erwägen. «Kann sein, auch wenn es wie eine Bagatelle aussieht. Ich denke aber mehr an etwas, was im Dorf vor sich ging.» Sie grübelte über Veronica Eliot nach, das makellose Haus und die Vorzeigefamilie. Nichts im Leben war je so vollkommen – was also ging da unter der Oberfläche tatsächlich vor?

Ashworth sah auf seine Armbanduhr.

«Ist schon gut, Joe», sagte sie milde. «Sie können jetzt unbesorgt nach Hause fahren. Die Blagen sind bestimmt schon im Bett. Eisen Sie Holly morgen mal von Jennys Tochter los und schauen Sie, ob einer von Ihnen beiden diesen geheimnisvollen Liebhaber aufspüren kann. In einem Dorf von der Größe weiß doch sicher irgendwer was. Vielleicht hat jemand ein fremdes Auto gesehen oder ist den beiden in Hexham über den Weg gelaufen.»

Er stand auf. Sein Gesicht war vom Feuer ganz rot. Oder womöglich hatte ihr Seitenhieb mit den Kindern ja einen wunden Punkt berührt. «Und was haben Sie vor?»

Sie rührte sich nicht. Er fand schon allein hinaus. «Wie ich bereits sagte, ich werde einen Besuch im Krankenhaus machen.»