Kapitel Acht
Entgegen Veras Vermutung war Ashworth noch nicht auf dem Heimweg. Er stand im Dampfbad neben Keating, dem Gerichtsmediziner, und sah auf Jenny Listers Leiche hinunter. Der Arzt kam aus Ulster, spielte Rugby und war normalerweise ein Freund knapper, klarer Worte. Doch heute war er in Plauderlaune, und offenbar kannte er das Hotel von früher. «Wir haben uns das Willows angeschaut, als wir was für die Hochzeit von meiner Tochter gesucht haben. Die Außenanlagen sind ja wirklich herrlich, aber drinnen …» Er hielt inne, als er das Opfer betrachtete. «… ganz schön traurig, finden Sie nicht auch? Heutzutage kann man ein Hotel von dieser Größe einfach nicht mehr aufrechterhalten.»
«Die Chefin meint, sie ist erdrosselt worden», sagte Ashworth. Im Büro der Geschäftsführerin wartete Danny Shaw, und er wollte nicht, dass der Bursche die Geduld verlor und ging. Für Small Talk hatte er keine Zeit.
«Ich würde mal sagen, da hat die Chefin wohl recht. Allerdings nicht mit bloßen Händen. Sehen Sie sich mal den Abdruck hier an. Eine dünne Schnur oder ein Draht. Eine Schnur ist wahrscheinlicher, weil die Haut nicht durchschnitten worden ist.»
«Ist sie hier umgebracht worden, oder hat man sie nach dem Tod noch bewegt?» Ashworth wusste, auf welche Fragen Vera eine Antwort haben wollte.
«Hier, würde ich sagen, aber da müssen wir natürlich die Obduktion abwarten.»
«Danke. Kann ich Sie hier allein lassen? Ich bin immer noch dabei, die mutmaßlichen Zeugen zu befragen.»
Keating hatte die leise Klage aus Ashworths Stimme herausgehört. «Wo ist denn unsere bezaubernde Vera?»
«Die ist losgefahren, um die nächsten Angehörigen zu informieren.»
«Sehen Sie’s ihr nach, Joe. Sie ist die beste Ermittlerin, mit der ich je zusammengearbeitet habe.»
Ashworth war peinlich berührt. Er wollte nicht, dass Keating ihn für illoyal hielt. «Ich weiß.»
Danny Shaw saß im Büro der Geschäftsführerin. Ashworth sah durch das Fenster in der Tür, wie er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und mit dem Kopf im Takt der Musik aus seinem iPod nickte. Aber etwas an der Art, wie der Junge sich bewegte, ließ Ashworth den Eindruck gewinnen, dass das eine Pose war. Der Junge war zu verkrampft und bei weitem nicht so cool und entspannt, wie er vorgab. Er trug schwarze Springerstiefel und ein weites schwarzes T-Shirt und sah für Ashworth aus wie der klassische Student. Als die Tür aufging, nahm Danny die Ohrstöpsel heraus und richtete sich auf, erhob sich mit einer respektvollen Geste halb vom Stuhl. Ganz schön höflich, das musste Ashworth ihm lassen. Im Allgemeinen hatte er nicht viel übrig für Studenten. Vielleicht war es Neid; er hätte auch nichts dagegen gehabt, drei Jahre rumzusitzen und Bücher zu lesen. Dann fiel ihm ein, was Lisa über Danny gesagt hatte: Er erzählt einem, was man hören will.
«Tut mir leid, dass Sie warten mussten», sagte Ashworth. «Aber Ihre Mum hat Ihnen sicher gesagt, dass ich gleich komme.»
Der Junge sah verwirrt drein. Dann war es ja vielleicht doch nicht Danny gewesen, mit dem Karen, nachdem Joe sie in der Bar befragt hatte, auf dem Hotelparkplatz so eindringlich telefoniert hatte.
«Haben Sie Jenny Lister gekannt, die Tote?» Am besten, er kam gleich zur Sache, dachte Ashworth. Seine Frau würde ihn umbringen, wenn es richtig spät würde. Sarah konnte nicht einschlafen, solange er nicht da war, und das Baby wachte nachts um eins immer auf, zuverlässig wie ein Uhrwerk, und dann noch mal um fünf, außer sie hatten Glück.
«Auf die Mitglieder lassen die mich hier nicht los.» Danny lachte. «Ich putze hier nur.»
Ashworth legte ein vergrößertes Foto des Opfers auf den Tisch. «Aber vielleicht haben Sie sie hier mal gesehen.»
Danny sah auf das Bild hinab und zögerte einen Augenblick. «Tut mir leid», sagte er. «Ich kann Ihnen da nicht helfen.»
«Erzählen Sie mir, wie Ihr Job so abläuft», sagte Ashworth. «Beschreiben Sie mir eine ganz normale Schicht.»
«Ich bin in der Spätschicht. Fange um vier Uhr nachmittags an. Zuerst unten in den Männerumkleiden. Um die Zeit ist jede Menge los, die Leute kommen direkt von der Arbeit, deshalb muss man alles sauber und ordentlich halten, die Böden wischen, wo die Leute aus dem Pool kommen, und in den Toiletten und Duschen nachsehen. Wenn der Club um zehn schließt, mache ich den Bereich ums Schwimmbecken sauber und den Fitnessraum.» Er ließ durchblicken, dass der Job unter seiner Würde war.
«Und gestern Abend haben Sie das genauso gemacht?»
«Ja, genauso wie immer.»
«Und im Dampfbad und in der Sauna haben Sie auch nachgesehen?» Das musste Ashworth fragen, obwohl Vera ihn nach ihrem Gespräch mit Jennys Tochter angerufen hatte. Sie wussten jetzt, dass Jenny an diesem Morgen noch gelebt und gefrühstückt hatte; es war ausgeschlossen, dass ihre Leiche die Nacht über im Dampfbad gelegen hatte.
«Natürlich.» Er lächelte herausfordernd, wollte, dass Ashworth offen anzweifelte, dass er seinen Job ernst nahm. Ashworth beschloss, da nicht mitzuspielen.
«Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen?»
«Zum Beispiel?»
«Keine Ahnung.» Ashworth versuchte, die Geduld zu bewahren. «Anzeichen eines Einbruchs vielleicht oder dass jemand da war.»
«Sie glauben, der Mörder könnte schon letzte Nacht hier reingekommen sein?»
«Derzeit haben wir noch keine genaueren Vermutungen. Wir gehen allen Möglichkeiten nach.»
Wieder war es einen Augenblick still. Wenigstens schien Danny die Frage jetzt ernst zu nehmen. «Ich bin mir ganz sicher, dass ich niemanden gesehen habe. Ich meine, dann hätte ich doch den Sicherheitsdienst gerufen. An den Wochenenden richtet das Hotel dauernd Hochzeiten aus und Konferenzen. Spätnachts gibt es da immer mal Besoffene, die es total lustig finden, nackt baden zu gehen, wenn keiner mehr da ist. Einmal habe ich vor dem Zusperren ein paar junge Kerle erwischt, die sich in den Duschen versteckt haben, aber wir machen immer noch einen letzten Rundgang, ob auch wirklich alles leer ist. Gestern Abend war nichts zu sehen.»
«Können Sie mir die Umkleideräume zeigen?» Ashworth konnte sich nicht recht vorstellen, wie es in den Umkleiden und hinter den Kulissen eines so vornehmen Fitness-Clubs aussah. Er wusste, dass Vera schon da gewesen war, um den Ausweis des Opfers zu suchen, aber es schadete schließlich nicht, wenn er auch einen Blick hineinwarf.
«Na klar.» Der Junge sprang auf, offenbar froh, dem Verhör zu entkommen. Nachdem er sich auf dem Stuhl so herumgelümmelt hatte, war Ashworth nun erstaunt, wie groß er war. Jetzt, wo er stand, hatte er sich in einen hochaufgeschossenen, schlaksigen Riesen verwandelt.
Ashworth folgte ihm in die Umkleideräume der Damen. Es roch nach Chlor aus dem Schwimmbad und entfernt nach Kosmetika. Die Wand entlang zogen sich Nischen mit Schließfächern, dazwischen und unter den Fächern standen Holzbänke. Der gekachelte Fußboden war sauber und trocken. Einen Moment lang sehnte er sich danach, dieser künstlichen, antiseptischen Atmosphäre zu entkommen. Seit Vera ihn gegen Mittag herbeizitiert hatte, war er nicht mehr an der frischen Luft gewesen.
«Haben hier auch die Diebstähle stattgefunden?»
«Was für Diebstähle?»
«Willst du mich verarschen, Kleiner?» In der Regel vermied er es, während der Arbeit – und auch privat – so zu reden, aber irgendwas an dem Jungen ging ihm auf die Nerven. «Ich habe gehört, dass jemand Sachen aus den Umkleideräumen gestohlen hat.»
«Ach das. Ich glaube nicht, dass da wirklich viel geklaut worden ist. Die meisten Mitglieder hier sind doch ziemlich alt. Sie vergessen, wo sie was hingelegt haben, und denken dann, jemand hat es gestohlen.»
«Und was ist mit den Sachen, die aus dem Pausenraum für die Angestellten verschwunden sind? Halten Sie das auch für altersbedingte Demenz?»
«Davon weiß ich nichts.» Danny hatte es aufgegeben, nett und höflich zu tun, und sah jetzt aus wie ein bockiger Teenager. «Im Pausenraum bin ich nur selten. Mieser Kaffee und miese Gesellschaft.»
Ashworth schüttelte den Kopf und ließ den Jungen gehen.
Die Kollegen von der Spurensicherung konnte er nicht dazu bewegen, ihn bei der Suche nach Jenny Listers Wagen zu begleiten. Sie hätten Besseres zu tun, ließen sie durchblicken, als im Dunkeln mit ihm über den Parkplatz zu laufen. Er könne sie dann ja rufen, und sie würden kommen und den Wagen versiegeln.
Der Himmel draußen war noch immer wolkenlos, und der Mond beschien die Nebelschwaden auf dem Fluss. Es gab vereinzelte Parkplätze direkt beim Hotel und einen größeren, hinter Bäumen verborgenen Parkplatz, der näher am Eingangstor lag. Ashworth ging an der Reihe Autos vor dem Hotel vorbei und drückte auf die Fernbedienung des Schlüssels, den Vera ihm gegeben hatte. Nichts. In der Jackentasche hatte er eine kleine Taschenlampe und verspürte einen albernen Stolz, so gut vorbereitet zu sein. Auf dem großen Parkplatz war es stockfinster. Das Licht vom Hotel drang bis hierher nicht durch, und den Mond verdeckten die Bäume. Wieder ging er an den vereinzelt herumstehenden Autos vorbei und drückte auf die Fernbedienung, wobei er dachte, dass Jenny ja vielleicht mit jemandem mitgefahren und das hier reine Zeitverschwendung war, als er plötzlich ein Klicken hörte, Scheinwerfer aufleuchteten und er vor Jennys Wagen stand.
Es war ein VW Polo, klein, aber noch ganz neu. Ashworth leuchtete mit der Taschenlampe durch die Fenster. Keine Handtasche, weder auf den Vorder- noch auf den Rücksitzen, noch, soweit er das sehen konnte, im Fußraum. Er zog sein Taschentuch hervor und öffnete damit den Kofferraum. Lieber stellte er sich den wütenden Kollegen von der Spurensicherung als dem heiligen Zorn Veras. Auch hier keine Handtasche. Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte.
Als er zum Hotel zurückging, um den Leuten von der Spurensicherung zu sagen, welches Jennys Wagen war, klingelte sein Handy: seine Frau, die ihn fragte, ob er vorhabe, die ganze Nacht wegzubleiben.
Er war gerade zu Hause in die Einfahrt eingebogen, als sein Handy wieder klingelte. Diesmal war es Vera Stanhope. Er blieb im Auto sitzen, um den Anruf entgegenzunehmen. Sarah hatte zwar bestimmt seinen Wagen gehört, aber sie mochte es nicht, wenn im Haus über die Arbeit gesprochen wurde.
«Ja?» Hoffentlich klang er so müde, wie er sich fühlte. Er würde es ihr durchaus zutrauen, ihn noch einmal loszuschicken.
Ihre Stimme war laut. Sie hatte noch nie richtig mit Handys umgehen können und brüllte immer hinein. Außerdem klang sie, als hätte sie gerade ein erholsames Nickerchen gehalten. Das lag an dem Fall. Morde belebten sie auf die gleiche Weise, wie sie die Rentner aus dem Häuschen brachten, die er den ganzen Nachmittag lang befragt hatte. Einmal, nach ein paar Gläsern Famous Grouse zu viel, hatte Vera ihm gesagt, dass genau solche Fälle ihr Lebenselixier seien.
«Connie Masters», brüllte sie. «Sagt Ihnen der Name was?»
Er kam ihm entfernt bekannt vor, aber Ashworth wusste nichts Genaueres, nichts, womit er sie hätte zufriedenstellen können, und ihm war klar, dass er, nachdem er mit seiner Frau gesprochen und sich angehört hätte, was sie den Tag über so getan hatte, den größten Teil der Nacht aufbleiben und mit dem Laptop auf dem Schoß Nachforschungen für die andere Frau in seinem Leben anstellen würde.