Kapitel Sechzehn
Mattie lag in einem Seitenflügel des Krankenhauses; in der Zimmerecke saß eine Wärterin aus dem Gefängnis mit einem Stapel Zeitschriften auf dem Schoß und einer Tüte Schokokugeln in der Hand. Gütiger Himmel, dachte Vera. Ich wette, die Frau kann ihr Glück kaum fassen. Eine Auszeit vom Knast! Die Wärterin war recht jung, dunkelblond und hatte einen gewaltigen Busen, über dem sich die weiße Uniformbluse an den Knöpfen spannte. Sie wirkte gutmütig, so als würde sie abends gern mal einen draufmachen und mit Vergnügen ein paar Tage auf ihrem Allerwertesten verbringen, wenn sie nur ausreichend Klatschmagazine und Schokolade hatte.
«Hallöchen!» Und freundlich war sie auch. Das gefiel Vera. Was auch immer Mattie getan hatte, Vera wollte nicht denken müssen, dass sie verängstigt und von allen verlassen im Krankenhaus lag. «Die Schwester hat mir schon gesagt, dass Sie kommen. Ich verdünnisiere mich dann am besten mal, damit Sie miteinander reden können, ja? Um ehrlich zu sein, ich brauche dringend eine Kippe.» Sie blickte Vera forschend an, legte die Zeitschriften aber auf den Stuhl und verschwand. Ihre Nikotinsucht war stärker als die Neugier.
Vera zog sich einen Stuhl näher ans Krankenbett. Die Frau sah sehr jung aus. Auf dem Schränkchen neben dem Bett lag ein Fächer, und trotzdem war ihr Gesicht gerötet und fiebrig. «Ihre Temperatur ist immer noch zu hoch», hatte die Schwester gesagt. «Sie hat die ganze Nacht Halluzinationen gehabt. Aber seit heute Morgen scheinen die Antibiotika zu wirken.»
«Was für Halluzinationen?» Das kam bestimmt vom Fieber, dachte Vera. Aber es konnten auch Schuldgefühle sein oder Angst. Nichts bescherte einem zuverlässiger Albträume als Schuldgefühle.
«Ach, Monster und böse Geister. Das Übliche.» Und die Schwester hatte gelacht. Das war für sie nichts Neues.
Jetzt schien Mattie zu dösen. Vera sprach sie mit Namen an, und Mattie schlug die Augen auf, blinzelte verwirrt.
«Wo ist Sal?»
«Ist das die Gefängniswärterin?»
Mattie nickte.
«Die ist eine rauchen gegangen. Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden. Ich heiße Vera Stanhope.»
«Sind Sie Ärztin?» Sie hatte auch die Stimme eines kleinen Mädchens. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie alt genug war, um Mutter eines Schulkindes zu sein.
Vera lachte. «Aber nein, Herzchen. Ich bin von der Polente.»
Mattie schloss die Augen wieder, wie um Vera von sich fernzuhalten und lieber weiter von Monstern und bösen Geistern zu träumen.
«Ich bin nicht hier, um Ihnen Ärger zu machen», sagte Vera. «Ich brauche nur ein paar Informationen, würde gern mit Ihnen reden. Ich glaube, Sie können mir helfen.»
Mattie sah sie an. «Ich habe der Polizei schon damals alles gesagt.»
«Das weiß ich doch.» Vera schwieg kurz. «Haben Sie in letzter Zeit mal Nachrichten gesehen?» An der Wand war ein Fernseher befestigt, aber der lief nur mit Münzen; das Gesundheitssystem versuchte an Geld zu kommen, wo es nur konnte.
Mattie folgte ihrem Blick. «Sal hat ihn für mich angemacht. Und sie hat auch bezahlt. Aber Nachrichten haben wir nicht geschaut.»
Natürlich nicht, dachte Vera. Mattie sah bestimmt gern die Zeichentrickfilme, und Sal Britain’s Next Top Model und Wife Swap.
«Jenny Lister ist tot», sagte Vera. «Erinnern Sie sich an Jenny?»
Mattie nickte. Ihre Augen sahen riesig aus. «Sie hat mich im Gefängnis besucht.» Eine Träne lief ihr das Gesicht hinunter. «Was ist denn passiert?»
«Sie ist ermordet worden.»
«Wieso sind Sie hier?» Jetzt war Mattie hellwach, sie versuchte sogar, sich ein wenig aufzusetzen. «Das hat nichts mit mir zu tun.»
«Sie haben sie gekannt», sagte Vera. «Ich rede mit den Leuten, die sie gekannt haben. Mehr nicht.»
«Mir können Sie nicht die Schuld daran geben.» Die Worte kamen jetzt hysterisch heraus und so laut, dass Vera sich Sorgen machte, das Personal im Schwesternzimmer könnte auf sie aufmerksam werden. «Ich war eingesperrt. Ich hätte gar nicht rausgekonnt, selbst wenn ich gewollt hätte.» Und Vera erkannte, dass Mattie das wahrscheinlich sowieso nicht wollte. Im Gefängnis fühlte sie sich sicher, war vielleicht sogar von den anderen abgetrennt, in einem Flügel für psychisch labile Straftäterinnen, wo sie sich an freundliche Wärterinnen wie Sal und den täglichen Trott aus Unterricht und Mahlzeiten halten konnte. Abgesehen davon wusste Mattie ja nicht einmal, wann Jenny ums Leben gekommen war. Denn als es passierte, war sie im Krankenhaus gewesen und nicht im Gefängnis.
«Niemand gibt Ihnen die Schuld», sagte Vera. «Ich brauche Ihre Hilfe. Deswegen bin ich hier.»
Mattie sah verwirrt aus. Der Gedanke, jemand könnte ihre Hilfe brauchen, war ihr offenbar fremd. Sie war doch immer diejenige gewesen, die Hilfe brauchte.
«Ich habe Jenny gemocht. Ich wünschte, sie wäre noch am Leben.» Sie hielt kurz inne, dann stieß sie einen Klagelaut aus, wie in einem Ausbruch von Selbstmitleid. «Sie wird mir fehlen. Wer kommt mich denn jetzt noch besuchen?»
«Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?»
«Letzten Donnerstag.» Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
«Sind Sie sicher?» Vera hätte einen nicht näher bestimmten Tag in der Vergangenheit erwartet.
«Sie ist immer am Donnerstag gekommen.»
«Jede Woche?» Vera war überrascht. Für eine vielbeschäftigte Frau ging das mit Sicherheit weit über die normale Pflichterfüllung hinaus.
«Immer donnerstags. Am Nachmittag.»
«Und worüber haben Sie letzten Donnerstagnachmittag gesprochen?» Eine tolle Unterhaltung kann das kaum gewesen sein, dachte Vera. Was auch immer Jenny Woche für Woche in das Gefängnis von Durham gezogen hatte, das geistreiche Gespräch war es sicher nicht gewesen. Waren es Schuldgefühle? Hatte die Sozialarbeiterin sich die Schuld am Tod des Jungen und an Matties Verurteilung gegeben?
«Über das Gleiche wie immer», sagte Mattie.
«Und das war?» Vera merkte, wie ihr Mitgefühl an Grenzen stieß. Am liebsten hätte sie die junge Frau geschüttelt, ihr gesagt, sie solle sich am Riemen reißen, sie, Vera, müsse einen Mörder finden. Nächstes Mal, dachte sie, würde sie Joe Ashworth schicken, um mit Mattie Jones zu reden. Auch wenn es Vera in all den Jahren gelungen war, ihn ein bisschen abzuhärten, war er doch immer noch ein Weichei.
«Über mich», sagte Mattie mit einem Anflug von Stolz. «Über meine Kindheit und das alles.»
«Also eine Art Therapiesitzung?» Vera fragte sich, wozu das hatte gut sein sollen. Die Frau hier saß im Gefängnis. In der näheren Zukunft würde sie niemanden mehr umbringen. Warum hatte sich Jenny Lister ihre Fähigkeiten, in den Köpfen anderer Leute herumzustöbern, nicht für diejenigen ihrer Schützlinge aufgespart, die davon noch profitierten?
Mattie sah konfus drein. Die Idee einer Therapie war ihr offenbar völlig fremd. «Das war doch für ihr Buch», sagte sie.
«Was für ein Buch?»
«Mrs Lister hat ein Buch über mich geschrieben.» Die Frau lächelte, wie ein Kind, dem man aus heiterem Himmel einen Lutscher geschenkt hatte. «Auf dem Umschlag sollte ein Foto von mir sein und all so was.»
Vor der Tür tauchte die Wärterin wieder auf. Selbst von ihrem Stuhl aus konnte Vera den Rauch riechen, der sie einhüllte. Sie hatte einen Pappbecher Kaffee und eine Dose Cola dabei. «Alles okay da drinnen?», fragte sie munter. Sie stellte die Cola neben den Fächer auf das Bettschränkchen. Noch so eine freundliche Geste, von der Vera diesmal aber keine Notiz nahm.
«Haben Sie davon gewusst?»
«Wovon?» Die Wärterin ging sofort in Verteidigungshaltung, und Vera mäßigte ihre Stimme.
«Dass Matties Sozialarbeiterin vorhatte, ein Buch über sie zu schreiben, über den Elias-Jones-Fall?»
Die Wärterin schüttelte den Kopf. «Die Sozialarbeiterin hat Mattie regelmäßig besucht. Das fanden wir alle wahnsinnig nett, es kam ja sonst niemand zu Besuch.»
Vera drehte sich wieder zu der Patientin um, die sich die Coladose geangelt hatte und gerade die Lasche aufriss.
«Michael hat Sie also nie besucht?», fragte sie. «Von ihm haben Sie im Gefängnis keinen Besuch bekommen?»
Einen Moment lang war Mattie wie erstarrt, die Coladose schwebte auf halbem Weg zu ihrem Mund. Dann schüttelte sie den Kopf.
«Haben Sie ihn gebeten, zu kommen? Haben Sie mit ihm telefoniert? Arbeitet er noch da, wo er früher gearbeitet hat?»
Zu viele Fragen, das erkannte Vera sofort. Mattie konnte das nicht alles auf einmal verarbeiten. Vera wollte gerade von vorn anfangen, langsamer, da antwortete die junge Frau, wobei sie sich in ihrem Bett wand.
«Er hat gesagt, er hat eine neue Freundin. Sie kriegt ein Kind von ihm. Er hat gesagt, ich soll ihn nicht noch mal belästigen.»
«Haben Sie Mrs Lister davon erzählt?» Vera beugte sich vor. Wenn die Situation es erforderte, konnte sie durchaus die Freundliche, Mütterliche spielen. Und hier hatten sie ein mögliches Motiv. Da Michael Morgan demnächst Vater wurde, wollte sich das Sozialamt vielleicht einschalten. Vielleicht glaubten sie, das Kind sei in Gefahr.
«Ich war total wütend», sagte Mattie. «Ich habe meine Telefonkarte hergenommen, um mit ihm zu sprechen, und da sagt er mir das mit dem Baby. Meinen Jungen hat er nicht leiden können, und mir hat er gesagt, dass er nie ein Kind mit mir will, aber mit seiner Neuen hat er eins gemacht. Das ist doch unfair. An dem Nachmittag ist Mrs Lister gekommen, und ich habe angefangen zu weinen und ihr alles erzählt.»
«Wann war das?», fragte Vera. «Wie lang ist das her, Mattie?»
Mattie schüttelte den Kopf. «Nicht lang», sagte sie.
«War das beim letzten Besuch von Mrs Lister? Beim vorletzten?»
Aber das wusste Mattie nicht zu sagen. Sie weinte jetzt leise vor sich hin, diesmal nicht um die ermordete Sozialarbeiterin, sondern um sich selbst, weil der Mann, den sie zu lieben geglaubt hatte, sie im Stich gelassen hatte.
Sal trat von einem Fuß auf den anderen, sie wollte die Frau in ihrer Obhut beschützen, aber sie wollte auch helfen. «Mattie hat es sich sehr zu Herzen genommen, als der erste Todestag von Elias bevorstand», sagte sie. «Da hat sie wieder Kontakt zu Morgan aufgenommen. Ich glaube, ein paar von den anderen Frauen haben irgendwas über den Fall in den Lokalnachrichten gesehen und sie sich dann vorgeknöpft.»
Vera strahlte sie an. «Danke, Herzchen.» Sie wandte sich vom Bett ab und senkte die Stimme. «Wenn Mattie noch irgendwas in Zusammenhang mit der Sozialarbeiterin erwähnt, dann geben Sie mir Bescheid. Ich muss Jennys Mörder finden.» Sie fischte eine Visitenkarte aus der baumwollenen Einkaufstasche von Sainsbury, die ihr als Aktentasche diente, und kritzelte die Nummer ihres Handys auf die Rückseite. «Jenny Lister war ein guter Mensch.»
Aber als sie den breiten, blankgewischten Korridor des brandneuen Krankenhauses hinunterging, fragte sie sich, ob das wirklich stimmte. Wenn Jenny Lister tatsächlich vorgehabt hatte, ein Buch über den Elias-Jones-Fall zu schreiben, hätte sie das Vertrauen ihres Schützlings für ihre eigenen Interessen missbraucht. Solche Bücher über wahre Verbrechen und berühmte Morde verkauften sich zu Tausenden, und ein Buch von einer Sozialarbeiterin, die mit dem Fall befasst gewesen war, würde gewaltige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jenny Lister wäre reich geworden. Und das schien nicht recht zu dieser Frau zu passen, die Vera langsam zu kennen geglaubt hatte. Aber warum sollte Mattie sich so was ausdenken?
Vera fuhr in hohem Tempo über die A1 und rief Holly an, sobald sie in die Ausfahrt nach Hexham gebogen war. «Sind Sie noch bei den Listers?»
«Ja.» Nur dieses eine Wort, aber Vera merkte sofort, dass Holly eingeschnappt und auf der Hut war. Ashworth hatte sich wohl schon mit ihr in Verbindung gesetzt und ihr gesagt, sie solle ihre Stellung dort räumen.
«Wie geht es Hannah heute Morgen?»
«Sie steht immer noch total unter Schock und läuft wie in Trance herum, aber wenigstens hat sie letzte Nacht geschlafen. Der Arzt hat ihr eine Schlaftablette dagelassen, und Simon hat sie überredet, sie zu nehmen.»
«Ist er noch da?»
«Er ist gerade weg», sagte Holly. «Sein Vater ist von einer Dienstreise aus dem Ausland zurückgekommen, und seine Mutter kocht für die ganze Familie. Da herrscht Anwesenheitspflicht.» Eine Pause. «Hören Sie, Chefin, ich denke wirklich, ich sollte noch hierbleiben. Hannah sollte nicht allein sein, und die Polizeipsychologin kann erst heute Nachmittag kommen.»
«Kein Problem», sagte Vera. «Ich muss sowieso mit Hannah reden, also packen Sie mal hübsch Ihre Sachen und machen sich abfahrbereit. In einer halben Stunde bin ich da.» Ich muss ja wirklich ein abscheulicher Mensch sein, dachte sie, während sie einen Lkw überholte, der Holz geladen hatte, dass mir dieses Telefonat so viel Spaß gemacht hat.
Hannah wirkte immer noch wie unter Drogen, als Vera eintraf. Sie saß in einem Schaukelstuhl am Küchenfenster und starrte hinaus auf die Blaumeisen, die an einem Erdnussknödel pickten, der am Futterplatz hing. Holly umarmte sie innig, bevor sie ging, aber Hannah reagierte kaum. Was Holly bestimmt sauer aufstieß, dachte Vera: Sie hatte ja wirklich ein gutes Herz, aber es musste schon auch was vom anderen kommen.
«Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist», sagte Vera. «Aber ich bin am Verhungern. Gibt es hier irgendwas Essbares?»
Hannah drehte sich um, zuckte aber nur die Achseln. Sie sah aus, als hätte sie in den beiden Tagen, seit ihre Mutter ums Leben gekommen war, mehrere Pfund abgenommen, dabei war sie ohnehin schon sehr schlank gewesen. Vera dachte, dass Holly besser daran getan hätte, eine anständige Mahlzeit für das Mädchen zu kochen, anstatt mit ihr herumzusitzen und sich an Hannahs Kummer zu laben.
Das Gefrierfach war gut gefüllt, und alles war beschriftet. Jenny Lister, Superwoman. Vera fand einen Behälter mit selbstgekochter Suppe und eine Tüte mit Vollkornbrötchen. Sie stellte die Suppe in die Mikrowelle und legte die Brötchen in den Ofen, damit sie auftauten und knusprig wurden. Ihre Auffassung vom Kochen. Während sie den Tisch deckte, achtete sie nicht weiter auf Hannah, dann rief sie sie zum Essen.
«Ich habe eigentlich keinen Hunger.» Hannah sah sie mit einem trüben, trauerumflorten Blick an.
«Aber ich, und Ihre Mutter hat Ihnen sicher beigebracht, dass es unhöflich ist, anderen beim Essen einfach nur zuzuschauen.»
Hannah erhob sich aus dem Schaukelstuhl und setzte sich zu Vera. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, während Vera Suppe in einen Teller schöpfte. Es roch köstlich – nach Tomate und Basilikum –, und ganz gegen ihren Willen tauchte Hannah ihren Löffel ein und streckte die Hand aus, um sich ein Stück von einem Brötchen abzubrechen.
Vera wartete, bis die Suppe aufgegessen war, bevor sie etwas sagte.
«Wussten Sie, dass Ihre Mutter Mattie Jones im Gefängnis besucht hat?»
Hannah sah jetzt ein wenig frischer aus, wacher. «Sie hat nie viel über ihre Arbeit gesprochen.»
«Mattie Jones ist die junge Frau, die ihr Kind umgebracht hat. Sie haben davon bestimmt in den Nachrichten gehört. Es hat viel Aufsehen erregt. Hat Ihre Mutter das damals nicht erwähnt?»
Ein kurzes Schweigen. «Doch, ich erinnere mich. Das war eins der wenigen Male, wo ich Mum wütend gesehen habe. Sie ist aufgestanden und hat den Fernseher ausgemacht. Sie hat gesagt, es sei einfach unerträglich, wie die Medien die Beteiligten verteufelten – Mattie und die Sozialarbeiterin. Die würden so tun, als wäre alles ganz einfach, aber dieser Fall sei alles andere als einfach.» Hannah schloss die Augen und lächelte matt. In diesem Moment schien ihre Mutter für sie wieder am Leben zu sein.
«Hat Jenny je über ein Buch gesprochen, das sie schreiben wollte?»
Wieder lächelte Hannah. «Sie hat die ganze Zeit von ihrem Buch gesprochen, aber ich glaube nicht, dass sie je mit dem Schreiben angefangen hat.»
«Was meinen Sie damit?» Um das Mädchen nicht unter Druck zu setzen, um nicht zu zeigen, wie wichtig die Antwort unter Umständen war, rappelte Vera sich hoch und setzte Wasser auf.
«Das war ihr Traum. Zu schreiben.»
«Sie meinen Erzählungen und so was?» Immer noch mit dem Rücken zu Hannah ließ Vera Teebeutel in eine Kanne fallen.
«Nein! Sie hat gesagt, als Romanautorin würde sie nichts taugen. Sie wollte so eine Art Einführung in die Sozialarbeit schreiben. Mit echten Fällen – wobei die Betroffenen natürlich anonym bleiben sollten –, damit die Leute begreifen, unter was für einem Druck die Sozialarbeiter stehen und in was für Zwickmühlen sie stecken.»
Vera stellte einen Becher Tee vor Hannah auf den Tisch und angelte in einer Dose nach ein paar Keksen.
«Ich glaube, dass sie mit dem Schreiben schon angefangen hat», sagte Vera. «Auf jeden Fall mit den Recherchen. Sind Sie sicher, dass sie zu Hause nicht daran gearbeitet hat?»
«Sicher bin ich mir nicht, nein. Wir haben beide unser eigenes Leben geführt. Sie hat immer viel an ihrem Laptop gesessen. Vielleicht wollte sie ja mit dem Schreiben anfangen, ohne dass es jemand weiß. Ist doch so, wenn man über seine Träume spricht: Die Leute erwarten dann was von einem, setzen einen unter Druck. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie es fertiggestellt, ja dass sie sogar gewartet hätte, bis sie einen Vertrag mit einem Verlag hat, bevor sie’s mir erzählt hätte. Dann hätte es geheißen: Tada, schau her, was ich geschafft habe! Und zur Feier des Tages hätte sie eine Flasche Schampus geköpft.» Hannah blickte auf, ihre Augen glänzten genauso fiebrig wie vorhin die von Mattie. «Aber das wird jetzt nicht passieren, nicht wahr?»
«Hätte sie alles direkt in den Laptop geschrieben?» Im Bericht der IT-Leute, die die Dateien auf dem Computer schon gesichert hatten, stand nämlich nichts von derartigen Dokumenten.
«Nein, wahrscheinlich nicht. Sie hat immer noch mit der Hand geschrieben, sie hat sogar noch Briefe geschrieben! Richtige Briefe, immer zu Weihnachten, an ihre Freunde und die alten Tanten. Das war auch so ein Ratschlag, den sie mir für die Aufsätze in der Schule gegeben hat: Wenn du nicht weiterweißt, schreib es erst mal mit der Hand auf. Dein Kopf und der Stift sind direkt miteinander verbunden. Bei mir hat das nie geklappt, aber bei ihr bestimmt.»
«Wir suchen also nach einem Notizbuch.» Vera sprach mehr zu sich als zu dem Mädchen, doch Hannah antwortete ihr.
«Ja, genau! DIN A4, gebunden. Die hat sie in so einem altmodischen Schreibwarenladen in Hexham gekauft. Hat sie immer für die Arbeit genommen. Wieso? Ist das wichtig?»
Es könnte uns helfen, herauszufinden, wer deine Mutter umgebracht hat. Aber das sprach Vera nicht aus. Sie lächelte nur und goss ihnen noch Tee ein.
«Hat Holly Sie nach der Handtasche Ihrer Mutter gefragt?» Sie saßen weiter am Tisch, zwischen sich die Teekanne.
«Ich glaube nicht.»
Natürlich nicht. Eine Mischung aus Ärger und Befriedigung. Wenn sie Holly das nächste Mal sah, hatte sie einen Grund, sie zusammenzustauchen.
«Die haben wir nämlich noch nicht gefunden», sagte Vera, «und sie könnte von Bedeutung sein. Können Sie sie mir beschreiben? Und hat Jenny eine Aktentasche besessen?»
«Die Handtasche war so groß, dass sie ihre ganzen Unterlagen da hineinbekommen hat, eine Aktentasche hat sie nicht gebraucht.» Plötzlich lächelte Hannah. «Sie hat sie sehr gemocht. Sie war aus weichem, rotem Leder.»
«Und die Notizbücher, von denen Sie gesprochen haben, hätte sie die auch in der Handtasche gehabt?»
«Wahrscheinlich.» Langsam verlor Hannah das Interesse. Sie starrte aus dem Fenster. «Meinen Sie, dass Simon bald wiederkommt?» Als könnte der Junge sie irgendwie vor ihrer Traurigkeit bewahren, als wäre er der einzige Mensch, der das könnte.