4 Du hast sie umgebracht.
Niels Miteq nimmt einen Schluck aus der Bierdose, ehe er sie zerdrückt und zu den anderen in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers wirft.
Du hast von einem Schiff geträumt, das an einem Felsen zerschellt, bevor es an Land gespült wird, und genau das ist passiert, dein Traum hat sich über das Schiff gelegt, es in einen Sturm geraten und kentern lassen. So ist die gesamte Mannschaft ertrunken, und es ist deine Schuld, denn es war dein Traum.
Er weicht Lars Kilimis Blick aus und fixiert das Notizheft in seinem Schoß, das Buch der Träume, an dem er seit seinem achten Lebensjahr schreibt und das Erkenntnisse beherbergt wie Kurzlebige Träume: Träume, die vergessen sind, sobald man aufgewacht ist; verschwiegen, verraten selten, was geschehen wird. In den letzten zwanzig Jahren glaubt er herausgefunden zu haben, dass sich ein Traum bloß auf den folgenden Tag bezieht, nicht etwa auf die ganze Woche oder den Monat, und dass seine Ablauffrist zwölf Stunden beträgt. Erfüllt er sich nicht innerhalb dieses Zeitraumes, ist er wertlos oder wurde falsch verstanden. Nicht alle Träume, so sieht es Niels, sind leicht zu entschlüsseln, bei manchen sind mehrere Anläufe nötig, bis er sie begreift. Normalerweise enthalten sie Warnungen, Hinweise auf etwas, das in der Zukunft liegt: Sie sind Weichen, die man stellen kann, um die Zukunft zu manipulieren, sein Schicksal zu ändern, jedoch nur, wenn man sie zu deuten weiß. Aus diesem Grund führt Niels das schwarze Notizheft, hat es immer bei sich, stets griffbereit. Anfangs verstand er seine Träume nicht, später aber fiel es ihm leichter, ihren Nutzen für sein Leben zu begreifen. Spielen Kinder Fußball in seinen Träumen, bedeutet es, dass etwas Unangenehmes passieren wird; wird er in seinem Traum von einer Frau geküsst, weiß er, dass er unerwartet Geld bekommen wird. Träumt er von einem Feuerwerk, wird etwas Lustiges geschehen, träumt er hingegen vom Fliegen, droht Gefahr. Solchen nächtlichen Hinweisen hat er sein Leben untergeordnet, verkriecht sich, sobald ein Ball in seinen Träumen gekickt wird oder seine Füße vom Boden abheben, kauft im Internet ein, sobald sich die Lippen einer Frau seinen nähern.
Im Grunde war Niels’ Fixierung auf die Traumdeutung eine Art Sehhilfe, Sichtprothese: das dritte Auge. Als Kind litt er unter einer Augenkrankheit, die in Ostgrönland in dieser Form noch nie aufgetreten war. Seine Augen waren blutunterlaufen, und sowohl Eiter als auch grünlich-gelblicher Schleim tropften aus den Augenwinkeln, liefen als dünnes Rinnsal über die Wangen, und mit der Zeit schwollen die Lider an, wanden sich wurstförmig um die Augäpfel. Diese Deformation schränkte Niels’ Möglichkeiten zu sehen ein, andererseits konnte er nicht anders, als seine Augen offen zu halten, denn wann immer er sie schloss, stach es umso stärker in ihnen. Die heimliche Schamanin, die lediglich für den Pastor Jägersfrau spielte, wurde geholt, doch schon nach einem kurzen Blick auf den Patienten weigerte sie sich, ihn zu behandeln, die Krankheit sei die Quelle für eine große prophetische Begabung, sagte sie, murmelte ein paar magische Worte und schlüpfte in ihre Alltagsrolle zurück. Bald munkelte man in Ittuk und auch in Amarâq, dass das Kind Niels in Wahrheit ein mächtiger Schamane sei und mit offenen Augen schlafe. Das war so nicht ganz richtig: Er hatte sie beim Schlafen geschlossen, doch der Schmerz weckte ihn alle paar Stunden auf –
bis er endlich selbst den Grund für sein Leiden identifizierte und sich einen ganzen Tag lang, er musste immer wieder innehalten, weil es ihn vor Schmerzen schüttelte, jede einzelne Wimper ausriss. Währenddessen und sofort danach bluteten die Lider, schwollen noch stärker an und entzündeten sich, und als sie endlich, nach Wochen, verheilt waren, blieben Narben und Wulste zurück, die die Augäpfel nach außen drückten, so dass es aussah, als wollten sie aus dem Schädel springen. Seine Sehkraft aber hatte sich verbessert, und er sah von diesem Tag an weiter und schärfer als alle anderen, auch wenn das Bild immer ein wenig zerkratzt war. Um nicht angestarrt und verspottet zu werden, setzte er eine Brille mit dickem Rahmen auf, die ein Tourist zurückgelassen hatte. Er stolperte, wenn er sie trug, aber sie verkleinerte seine Augen, und er gewöhnte sich daran, die Brille abzunehmen, wenn er scharf sehen wollte.
Manche Träume belügen dich, sagt er, aber jene, die frühmorgens auftauchen, helfen dir, ihnen kannst du vertrauen. Bis heute haben mich meine Träume nicht ein Mal betrogen.
Lars greift nach der letzten Dose Bier, und was ist, fragt er, wenn man den gleichen Traum immer wieder hat? Das ist kein guter Traum, sagt Niels, zündet sich eine Zigarette an und wiederholt: Das ist kein guter Traum, den musst du loswerden, so schnell wie möglich.
Lars weicht Niels’ forschendem Blick aus, steht vom Sofa auf, einer Konstruktion aus zwei Matratzen, und schiebt den langen braunen Mantel, der zum Verdunkeln vor das kleine quadratische Fenster gehängt wurde, beiseite. Jede Nacht, sagt er, träume er davon, wie eine Gruppe von Menschen in einen Abgrund falle.
Zunächst erkenne ich sie nicht, es ist mir nicht möglich, meine Augen scharfzustellen, obwohl ich mich sehr bemühe, dann aber, mit einem Mal, sehe ich sie. Es sind meine Großmutter, meine Freunde, auch du, ihr steht an einer Klippe, steht eng beieinander, einer hinter dem anderen wie Dominosteine. Plötzlich kommt Wind auf, er klingt wie das Jaulen eines Hundes, und der Erste in der Reihe beugt sich nach vorne, ich versuche, ihn aufzuhalten, ich greife nach ihm, aber meine Arme bleiben in der Luft stecken, und noch bevor sie ihn berühren können, stürzt er in die Tiefe und mit ihm die ganze Gruppe, einfach so, als wäre nie etwas anderes möglich gewesen.
Nur das Mondlicht erhellt ein paar Punkte im Raum: die beiden hinteren Herdplatten, die Stuhlkante. Sivke tastet sich durch das Zimmer, das nun länglicher erscheint, als wäre es gewachsen und hätte zugleich an Tiefe gewonnen, jeder Schritt birgt ein Risiko in sich. Sie bleibt stehen, am liebsten würde sie sich auf den Boden setzen und warten, bis es hell wird. Sie weiß, dass sie ein paar Minuten brauchen wird, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie schließt die Augen und hört auf ihren Atem, ein, aus, ein, aus, sie zählt bis dreißig, dann blinzelt sie in eine blaue Landschaft. Das weißgelbe Mondlicht, gemischt mit dem Schwarz der Nacht, ergibt ein Blauschwarz, das alles Sichtbare in eine homogene Masse, in eine Ebene verwandelt, und die Finsternis, die vorher durch das Licht ausgesperrt war, lässt sich nicht länger verdrängen, lediglich die Kanten und Ecken, die sich ihrem Einheitsschatten widersetzen und ihren eigenen einfordern, stechen heraus, sie sind die Wegweiser, die Sivke braucht, um bis zur Haustür zu gelangen.
Sie geht vorsichtig die Küchenzeile entlang bis zur Fußmatte, der Eingang ist in völlige Dunkelheit getaucht, sie streckt ihre Hand aus, langsam, und berührt die Wand, tastet die Tapete entlang bis zu einer Leiste, danach weiter geradeaus und etwas südlich, bis sie den Türknauf findet. Sie dreht ihn im Uhrzeigersinn, aber sie hört kein Knacksen, das das Öffnen begleitet, sie fingert nach dem Schlüssel, hat Jens sie eingesperrt? Er steckt im Schloss. Sie dreht ihn in die eine, dann in die andere Richtung. Die Tür springt nicht auf, sie bewegt sich nicht einmal, so sehr Sivke auch an ihr rüttelt –
obwohl, sie öffnet sich einen Spaltbreit, nicht weiter, etwas ist im Weg.
Liebe in Amarâq ist einerseits ein Zeitvertreib, dem jeder nachgeht, weil die Auswahl an Tätigkeiten, Hobbys, beschränkt ist und man meint, dass Liebe wiederholbar sei, andererseits nehmen die Bewohner das Lieben sehr ernst, da es für sie die Hauptsache dessen ist, was ihr Leben bedeutsam macht, sie klammern sich geradezu an sie, denn sie ist anders als die Liebe anderswo, sie ist Rettung, Erlösung: Sie öffnet die Isolation, die Enge, verkürzt die Entfernung zum Horizont und glättet den Himmel. Mit einem Mal erscheint die Erde endlich, man selbst als Teil dieser Welt und nicht wie sonst ausgestoßen.
Aber Liebe in Amarâq ist auch ein Verhängnis, da man alles auf eine Karte setzt, man hat ja nichts anderes als sein Leben, und gerade diese Unbedingtheit ist es, die angesichts all der Erwartungen und Forderungen das Glück zu lieben in Unglück verwandelt.
Das Verhängnisvolle am Unglück ist, dass es vorgibt, dauerhaft zu sein; über eine ähnliche Begabung verfügt der Schmerz, der sich noch dazu mit Legitimation bewaffnet, um den Augenblick in Ewigkeit zu transformieren.
Julie konnte sich nicht entschließen, das Ende der Straße zu verlassen: Sie meinte, an diese Stelle zu gehören, die durch die unvollendete Asphaltierung zerrissen wirkte. Sie legte sich auf einen Stein, groß und flach wie ein Bett, sie glaubte, sie habe eine Verwandlung durchgemacht, sie sei eine andere geworden, nunmehr fremd in ihrer gewohnten Umgebung, ihr schien, als habe sich die Welt verändert, als wäre an der Stelle der alten eine neue entstanden, von einem Tag auf den anderen, auch die Menschen wären ausgetauscht worden, vielleicht aber sah sie sie zum ersten Mal so, wie sie wirklich waren. Plötzlich war ihr das Fremde vertrauter als das Vertraute, und es schien unmöglich, dass diese Metamorphose, die sich erste Liebe nennt, schon wieder beendet sein sollte, sie war doch noch mittendrin, sie hatte die Verpuppung nicht abgeschlossen. Den Geschmack des Herkömmlichen hatte sie vergessen, das Neue hingegen kannte sie nur teilweise, sie hatte gerade einmal einen Blick erhascht, nun steckte sie in einer Zwischenwelt, in einem Zwischenstadium, dem sie nicht entfliehen konnte, seit Jens das Seil gekappt hatte, das sie mit der Gemeinschaft verband, und sie hatte fallenlassen. Und sie war gefallen ohne zu wissen, dass Liebe Einzigartigkeit vorgaukelt, wenn sie doch in Wahrheit auf Wiederholung angewiesen ist.
Julie beobachtete die Leere des Himmels, die zeitweilig von Wolken durchzogen wurde, das Blau, das unveränderlich, unbarmherzig herunterschien, als wäre es ein Abgesandter der Sonne –
plötzlich stand sie auf und hastete heimwärts. Zu Hause angekommen, ignorierte sie ihre Geschwister, Pia und Caroline, den falschen Zwilling, auch ihren Stiefvater, der sie grüßte, sie lief in ihr Zimmer, sperrte sich ein und kam erst wieder heraus, als es an den Rändern des Himmels zu dunkeln begann. Auf Johannas Frage, ob sie ein Abendessen wolle, sagte sie, sie sei nicht hungrig, auch ließ sie sich nicht auf ein Gespräch ein, sondern wandte sich ab, schlüpfte in ihre Jacke, in die Schuhe, schob Pia, die mit auf den Spaziergang wollte, so unsanft von sich, dass diese zu weinen anfing und getröstet werden musste.
Julie nahm Pias Tränen kaum wahr, sie verließ eilig das Haus.
Die Plastiksäcke sind schwer, sie enthalten die Schmutzwäsche der ganzen Woche, Inger muss die halbe Stadt durchqueren, um zum Waschhaus zu gelangen, vorbei an der Polizei, am Kinderheim, dann dem Straßenverlauf folgen bis zum Fluss am Beginn des Tals der Blumen. Sie erledigt ihre Wäsche gerne nach Einbruch der Dunkelheit, da die Waschküche zu dieser Zeit meistens verlassen ist.
Seit ihrem Umzug vor vielen Jahren ist sie auf dieser Straße mehrmals täglich unterwegs, und sie braucht nicht mehr auf den Boden zu achten, ihre Füße wissen bereits, wann sie ausweichen müssen, sie kann sich ganz auf das Bild konzentrieren, das die Nacht für sie bereithält: auf die eingesperrten Lichter, die hinter zugezogenen Vorhängen leuchten, flackern und manchmal glühen; auf die von der Schwärze geschorenen Gräser und Sträucher; auf den Fjord, der unverhohlen seine Tarnung aufgibt, sich als tiefschwarzes Loch entpuppt.
Inger liebt die Geräusche der Nacht, sie bezeichnet sie als Lieder und Gesänge, die Laute, die durch die Luft schwirren und deutlich machen, dass die Nacht in viele Teile, Ebenen, zergliedert ist, die einzig in diesen fünf Stunden das Korsett verlassen, das sich Tag nennt; wenn es keinen Unterschied macht, ob sich zu den vielen Nuancen, die die Finsternis besitzt, eine weitere dazugesellt oder nicht: wie die schwarze Katze, die mit abgewandtem Kopf die Straße entlangläuft und von der Inger kurz glaubte, als sie sie sah, sie wäre ein entflohener Schatten.
Schattenlose Menschen, hatte Ingers Vater gesagt, ehe er, ängstlich, verwirrt und nach vielen schlaflosen Nächten, nicht mehr sprechen und schlucken konnte (sein Speichel war als Schaum vor den Mund getreten, und er konnte bloß noch schreien, beißen und um sich schlagen, Wochen nachdem er versucht hatte, seine Tochter zurück nach Ittuk zu holen), schattenlose Menschen seien gefährlich, denn sie besäßen keine Seelen.
Sivke kramt in ihren Jackentaschen, sie leert sie und findet Münzen, ein Hustenbonbon, einen Bleistift, einen Lippenstift und Streichhölzer. Sie reißt ein Streichholz an, der Luftzug bläst es aus, wahrscheinlicher ist, es war ihr Atem. Sie versucht ein zweites zu entzünden, doch es zerbricht, ihre Finger zittern zu sehr. Das dritte ist bereits benutzt, eines mit schwarzverkohltem Kopf, nun ist die Schachtel leer, sie flucht, beginnt in ihrem Rucksack zu wühlen.
Kein Feuerzeug.
Sie lässt den Rucksack sinken und starrt auf den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es ist draußen heller als drinnen, Dunkelheit dringt durch die Fuge, lässt die Kanten des Lichtschalters von der Wand abstehen, verwandelt sie in die Schluchten eines Miniaturtals. Sivke knipst das Eingangslicht an, das Schnappen des Schalters zerschneidet die Stille, schon hört sie Jens aus dem Schlafzimmer rufen, Sivke, ist alles in Ordnung?, doch noch bevor sie antworten kann, nein, die Tür klemmt, sieht sie eine Hand –
das gezähmte Licht der Vorzimmerlampe denkt nicht daran, den Anblick zu verschönern, stattdessen fällt der Strahl auf die einzelnen Glieder; Sivke erstarrt.
Erst nach ein paar Sekunden, sie erscheinen ihr wie eine Ewigkeit, kann sie sich rühren, sich hinknien, doch sie traut sich nicht, die Tür aufzustemmen, stattdessen steckt sie ihre Hand durch den Spalt, erfühlt eine Schulter und berührt sie, zunächst sanft, ein sanftes Tippen, aber der Mensch regt sich nicht, so schüttelt sie ihn etwas kräftiger, auch wenn ihr der Körper zu schmal vorkommt für einen der üblichen Betrunkenen Amarâqs, zu dünn –
zu zaghaft, Jens hat es nicht gehört, ihr Klopfen, er antwortete nicht. Julie setzte sich vor die Haustür, wartete, bis sie aus dem Inneren Schritte hörte, dann sprang sie auf und sprach ihn an, noch während er die Tür versperrte, doch er stieg in sein Auto, ohne zu antworten, und fuhr davon. Sie beschloss, zu bleiben, bis er wiederkäme.
Sie harrte drei Stunden aus: drei Stunden, in denen sie beobachtete, wie der Eisberg, den sie Vera getauft hatte, immer mehr von der Dunkelheit verschluckt wurde, obwohl er sich mit einem hellblauen Schimmer gegen sie wehrte; wie das Picknick der Kieselsteine durch den plötzlichen Regen einer Sommernacht aufgelöst wurde; wie die Brosche, ein Geschenk ihrer dänischen Urgroßmutter, unter ihren Sohlen zerbrach. Endlich tauchte Jens auf, aber er war nicht allein, Sivke war bei ihm, Sivke Carlsen, und Julie versteckte sich, rettete sich in letzter Minute hinter die Mauer.
Sivke und Jens verschwanden im Haus, Julie lauschte ihrem Gespräch, das durch die Fenster und Wände drang, sie blieb unschlüssig stehen, verwirrt vom vergeblichen Warten. Schließlich setzte sie sich auf denselben Platz wie zuvor, direkt vor die Haustür, sie rückte etwas nach rechts, in Richtung Straße, diese Stelle war nicht lauwarm wie jene daneben. Sie stemmte ihre Füße in die Erde, sie saß nicht, sie hockte, löste den Knoten an der Rucksacköffnung und zog einen dünnen Schal hervor, mit dem sie eine Schlinge knüpfte.
Eintausendfünfhundert Menschen leben in der größten Siedlung im Osten Grönlands, in Amarâq. Es ist kein Dorf, aber auch keine Stadt, sondern eine Territorialmarkierung. Alles von Menschenhand Erbaute ist ausschließlich für eine Übergangszeit errichtet worden, die nie ihr Ende gefunden hat, so dass die Grenzen der Stadt allgegenwärtig sind, obwohl der Mensch in Grönland winziger ist als anderswo: um etliches kleiner als die Einzimmerhütten, die man sich eher überzieht, als dass man sie betritt, und die, zerlegt und mit Anleitung, aus Dänemark importiert und innerhalb von drei Sommermonaten aufgebaut werden müssen, da ansonsten der Boden zu hartgefroren ist, um das Fundament zu legen, und um ein Vielfaches kleiner als die Berge, die die Stadt an drei Seiten umrahmen.
Seinem Wesen nach ist Amarâq lediglich ein Vorschlag, der darauf wartet, angenommen zu werden –
nichts ist überflüssig, alles ist notwendig, nichts existiert bloß, um zu existieren, alles hat zumindest einen, meistens mehrere Zwecke zu erfüllen: Die Post ist zugleich die Bank, der Supermarkt das Kaufhaus, Bekleidungshaus, Heimwerkerladen und Souvenirgeschäft, die Sporthalle das Fast-Food-Restaurant der Stadt, das Buchgeschäft ebenso ein Obst- und Gemüseladen sowie Café, und auch die Menschen haben mehrere Funktionen auszuüben, die Großmutter die der Tante, der Onkel die des Vaters. In Amarâq darf ausschließlich das existieren, was für das Überleben absolut notwendig ist: die Mindestanzahl an Einrichtungen und Menschen. Das Überflüssige hat sein Dasein aufzugeben, und weil es spürt, dass es überflüssig ist, verschwindet es, wird es verlassen oder verlässt sich selbst. Doch mit seinem Verschwinden mutiert die Einsamkeit, breitet sich als Isolation langsam in der Bevölkerung aus und infiziert jeden, der sie nicht leugnet, bis alle Bewohner Amarâqs den Keim einer tödlichen Krankheit in sich tragen.
Inzwischen richtet sich die Stadt auf diese Epidemie ein, duldet sie mit einer Gelassenheit, die unheimlich ist, und ein Gedanke wird zum Gesetz: dass es Amarâq nicht mehr gäbe, würde die Krankheit geheilt; dass das eine ohne das andere, die eine Geschichte ohne die andere undenkbar sei und man Angst haben müsse, dass, wenn die Wurzel der Krankheit gezogen würde, die ganze Bevölkerung, die an ihr hängt, mitherausgezogen würde und nichts anderes übrigbliebe als die Hülle der Stadt.