3 Idi richtet sich auf.
Sie ist etwas benommen, wischt sich mit dem rechten, dann mit dem linken Ärmel die Spucke aus dem Gesicht und steht auf. Sie taumelt und muss sich am Regal abstützen. Ihr ist schlecht, sie geht in Richtung der Kassen, setzt sich dort auf den Boden und sieht sich um. Anders ist nicht zu sehen. Rufen kann sie ihn nicht, denn sie hat Angst, sich übergeben zu müssen, wenn sie den Mund öffnet.
Sie schließt die Augen, atmet langsam durch die Nase, ihr Magen beruhigt sich. Sie sieht sich um, kein Anders.
Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zum Eingang des Marktes zu gehen und von dort aus die Regalreihen systematisch abzusuchen, zuerst die Bauabteilung mit den Maschinen und Geräten, dann die Fleischabteilung, Milchabteilung, Gemüse- und Obstabteilung. Sie tappt durch die Reihen mit Brot- und Backwaren, Müsli, Cornflakes, Süßigkeiten, Marmelade, Reis, Mehl, Öl, und während sie sich umsieht, hat sie das Gefühl, dass die Regale näher rücken und sie ihnen nur entkommen kann, wenn sie schneller ist, also beginnt sie zu laufen, aber sie verirrt sich, denn sie verliert die Orientierung. Die schmalen Gänge verschlingen sich in ihrer Vorstellung ineinander, zu einem Labyrinth, aus dem es einzig ein Entkommen gäbe, wenn sie größer wäre als diese metallenen Regalwände, und verzweifelt fängt sie an zu springen, nicht im Stehen, sondern im Laufen, sie springt und läuft, sieht aber noch immer nicht, wohin sie sich bewegt und wie sie diesen verschlungenen Pfaden entkommen kann, also räumt sie eines der Regale leer, die Müsli- und Haferflocken-Packungen wirft sie einfach auf den Boden und klettert auf das Regaldach, über die Fächer, die sich zwar nicht unter ihren Füßen biegen, dafür aber bedenklich schaukeln, sie kann gerade noch das Schwanken kontrollieren.
Von oben tritt die wahre Identität des Labyrinths in Erscheinung. Es ist ein Meeresbecken mit einer Unterwasserlandschaft aus Regalen und Wühltischen sowie flachen Inselgruppen, Tiefkühltruhen, deren Oberfläche aus dem Wasser ragen würde, wäre das Meer nicht ausgelaufen und vertrocknet, vor vielen Jahren, nun ist es spurlos verschwunden, der Horizont ist geblieben, ein grauer Strich im weißen Himmel, der, entdeckt Idi, lediglich weiß auf Augenhöhe ist, hebt sie ihren Kopf, ist er ebenso grau wie der Horizont –
und eine Treppe führt in seine Mitte.
Treppen hatten es Svea-Linn angetan, aber auch Kanten, Fugen, Striche aller Art, sie folgte ihnen mit ausgestrecktem Zeigefinger, bis sie aus der Reichweite ihres Fingers verschwunden waren, vielleicht ging sie deswegen gebückt, vielleicht verformte sich deswegen ihr Rücken, weil sie sich immer zum Boden beugte, um die Linien besser zu sehen, denn ihre Augen wurden schlechter, je älter sie wurde. Als Kind hatte sie sich eine Brille gewünscht, sie wollte so aussehen wie ihre Lehrerin, als Jugendliche hatte sie noch immer keine Brille bekommen, obwohl ihre Umwelt langsam, aber stetig unschärfer geworden war, eigentlich zerronnen: als hätte man sie mit Wasser verdünnt.
Svea-Linn war kleiner als die meisten ihrer Mitschülerinnen, ihr Körper hatte früh aufgehört zu wachsen, nicht aber ihr Kopf. Sie hatte schulterlange, glatte schwarze Haare, auf ihrer Oberlippe wuchs schwarzer Flaum, ihre Augen saßen schon fast auf der Stirn, und sie konnte sich nicht bewegen, ohne zu schaukeln; sie ging nicht, sie wankte. Sie war weder musisch noch mathematisch begabt, dafür besaß sie das Talent, sich vollkommen zu identifizieren, sei es mit einer Aufgabe, sei es mit einem Menschen. Von Svea-Linn geliebt zu werden bedeutete, niemals wieder einsam sein zu müssen, sie würde immer da sein, niemals würde sie den Geliebten verlassen, und immer würde sie wissen, was er dachte. Es hatte den Anschein, als würde sie sich in seinen Gedanken und Gefühlen besser auskennen als in ihren eigenen, und doch besaß ihre Liebe eine solche Substanz, gerade weil sie genau wusste, wer sie war, und nichts konnte dies erschüttern.
Iven war der Jägerssohn von nebenan, dem Svea-Linn schon als kleines Mädchen versprochen worden war, und als sie sechzehn Jahre alt war, lösten ihre Eltern das Versprechen ein, und sie wurde Ivens Frau. Iven war das Gegenteil von Svea-Linn: Er war groß, kräftig gebaut, er ging nicht, er schritt, und er war ein schneller Läufer, guter Schütze, mit Augen, die besonders scharf in die Ferne sahen. Außerdem war er, wie die Bewohner Qertsiaks behaupteten, gutmütig, sanft, er ließ sich zu allem überreden, war für jeden Spaß zu haben, lachte laut und gerne, er sang, wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann lachte die ganze Runde, denn sein Jaulen war ohrenbetäubender als das der Hunde. Er war, nicht bloß auf den ersten Blick, so etwas wie ein perfektes menschliches Wesen, makellos, rein, unschuldig, und doch hatte er einen Fehler, den seine Familie verschwiegen hatte, er war mit ihm geboren worden, und alle männlichen Mitglieder seiner Familie waren daran gestorben: Er trug den Tod in sich.
Schon mit neun Jahren, als Svea-Linn sich eine Brille wünschte, hatte Iven das erste Mal versucht, sich umzubringen, doch er hielt es nicht lange genug im kalten Wasser aus, nicht einmal eine Erkältung holte er sich. Mit vierzehn Jahren hatte er es das zweite Mal versucht, doch er schoss daneben, nicht einmal einen Kratzer brachte er sich bei. Mit sechzehn wurde er unterbrochen, als er versuchte, sich zu erhängen: Sein Vater kam ihm zuvor. Am Tag nach seiner Hochzeit erhängte sich sein ältester Bruder, und eine Woche, ehe dieser sich tötete, brachte sich sein Onkel um.
Familie Tukula kam ursprünglich aus dem äußersten Norden Grönlands, eigentlich, hatte Anders’ Vater gesagt, seien ihre Vorfahren vom Westen in den Norden und von dort in den Osten gewandert, doch die Bräuche des Nordens seien an ihnen haftengeblieben, auch Legenden, Sagen und Vorstellungen wie jene, dass die Seele des Menschen sich nicht im Körper, sondern außerhalb befinde und dass sie dem Menschen folge wie ein zweiter Schatten. Lediglich Schamanen könnten sie sehen, und nur sie könnten die Seele vom Körper trennen, um sie im Schnee zu vergraben, und der Mensch müsse sterben, es sei denn, die entführte Seele würde gefunden und zurückgegeben werden. Die Seele sehe ihrem Besitzer ähnlich, hatte Iven gesagt, sie sei kleiner und, an dieser Stelle war seine Stimme rauer geworden, eckiger, er habe als Kind die Seele seiner Schwester gesehen, während sie schlief, er habe gesehen, wie sie über ihrem schlafenden Körper geschwebt sei, lang ausgestreckt, sie habe die Bewegungen seiner Schwester mit einer kurzen Verzögerung imitiert, als wäre sie eine Verlängerung, ein Ausläufer, an den Köpfen aber seien die Seele und seine Schwester verbunden gewesen, Kinder, hatte er hinzugefügt, hätten diese Gabe, und er, hatte er mit einem Blick auf Anders gesagt, besitze sie auch.
Die Beschäftigung mit der Seele hatte es Familie Tukula angetan: Von einem Urahn erzählten sie sich, dass dessen Seele in beliebige Körper hinein- und wieder aus ihnen herausschlüpfen und er deswegen von seinen Gegnern nie getötet werden konnte, dieser Urahn, ein Mörder, der bei den Dänen unter dem Namen Anders bekannt war, habe sich im Greisenalter in einen Bergwanderer verwandelt, der weder lebendig noch tot war, unsichtbar für menschliche, sichtbar für unmenschliche Augen, und all dies habe sich zu einer Zeit zugetragen, als sich die Männer bei jeder Mondfinsternis in ihren Hütten versteckten, aus Angst, vom herabgefallenen Mond gefressen zu werden.
Es habe einige Bergwanderer in ihrer Familie gegeben, hatte sein Vater gesagt, sie alle seien eines Tages aufgebrochen, in der Morgendämmerung, und nie wieder zurückgekehrt. Von einem Großonkel habe man die gefrorene Leiche gefunden, seine Seele habe wohl keine Zeit mehr gehabt, in den Körper zurückzukriechen.
Erst Jahrzehnte später, als die Bauarbeiten der Amerikaner begannen, die ersten Militärbaracken errichtet wurden und die ersten Soldaten ihre neuen Quartiere bezogen, seien Schlingen geknüpft worden, doch die meisten Toten habe es in den Jahren danach gegeben, nach der Umsiedlung nach Qaanaaq im Nordwesten, nach den Monaten in den Notunterkünften, in Zelten aus dünnen Plastikplanen, die dem Wind und Regen nicht standhalten konnten, weil sie nicht für den Norden Grönlands gefertigt worden waren, sondern für die Ebenen, Wälder und Hügel Amerikas, an dieser Stelle hatte er sich geräuspert und gesagt, er habe sich die Vereinigten Staaten immer tropisch vorgestellt, ein Land, in dem nichts anderes getragen würde als kurze Hosen und Hemden.
Ihrer Familie sei es relativ gut ergangen, hatte Iven zu Anders gesagt, an einem dieser Abende, wenn die Sätze wie von selbst ihren Weg zur Zunge finden und nicht angelockt werden müssen, an einem dieser Abende, wenn es draußen stürmt und regnet, der Schwarztee aus der Thermoskanne dampft und die Glühbirne in der Lampe über dem Couchtisch von Zeit zu Zeit flackert, weil sie nicht mehr lange halten wird –
an einem solchen Abend wird gesprochen, weil man plötzlich spürt, dass Worte leben.
Sein Großvater, hatte Iven gesagt, sei Teil der dänisch-amerikanischen Spezialeinheit während des Krieges gewesen. Sie hätten im ganzen Nordosten mit Hundeschlitten patrouilliert, sein Großvater und seine Kameraden, und während einer dieser Touren hätten sie entdeckt, dass die Deutschen versuchten, eine Wetterstation aufzubauen, natürlich hätten sie sie angegriffen und verjagt, hatte sein Vater gesagt und sich nicht die Frage gestellt, wohin. Die Spezialeinheit habe die traditionelle grönländische Kleidung getragen, ganz in Weiß, und sie hätten sich an ihre Gegner angeschlichen, als wären diese Robben, so hätten sie sie überwältigen können, und er hatte Anders vorgemacht, wie man sich anzuschleichen habe, er war vor dem Couchtisch hin und her gesprungen, währenddessen aber hatte er geschwiegen, manchmal war ihm ein lautes Schnaufen entkommen, und fast hatte Anders gedacht, sein Vater habe den Verstand verloren, wie er so zwischen der Couch und den Stühlen umherlief, sich bückte, mit seinem Körper eine Wellenlinie formte und zwischen den Tischbeinen untertauchte.
Am nächsten Morgen fand Svea-Linn Ivens Leiche. Er hatte sich im Zimmer im Obergeschoß erhängt, in halb kniender Stellung, beide Füße auf dem Boden. Der Strick, der in einer Schlinge um seinen Hals lief, war mit einem komplizierten Knoten am Dachbalken befestigt. Dort befand sich noch eine zweite Stelle, an der die Staubschicht verwischt und das Holz nach beiden Seiten ausgefasert war: Er war beim ersten Versuch abgestürzt.
Hinter den Schuhregalen entdeckt Anders eine Tür, eine Geheimtür, wie ihm scheint, und doch ist sie unverschlossen. Er drückt den Griff hinunter und späht in einen schmalen, dunklen Gang: eine Röhre.
Er kann nicht widerstehen.
Er tritt in die Dunkelheit, steigt die Stufen hinauf, bis er an eine weitere Tür gelangt, und als er sie öffnet, umfängt ihn ein starker Wind, der Nachtwind, der sich auf dem Dach des Pilersuisoq staut, und Anders steht im Freien, mit Blick auf den Nordwesten der Stadt, vereinzelt flackern Lichter, und die Finsternis befreit die Landschaft von ihrer dritten Dimension. Alles erscheint nun als Ebene, alles scheint begehbar, und wenn es gerade keinen Grund unter den Füßen gibt, ist Anders überzeugt, wird ihn der Wind tragen, der aus allen Richtungen bläst.
Er geht dicht an den Rand, stellt sich an die Dachkante und springt.
Mildernde Umstände.
Das Laiengericht sprach sich für mildernde Umstände aus, es hatte zu viele Todesfälle in der Familie in den Jahren vor Ivens Selbstmord gegeben, nicht mitgerechnet jene der Freunde und Bekannten, die es in den Wohnblocks, die in den Siebzigerjahren in Amarâq aufgestellt worden waren, nicht länger ausgehalten und sich, einer nach dem anderen, erhängt hatten, teils auf kleinstem Raum, neben dem Bett, vor dem Fenster, im Schrank, denn mehr hatte man ihnen nicht zugestanden, lediglich eine Wohnung von dreißig Quadratmetern, die laut Gesetz alles enthielt, was man zum Leben braucht, eine Küche, ein Badezimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, die eigene Welt reduziert auf das Nötigste, und als die Epidemie, wie sie damals erstmals genannt wurde, nicht abriss, als sich die Wohnblocks solcherart zu leeren begannen, reisten ganze Gruppen von Psychologen nach Amarâq und interviewten die Bevölkerung. Warum, fragten sie, nehmen sich diese Menschen das Leben, sie haben doch alles, was man braucht, sie haben ein Zuhause und Geld für Nahrung, wir geben ihnen doch alles, und obwohl sie unter Beschimpfungen, Protesten und Demonstrationen ihre Befragungen fortsetzten, verstanden sie nicht, dass all das Geld, das von Dänemark nach Grönland floss, keine milde Gabe war, sondern die Bezahlung für eine Selbstaufgabe, die in diesem Ausmaß unbezahlbar war –
manche ahnten es, blieben in Amarâq und versuchten wiedergutzumachen, was ihre Urgroßväter, Großväter und Väter angerichtet hatten, und sie erdachten die Theorie, dass die gewaltsame Modernisierung, die in den Fünfzigerjahren im Westen ihren Ausgang genommen hatte, die Menschen auf dem Gewissen habe, und sie sagten, dass die Kultur der Inuit, die den Selbstmord nicht verurteilt, zu seiner massenhaften Verbreitung beigetragen habe, und sie sagten, dass die Kolonialpolitik Identitätsprobleme verursacht habe, und all diese Theorien formten sie zu einer Waffe und richteten den Lauf auf die Opfer und sagten, aber ihr konntet nicht damit umgehen, weil ihr schwach seid, deshalb habt ihr zu trinken begonnen und bringt euch um.
Mildernde Umstände.
Svea-Linn war nicht nach Dänemark geschickt worden, sie durfte ihre Haftstrafe in Grönland absitzen. Institution für Verurteilte stand auf einem Schild über dem Gebäude, einer ehemaligen Militärbaracke mit glitzernden Fahrradständern und glänzenden Mülltonnen in dieser Transitstadt im mittleren Westen: Kangerlussuaq. Vier Jahre, hatte man festgelegt. Tagsüber putzte sie die Räume des Flughafens, abends kehrte sie in die Anstalt neben der Kirche zurück und schlief in einem Kämmerchen, das ein anderer Häftling blankgescheuert hatte. Nachdem sie die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen hatte, zerriss sie das Leintuch in schmale Streifen, drehte diese zu einem Seil und knüpfte sich am Fenstergriff auf.
Am nächsten Tag kam ihr Sohn in Kangerlussuaq an, er hatte einen Koffer bei sich, den ihm die Sozialarbeiterin geschenkt und gepackt hatte, mit all seinen Kleidern und Spielsachen für die nächsten zwei Jahre. Die Zelle seiner Mutter war leer, niemand sagte ihm, dass sie gestorben war, niemand beachtete ihn. So verbrachte er die nächsten Monate allein in ihrer Kammer, allein in den Gängen der Anstalt und versteckte sich, wann immer sich ein Häftling oder ein Aufseher näherte.
Er sprach in dieser Zeit kein Wort und streifte für sich durch die Straßen Kangerlussuaqs, die ihm wie eine Geisterstadt erschien, nicht nur verlassen und leer, sondern leergeräumt, mit extrabreiten Pisten für Militärfahrzeuge, Jeeps, Panzer und Tanker, die auf ihnen bis vor wenigen Wochen gerollt waren, nun aber nur noch von einem gelben SCHOOL BUS befahren wurden, der morgens und nachmittags vierzehn Kinder durch die Stadt kutschierte. Dann verbarg sich Anders auf dem Spielplatz zwischen der Bowlinghalle und der gelben Militärbaracke, die der Direktor, so wurde er von allen im Ort genannt, ein stämmiger Mechaniker mit eckigem Gang und einem auffallend größeren rechten Auge, Piratenauge, in ein Hotel umwandelte: mit farbigem Mobiliar, roten Stühlen und blauen Tischen, die eines Tages den verschneiten Bürgersteig bewohnten, als wäre der ein Haus ohne Mauern.
Jeden dritten Tag ging Anders ins neugegründete Kangerlussuaq Museum, ein langgestrecktes Gebäude, das ihn an die Saloons aus den Westernfilmen erinnerte, die allabendlich in der Anstalt liefen, kompakt und ebenerdig wie es war, mit kleinen, verhängten Fenstern und einer breiten Schwingtür, und jedes Mal, noch bevor er angesprochen werden konnte, verließ er die drei Räume mit den Fotografien, und die Zweige und Blätter eines Strauches trudelten, zusammengeknäult zu einer Kugel, an ihm und am Mast mit der amerikanischen Flagge vorbei.
Seine Lieblingsbeschäftigung aber war, den Flugzeugen beim Starten und Landen zuzusehen. Wenn er an einer bestimmten Stelle dicht am Zaun des Flughafengeländes stand, flog die Maschine direkt über ihm zur Landung an, und er spürte den Wind, der so stark war, dass er sich am Gitter festhalten musste. Er liebte dieses Gefühl, für einen Moment, wenn er die Füße vom Boden hob, im Luftstrom mitzuschweben. Nur wenig später setzte sie auf, die Tür öffnete sich, eine Treppe wurde hinuntergelassen, und die Passagiere stiegen aus, manche winkten, alle lachten, und Anders stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wäre sein Vater unter ihnen.
Als man nach zweihundertzwanzig Tagen endlich entdeckte, dass in Svea-Linns Zelle ein Kind wohnte, steckte man Anders, ausstaffiert mit einem Schild, in solch ein Flugzeug, und einige Stunden später öffnete sich die Tür, die Treppe wurde hinuntergelassen –
aber es gab niemanden unter den Wartenden, dem Anders hätte zuwinken können.
Idi folgt den Stufen auf das Dach.
Sie kennt Amarâq nicht von oben, sie ist nie in einem Hubschrauber oder in einem Flugzeug geflogen, auch sind die Häuser so niedrig, dass sie die Welt noch nie aus dieser Höhe gesehen hat, und in der Dunkelheit, obwohl diese vom Glimmen der Straßenlaternen und Glosen der Wolken durchlöchert wird, erscheint sie ihr schrecklich fremd.
Während sie sich von einem Ende des Daches zum anderen bewegt, ständig geht sie von rechts nach links und wieder zurück, vergisst sie ihren Cousin.
Amarâq ist eine Welt des Augenblicks: Hier ist nichts planbar, weil die Natur gewaltsam nach Anerkennung verlangt, danach, dass ihre Anwesenheit akzeptiert und respektiert wird. Natur in Amarâq gewährt nur Unterschlupf, solange es ihr passt. Ist die Zeit der Duldung vorüber, gilt es, ein neues Arrangement auszuhandeln oder umzuziehen.
Idis Kopf füllt sich mit den leisen Geräuschen und kargen Bildern der Nacht, und ihre Augen sind damit beschäftigt, die verwandelte Landschaft zu enträtseln, die sich, je nach Luftstrom, verengt und weitet. Mal erscheint sie geschrumpft durch die Wolken, die vor den Mond ziehen, dann wieder entledigt sie sich dieser Vermummung, wenn die Winde wiederkehren und Idi mit einem Mal so weit blicken kann, wie sie es in dieser Dunkelheit nicht für möglich gehalten hätte.
In diesem Moment fällt ein Schuss in der Ferne.