3 Das öffentliche Waschhaus, ein rotes Blockhaus mit schwarzem Satteldach, besteht aus einer Waschküche mit Waschmaschine und Trockner, einem Duschraum, einem Essraum mit Küche, zwei Toiletten und einem Eingangsbereich, in dem im Winter die Schuhe ausgezogen und an die Wand gestellt werden. Die Räume sind niedrig, die Fenster klein und quadratisch, und der Boden ist mit Linoleum ausgelegt. An den Decken befinden sich Glühbirnen hinter Glas, die Vorhänge sind grün gestreift, aber nicht lang genug, um das ganze Fenster zu verhängen. Sie werden nicht zugezogen, sondern gewähren immer einen Blick ins Innere, in die Gedärme, wie Inger sie nennt, die Räume, die sich parallel zum Fluss entlangwinden, schlauchförmig, und so ein Höhlensystem bilden, das seinen Endpunkt in der Waschküche und seinen Ausgangspunkt in der Küche hat.
Das Waschhaus ist ein Ort der Scham: ein Ort, der der Verachtung trotzt, weil es notwendig ist, den wenigen Besitz zu reinigen; ein Ort, der das Versagen öffentlich macht und den Benützern das Eingeständnis abverlangt, dass man es in dieser Gesellschaft zu nichts gebracht hat, zu keinem modernen, zivilisierten Dasein. Aus diesem Grund hängt über dem Haus eine Leere, eine Unbewohntheit, man könnte auch sagen eine Unberührtheit, die absichtlich und erzwungen ist, da darauf geachtet wird, nichts zurückzulassen, das Rückschlüsse auf die Identität des Benutzers zulässt. Die eigenen Spuren werden sorgsam verwischt, sobald man es verlässt, nur Verderbliches, Vergängliches wird dagelassen und von den Nachfolgenden aufgegessen, getilgt. Lediglich die Touristen, die in den Sommermonaten im Tal der Blumen ihr Zeltlager aufschlagen, machen es sich im Waschhaus gemütlich, wenn sie es in der nassen Kälte, die alle paar Tage über Amarâq hereinfällt, gehäuft vor allem Ende August, mit Herbstbeginn, nicht länger aushalten, so dass alle Reste, die es im Waschhaus gibt, Touristenreste sind, unschuldige Reliquien, die diese Scham nicht kennen. Auf sie stürzen sich die Bewohner Amarâqs, und wenn sie sie ergattert haben, geben sie vor, sie selbst erstanden zu haben, von einem Teil eines Besitzes, der nie existierte.
Inger geht durch die Räume und knipst in jedem das Licht an; sie erträgt die Dunkelheit nicht mehr. Als sie das zweite Mal am Eingangsbereich vorbeikommt, zögert sie für einen Moment, dann greift sie nach ihrer Jacke, schlüpft in die Schuhe und geht nach Hause, ohne das Ende der Wäsche abzuwarten.
Fast kommt es Keyi so vor, als konnte er durch das Fenster entwischen, als wäre er gerade noch mit seinem Leben davongekommen, und eine Euphorie durchzuckt ihn, es scheint ihm, als müsse er tanzen, und er hüpft bergauf, geradewegs in ein Gefühl des Glücks, das er in dieser Intensität einzig aus seiner Kindheit kennt, als er hinter seinem Vater im Frühling auf dem Eis lag, den Ellbogen, den Arm, die Hüfte und das Bein flach gegen die eisige Oberfläche gepresst, in kurzer Entfernung zu einer Ringelrobbe, die in der Sonne schlief. Als sie erwachte und Keyis Vater sah, steckte dieser seinen rechten Arm unter den Rumpf, verbarg seine Hand unter der Hüfte und imitierte ihre Haltung: Er zog das rechte Bein unter das linke und kratzte mit dem linken Fuß auf dem Eis. Als die Robbe das Kratzgeräusch hörte, legte sie ihren Kopf wieder hin. Nun stützte er sich ein wenig auf und kroch ein paar Meter vorwärts. Wieder hob die Robbe ihren Kopf und sah misstrauisch in seine Richtung, sofort legte sich der Vater flach auf den Boden und kratzte das Eis, aber dieses Mal wirkte die Robbe beunruhigt, und er imitierte Robbenlaute, während er versuchte, sie dazu zu bewegen, ihn anzusehen, nur so würde sie sich beruhigen.
Langsam gewöhnte sich das Tier an seinen Anblick, und er konnte schneller auf dem Eis vorwärtsrutschen. Während er immer näher kam, schlug er mit der flachen Hand auf das Eis. Die Robbe, die sich mittlerweile sicher war, dass es sich bei Keyis Vater um einen Artgenossen handelte, reagierte gelangweilt auf das Geräusch, und als der Vater dies erkannte, sprang er leise, aber blitzschnell auf seine Füße und harpunierte sie.
Keyi beobachtete jede Bewegung des Vaters, er imitierte sie aus der Ferne, zuckte synchron mit dem Kopf und den Armen und Beinen. Wenn sie schlafen, erklärte der Vater, atmen Robben nicht, manchmal atmen sie mehrere Minuten lang nicht.
Sie atmen wieder, wenn sie aufwachen und ihre Augen öffnen.
Er habe das schon öfter beobachtet, fuhr er fort, während er die Haut der erlegten Robbe aufschlitzte, beim Öffnen der Augen bewege sich ihre Flanke, das müsse er, Keyi, sich merken, denn so könne er abschätzen, wann die Robbe ihn das nächste Mal ansehen werde. Beobachte das Licht, sagte er, das vom dunklen Fell reflektiert wird, wenn sie atmet, ist es so, als würde sie zu mir sprechen und ich zu ihr und ich würde sagen, leg dich hin. Wenn du es richtig machst, sagte er, ist es fast so, als würdest du das Tier kontrollieren.
Drei Winter später jagte sein Vater zum letzten Mal. Als er über einem Atmungsloch einer Bartrobbe auflauerte und sie mit seiner Harpune, die an einem Seil befestigt war, aufspießte, unterschätzte er ihre Kraft, so dass er, als sie im Eiswasser wieder untertauchte, mitgerissen wurde, sein Arm und seine Hand zwischen das Seil und das Eis gerieten und vier Finger seiner rechten Hand abgetrennt wurden.
Im Pakhuset lehnt Peder von der Touristeninformation an der Bar und versucht, Ella für sich zu interessieren, er sieht dies als seine Pflicht an, denn er ist auch der Fremdenverkehrsminister Ostgrönlands.
Er erklärt, härtere Getränke seien seit einem Jahr in Amarâq verboten, es werde an der Bar bloß noch Bier verkauft. Warum?, fragt Ella mäßig interessiert. Weil wir glauben, dass der Alkohol an den vielen Selbstmordversuchen schuld ist, sagt Peder und nippt an der Dose Tuborg, Ella holt ihren Block heraus und macht eine Notiz, warum, glauben Sie, gibt es so viele Selbstmorde?, fragt sie, die Mentalität, antwortet Peder, es ist in ihrer Natur, die Grönländer leben zu sehr in der Gegenwart, und wenn die beschissen ist, dann, er umfasst seinen Hals mit einer Hand, stranguliert sich andeutungsweise. Räuspert sich, als Ella nicht lacht. Sie sind selten geplant, verstehen Sie, sagt Peder, die Selbstmorde sind immer spontan, die Grönländer haben einfach nicht die Fähigkeit, ihr Unglück zu kontrollieren, sagt er und zuckt mit den Schultern, es mangelt ihnen an Vernunft, verstehen Sie?, und tippt an seinen Kopf. Greift sich ans Kinn, Denkerpose. Rückt näher. Wie lange bleiben Sie in Amarâq?, flüstert er vertraulich, vielleicht möchten Sie auch eines der drei Nachbardörfer besuchen, ich könnte etwas arrangieren. Ehe Ella dazu kommt, zu antworten, stellt sich Silje zwischen sie, lächelt und fragt, ich würde dir gerne einen Freund vorstellen, hättest du etwas dagegen? Ella schüttelt erleichtert den Kopf, Silje nimmt sie an der Hand und zieht sie mit sich fort, in die andere Ecke der Bar, wo Greger und Olav warten. Olav, der zu schüchtern war, um Ella selbst zu fragen, und auch jetzt, da sie vor ihm steht, kaum mit ihr spricht, deutet mit einer Kopfbewegung an, dass er tanzen möchte, und sie versteht und nickt.
Weg ist sie.
Grinst Peder, doch er grinst allein: Robert tanzt mit Ulrika, Inga plaudert mit Ane, während sich eine Menge, gleichförmig, ununterscheidbar, auf der Tanzfläche, die nicht größer als eine mittelgroße Zimmerdecke ist, zu With or Without You bewegt und den Refrain mitgrölt. Inzwischen hat sich Olav zu Ella gebeugt und führt ein Flüstergespräch mit ihrem Ohr, während er versucht, seinen Arm um ihre Schulter zu legen, in einer der vier Ecken schmusen Silje und Jakob, in einer anderen trinken Gerth, der Greißler, und Billiam, der Jäger, um die Wette, in der dritten überredet Birgitta, Gerths Frau, Kristian zum Tanzen, und in der vierten baggert Brian Ane an, während sich Jesper Sørensen über seine Tochter Kaia beugt, die auf dem Boden eingeschlafen ist, sie ist schon seit neun Uhr hier, als die Disko noch gar nicht geöffnet hatte, er versucht, sie wachzurütteln, aber sie reagiert nicht.
Anders beschließt, nachdem er den Tumult um Kaia, die hinausgetragen werden muss, eine Weile beobachtet hat, den Traum von letzter Nacht fortzusetzen, als er von einem im Fjord Ertrinkenden angefleht wurde: Hilf mir. Mein Boot war verärgert.
Er greift nach dessen Hand, er streckt seine Hand aus, greift in die Luft, die aus den Wellen ragt, in Anes unechte Locken, in diesem Moment setzt sich eine Schmeißfliege auf seinen Arm und summt, es klingt wie Gurren: Heirate mich.
Lieber nicht, antwortet Anders, dein Supermarkt ist mein Mülleimer, und deine Augen sind zerbrochen. Ane stößt ihn von sich, lass mich in Ruhe. Daraufhin wispert die Fliege eifrig mit ihren Freundinnen, und eine Mücke kommt angesurrt, setzt sich auf seine Hand und sticht in die Ader, die sich über dem Mittelfingerkochen wölbt, Inga kommt Ane zu Hilfe und zwickt ihn in die Hand, er beobachtet, wie sich der Rüssel langsam in die Haut senkt, und spürt den Stich, gefolgt von einem Brennen, Brian schlägt ihn zu Boden, und er schläft ein, wacht kurz darauf wieder auf. Nun ist es Winter, sagt Anders, und ich bin Teil der Straße, doch die Autos, die Fahrräder und die Fußgänger können mir nichts anhaben, denn ich bin aus Eis, und er lacht, während man ihn aus der Disko tritt.
Ein Hund huscht an Inger vorbei, sein Besitzer folgt mit gebührendem Abstand, Mads, doch er biegt ab, ehe sie ihn begrüßen kann. Es scheint ihr, als würde er seinem entlaufenen Schatten folgen, als werfe Mads den Schatten eines Hundes.
Amarâqs Schönheit, die sich, unzugänglich, wie sie ist, den Blicken eher entzieht als präsentiert, ist eine unheimliche, da sie die Augen ständig in die Irre führt. Nichts ist sicher, nicht in dieser Stadt, die mit jedem Lichteinfall, mit jedem Wolkenzug ihr Aussehen verändert, im Grunde ist sie nicht dazu da, um angesehen zu werden, sondern sie ist ein Kommentar: Sie spricht in Bildern, die sie einem vorsetzt und von denen sie erwartet, dass man sie versteht, und wenn nicht, werden sie einem verständlich gemacht, indem die Pläne, die man gerade noch schmiedete, durchkreuzt werden –
totaler Widerspruch, Einspruch.
Aber nachts, wenn das willkürliche Licht schläft, wenn es sich reduziert auf ein Flimmern, Glimmen, das im Nichts oder durch einzelne Häuser schwebt, in Fensterkäfigen vor sich hin leuchtet, entwischt sie doch, die Unheimlichkeit, die die Stadt infiltriert hat, und unverdeckt, diesmal völlig unverdeckt, enthüllt sie einen Teil der Wahrheit: Dass in jedem Aufblitzen des Himmels an wolkenfreien Tagen, im Dunkelblau, so tief, dass man darin versinken möchte, würde man sich nicht rechtzeitig abwenden und die Augen schließen, ein Blau, das mit jedem Blick näher kommt und nach einem greift –
dass in den Wirbeln, Strömen, die die Wolken verschieben, die Wolkenherde antreiben, so dass sie sich mal in der einen, mal in der anderen Ecke des Himmels, der in diesem Moment ein langgezogener, schmaler Quader ist, nichtsdestotrotz ein Quader, also seine Unendlichkeit zugunsten der Vorspiegelung von Endlichkeit aufgegeben hat –
dass in der Nacht, die jeden überzieht, der es wagt, sie zu betreten, Sätze liegen, Antworten, und dass es möglich ist, sie zu verstehen.
Inger bleibt stehen und lauscht.
Keyi wird durch die Person, die aus Malins Fenster steigt, in seinen Gedanken unterbrochen. Er erkennt in ihr Per, dem er, vor vielen Jahren, als dieser vom Waisenhaus ausgerissen war, Unterschlupf gewährte, in einer Hütte, die aus einem Raum und zwei Fenstern bestand, die beide auf den Fjord blickten, und wenn er sich aufrichtete, stieß er an die Decke, obwohl er eher schmächtig und klein ist. Die Bretter hielten sich gerade noch in der Verankerung, ihre Farbe war abgeblättert, Feuchtigkeit lebte und wuchs in ihnen, und wenn er über ihre Oberfläche strich, fühlte sie sich samtig an, weich, als wäre ihnen in all der Zeit ein Fell gewachsen, eines Tages würde es aufstehen, das Lebewesen, und fortgehen. Die Nägel steckten kaum noch in den Löchern, sie vollführten eine Geste, und wenn man sie nicht beobachtete, sprangen sie ab und in die Freiheit, die sich unter ihnen befand, im Sommer ins Gras, im Winter in den Schnee und auf das Eis, so machten sie sich davon, einer nach dem anderen, so dass Keyi sie zusammensuchen und neu einschlagen musste, damit die Hütte ihn und Per nicht unter sich begrub.
Per, das erwachsene Kind, war eines Tages auf seinem Holzboden gesessen und hatte aus seinem Becher Wasser getrunken. Er hatte nicht aufgesehen, auch nicht, als ihn Keyi gegrüßt hatte. Sie sprachen in den drei Monaten, die sie zusammenlebten, kaum miteinander, denn Per, oder, wie Keyi ihn nannte, das Kind, schien sich vor Wörtern zu ängstigen, er sprach jeden Satz mit Furcht aus, in einem Flüsterton, als könnten sich die Worte, in die Luft entlassen, umdrehen und ihn verschlucken. Keyi wusste nicht, wie es war, in einem Waisenhaus zu leben, er hatte Geschichten gehört, Gerüchte, er hatte Geschichten, Gerüchte über Per gehört, hatte gehört, der Kleine habe versucht, das Haus einzuäschern, er habe gezündelt und alle Kinder seien im Feuer verbrannt, tatsächlich war das Heim im selben Jahr, als Keyi nach Amarâq zurückgekehrt war, neu gestrichen worden, in einem hellen Blau, als wollte man jede Assoziation mit Feuer verhindern. Man erzählte sich außerdem, Per habe die Tür, durch die die Kinder hätten entkommen können, mit einem Holzbalken verbarrikadiert, so dass man, als man die Rufe aus den offenen Fenstern hörte, nichts tun konnte als zuzusehen, wie alle verbrannten. Per selbst, munkelte man weiter, hätte durch den Hintereingang fliehen können, doch als der Brand gelöscht war und man feststellen musste, dass ausschließlich die Erwachsenen überlebt hatten, die zwei Alten, die die Kinder betreuten, Lone und Janne, und der Leiter des Hauses, Stin, kehrte Per zurück, er wartete an der Eingangstür des Hauses, als wäre nichts passiert: als hätte man ihn ausgesperrt und müsste ihn nun wieder einlassen.
Stin fasste Per am Nacken, fuhr mit seinen Fingern in dessen Nasenlöcher und zog das Kind durch die Stadt, während er Mörder murmelte, Mörder, Mörder, und Lone murmelte mit ihm, sie begleitete sein Flüstern mit ihrem sanften Sopran, und fast klang es, als würden sie singend durch die Gegend ziehen, Lone und Stin mit Per im Schlepptau, als wäre es ein Schauspiel, das sie darzubieten hatten, hätten sie nicht nur ein Wort gesagt: Mörder.
Kurz bevor Per in Keyis Hütte untertauchte, wurden die Leichen von Lone und Stin gefunden. Sie lagen mit tiefen Schnittwunden im Gesicht, an den Händen und auf der Brust im Schlafzimmer der neuen Waisen, deren frischrenovierte Heimat plötzlich zu einem Sarg geworden war.
Im Grunde war Sara nicht adoptiert worden, sondern hatte selbst adoptiert, die Ferne, indem sie ihr beharrlich gefolgt war, von Ausflug zu Ausflug, zunächst hatte sie auf den Boden gestarrt, jeden Kontakt vermieden, später aber war sie den Blicken gefolgt und hatte selbst Blicke dosiert, im richtigen Moment das richtige Lächeln, und am Ende der drei Wochen, so hatten es ihre Adoptiveltern geschildert, hatten sie sich nicht mehr von ihr trennen wollen.
Sie konnte sich kaum noch an ihre Ankunft in Kopenhagen erinnern, nur an eine große Düsternis, die über der Stadt und dem Haus lag, das Treppengeländer so schwarz, so gewunden, dass sie dachte, sie steige auf einen dieser Bäume, die sie auf dem Weg vom Flughafen gesehen hatte, und es roch nach Regen, etwas schwächer als in ihrer Heimat, süßlicher, wärmer, aber sie erkannte ihn wieder, seinen Geruch, seinen Klang, und die Ferne schmerzte sie, zum ersten Mal.
Der Schmerz hielt an und kehrte in regelmäßigen Abständen wieder, und jedes Mal versuchte sie zu flüchten, blieb bei Wanderungen zurück, versteckte sich im Wald, um nicht gefunden zu werden, doch immer blieb die Gruppe stehen und wartete auf sie, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ihr Versteck aufzugeben.
Vielleicht war ihr Dilemma, dass sie niemals Gemeinschaft fand, obwohl es genau das war, was sie sich sehnlich wünschte, ein Sehnsuchtswunsch, nicht nur Sehnsucht, nicht nur Wunsch, sondern die Kombination aus beidem, aber selbst wenn sich Sara einem anderen Menschen anvertraute, gab es diese Distanz zwischen ihnen, das Fremdsein, das sich zwischen sie schob und eine echte Vertrautheit unmöglich machte, und nicht einmal sich selbst lernte sie kennen, weil sie es verlernt hatte, nach sich selbst zu fragen. Die einzige Zuflucht schien in der Fremde zu liegen, die aus der Entfernung stets ein Ort der Geborgenheit war, sobald sie aber betreten wurde, trat ihre Fremdheit zurück, und Sara musste sich eingestehen, dass das Ferne auch eine Heimat war, für alle anderen, aber nicht für sie.
Vierzehn Jahre später packte sie einen Rucksack und verließ nach einem stummen Abschied das Haus ihrer Adoptiveltern, um den Ort aufzusuchen, an dem sie etwas zurückgelassen hatte, das sie Heimat nennen wollte. Zumindest glaubte sie dies tun zu müssen, das Gefühl verfolgte sie, sie hätte damals, als sie sich für die andere, größere Welt entschied, die Gelegenheit verpasst, zur Ruhe zu kommen, geborgen zu sein. Sie glaubte, diesen Moment wiederherstellen zu können: Sie bräuchte nichts anderes zu tun, als an den Ort zurückzukehren, an dem sie die falsche Entscheidung getroffen hatte, und das Leben würde einen anderen Verlauf nehmen und sie wäre endlich glücklich –
und doch steckte sie vor der Abreise den ganzen Vorrat an Schlaftabletten ein, den sie besaß.
Allzu oft erscheint es Sara, als würde sie an einer Klippe entlanggehen. An schlechten Tagen läuft sie am äußersten Rand, balanciert gerade noch an der Kante, an guten Tagen bewegt sie sich von ihr weg ins Innere des Gebirges. Manchmal rutscht sie ab, sie hört das leise Bröckeln der Steine, und in dem Moment denkt sie, es wäre eigentlich gar nicht so schlimm abzurutschen, endlich abzurutschen, loszulassen: als hätte sie viel zu lange an etwas festgehalten, das nie bei ihr bleiben wollte, das nie zu ihr gehörte.
Auf dem Heimweg, den Kirchturm im Blick, der abends von vier Straßenlaternen, mehr als das durchschnittliche Gebäude in Amarâq, dottergelb beleuchtet wird, malt sich Inger aus, wie sie Sofie die Geschichte zu Ende erzählen, wie sie sagen würde:
Der Schnee hatte begonnen zu fallen, die Gipfel der Berge waren in Nebel gehüllt, auf der See ein Sturm, der nicht aufhörte, sich zu drehen, bis er erwachsen war, dann entfaltete das Wasser seine Flügel und peitschte den Entführern ins Gesicht, das Boot begann, Wellen zu schlucken, und Niels verdoppelte, verdreifachte seine Geschwindigkeit, und die Winde verdoppelten, verdreifachten ihre Kraft, das Boot drohte zu kentern, und Niels holte auf, da beschwor Inger ihre Brüder umzukehren, sie würden es in diesem Unwetter niemals schaffen, sie musste sie anflehen, ihnen drohen und mit ihnen streiten, bis sie endlich nachgaben, ihr Vater aber war so wütend, dass er sie an den Armen packte und über die Reling ins Wasser werfen wollte, doch sie hielt sich mit einer Hand am Bootsrand fest, und als sie nicht losließ, schlug er gegen die Finger seiner Tochter und hätte ihr die Hand gebrochen, wenn sich das Meer nicht plötzlich beruhigt hätte und der Sturm, aufgezehrt, mit einem Gurgeln versunken wäre.
Sobald sie wieder an Land waren, flüsterte sie ihren Hunden zu: Beißt meinem Vater die Füße ab.
Drei Tage lang verweigerte sie ihnen das Futter. Schließlich konnten es die Hunde kaum noch erwarten, sie stürzten sich auf ihn, schnappten nach seinen Armen und zerbissen seine Beine.
Am Abend darauf packte Inger Sofie, ihre Kleider, die zwei Bücher, die ihr gehörten, das Fotoalbum, den Kochtopf und etwas Geschirr und verließ Niels –
aber etwas wurde ihr in dieser Nacht genommen, etwas zerbrach in ihr.