5   Per läuft am Krankenhaus vorbei. Abrupt bleibt er stehen. Die Schule mit dem neuen Hof, dahinter der große Pilersuisoq, der Allesmarkt, und die Sporthalle, die nur zu sehen sind, weil sie jeweils von einer Straßenlaterne beleuchtet werden. Dahinter das Waisenhaus mit dem eingezäunten Spielplatz, mehr ein Käfig, die Gitter reichen bis in den Himmel.

Er fühlt sich hilflos, als er vor dem Haus seiner Kindheit steht, im Grunde ein Bau und kein Gebäude, ein Koloss, und ihm scheint, dass, wohin er auch geht, alle Wege an diesen Ort zurückführen, an dem er landete, weil ihn sonst niemand aufnehmen wollte. An dem seine Familie lebte, die ihn aber ablehnte, ihn, der kein Mitglied war, sondern ein Gast, der Unannehmlichkeiten bereitete, Forderungen stellte, die unerfüllbar waren, ganz gleich, wie gering sie auch waren, und er erinnert sich, dass er aus dem Fenster immer die Kinder beobachtete, die mit ihren Eltern spielten oder spazieren gingen, und er sich dachte, dass er sich mit einem Bruchteil dessen begnügen würde, und er erinnert sich, dass er glaubte, in Poul den ewigen Spaziergänger gefunden zu haben, einen Bruder und Freund, der immer für ihn da wäre –

aber auch Poul verließ ihn, noch dazu auf eine Art und Weise, die ein Wiedersehen unmöglich machte.

Sein Blick bleibt an den Bergen um Amarâq hängen, sie sind das Publikum, die Stadt ist die Bühne und ihre Bewohner sind Schauspieler, tagsüber. Bei Nebel ist das Theater geschlossen und der Vorhang fest zugezogen, und nachts leuchtet einzig das Licht im Olymp, am Gipfeleis, das in einem etwas helleren Schwarz am Himmel schwebt –

ein Polarlicht der anderen Art.

Polarlichter, erzählt man sich in Amarâq, sind die Spur der Seelen, die den Körper verlassen haben, auf der Suche nach einem neuen Wirt.

Per überlegt, bei wem er heute Nacht unterschlüpfen könnte.

Magnus nimmt so viele Gürtel und Tücher, wie er zusammenraffen kann, und legt sie auf das Bett, während sie Ole nach Längeund Belastbarkeitsortiert.

Du kannst aufhören. Wir haben genug.

Auf dem Haufen liegen fünf Tücher und zwei Gürtel. Letztere schiebt Magnus in die Mitte.

Sie sind sehr hart und alt, sie könnten reißen.

Es sind die Besitztümer seiner Mutter, ihr Name, die Bezeichnung Mutter, ist für Magnus ein Sinnbild für tiefes, leeres Schweigen. Bis heute weiß er nicht, was ihr zugestoßen ist, warum sie ihn niemals besuchte, ob sie noch lebt oder ob sie starb. Als Kind durchforstete er die Gespräche seiner Verwandtschaft und schrieb die Sätze auf, die über sie gesprochen wurden, damit er sie nicht vergaß. Er schrieb sie in ein kleines quadratisches Heft, das er in ihren Sachen fand, in ihrem Zimmer, das nun seines ist. Es war unbeschrieben, die Seiten waren zum Teil zerknittert, sie musste es bei sich getragen haben, es hatte Eselsohren und auf der Innenseite des Umschlags Kulistriche, als hätte sie ausprobiert, ob der Stift etwas taugte.

Mit der Zeit wuchs seine Zitate-Sammlung, aber selbst nach mehrmaligem Lesen, das oft in ein Nachbuchstabieren der Sätze mündete, wusste er nicht mehr über ihr Leben als zuvor. Manchmal schien es ihm, als sei sie gleich nach seiner Geburt weggegangen, in die Hauptstadt in den Westen, dann glaubte er herauszulesen, dass sie in Kopenhagen sei, dann wieder sprachen die Großeltern und Janus in einer Vergangenheitsform von ihr, als sei sie schon lange tot –

die Stille aber, die zwischen den Sätzen stand, schien zu sagen, es habe sie niemals gegeben.

Nehmen wir diese zwei.

Magnus nimmt den roten und den blauen Schal. Sie sind, bis auf die Farbe, identisch und aus dünner Baumwolle, er zieht an den Enden, um den Stoff zu prüfen: reißfest.

Ich denke, die werden halten.

Mikileraq lässt das Badetuch sinken. Sie steht reglos in der Mitte des Raumes, auf der weißen Badematte, weicht der Reflexion im Spiegel aus und glaubt sich doch gefangen im Glas, so senkt sie den Blick, während die Tropfen, zunächst Tausende, Abertausende von ihrem Rücken, den Haaren, den Schultern, den Brüsten und der Hüfte abperlen, zu Boden fallen; der Rest verdunstet, verschwindet.

So wie das Wasser auf der Haut langsam an Fläche verliert, lösen sich auch ihre Gedanken auf. Ihr Kopf ist leer, nein, er ist gelähmt, er bewegt sich nicht, würde sie sagen, weil er nicht kann. Es ist wie in diesen Träumen, man weiß, dass der Verfolger immer näher und näher rückt, aber man kann sich nicht bewegen, und jeden Augenblick wird seine Hand einen zuerst antippen, danach packen, und die Angst vor diesem Moment lässt einen zusätzlich erstarren. Wenn man schließlich zur Besinnung kommt und doch noch einen Versuch wagt, ist es bereits zu spät –

ein Schuss.

Der Laut dringt zu ihr durch, doch noch immer kann sie sich nicht bewegen. Sie registriert Stimmen auf der Straße, sie träufeln in ihr Ohr, mit jeder Minute werden es mehr, schließlich ein Stimmenteich, Rufe, Schritte, die sich entfernen und wieder nähern, Mikileraq hört diese Geräuschkulisse, es ist ein einziger Ton, der an- und abschwillt, eigenartige Höhen und Tiefen birgt, eine Sprache, die aus Stimmen und Geräuschen besteht. Ihrer Haustür, die sich öffnet und schließt. Bestürzung. Ungeduld. Und nun erkennt sie ein Wort. Arzt. Und dann ein zweites. Tot. Sie wickelt das Tuch um ihren Körper, als sie bemerkt, dass sie fröstelt; sie geht zum Fenster, löst den Riegel und öffnet es. Erkennt auf der Straße eine Gruppe von Leuten, die sich über etwas oder jemanden beugen, sie mutmaßt, es müsse wohl ein Mensch sein.

Sie streift sich ihr Nachthemd über und verlässt das Badezimmer.

Vor dem Pakhuset steht die nächste Gruppe und wartet auf Einlass. Lars sieht sie von weitem, er erkennt sie an den glimmenden Zigaretten in der Dunkelheit, die Punkte, die hin und her wandern. Auf den Stufen vor der Bank und Post findet die Party derjenigen statt, die gar nicht erst versuchen werden, in die Bar eingelassen zu werden, sie haben ihr eigenes Bier mitgebracht und streiten um die letzte Dose, die in der Runde weitergegeben wurde, aber unter geheimnisvollen Umständen, noch bevor sie ausgetrunken werden konnte, verschwand.

Hej, du!

Lars dreht sich nicht um, geht weiter.

Hej! Du bist gemeint!

Lars spürt, wie jemand ihn am Arm packt und festhält.

Hast du Bier?

Er schüttelt den Kopf.

Hast du welches? Na sag schon!

Nein.

Er räuspert sich.

Nein!

Hast du Geld?

Nein.

Die Gruppe umringt ihn. Es sind auch Jugendliche dabei, die ihn im Heim besuchen, alte Bekannte, aber sie halten sich im Hintergrund, sie haben Angst, denkt Lars. Er hätte auch Angst.

Dann verschwinde.

Er macht sich bereit, um den Kreis, in den er eingeschlossen ist, zu durchbrechen, vorsichtig durch die Menschenkette durchzutauchen, als er an der Schulter festgehalten wird.

Warte.

Er hat das Bier ausgetrunken.

Der erste Schlag, weiß Lars aus Erfahrung, schmerzt am meisten, ein Schmerz, der noch Tage, manchmal Wochen nachhallen, in der Erinnerung stärker werden wird. Der zweite ist schlimm, nicht so schlimm wie der erste, aber schlimm genug, auch er wird im Gedächtnis bleiben, dort mit dem ersten verschmelzen, so dass dieser heftiger scheinen wird, als er eigentlich war. An die anderen wird er sich später kaum noch erinnern, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich vor ihnen zu schützen, das Einzige, dessen er sich entsinnen wird, ist, sich gekrümmt, den Rücken gewölbt und mit Händen und Armen die Schläge und Tritte abgewehrt zu haben, die von allen Seiten auf ihn einprasselten.

Ein Geräusch weckt Sara, sie meint, es könnte ein Schuss gewesen sein.

Sie geht zum Fenster und sieht hinaus. Sie sieht nichts weiter als das Dunkel, das in Amarâq zwar klarer, aber dichter zu sein scheint als in Kopenhagen und das die Welt um sie herum neu erschafft.

Sie knipst das Licht an, setzt sich an den Schreibtisch und beobachtet den Sekundenzeiger der Wanduhr. Erst in diesem Moment wird ihr bewusst, dass die Bewegung das Ticken auslöst, sie hat es nie so gesehen: Für sie waren Ticken und Bewegen immer separate Vorgänge, zwei Einheiten, die sich für einen Augenblick finden, getrennt werden, wieder finden und getrennt werden, und im Takt des Findens hatte sie die Choreographie eines wunderschönen Zufalls gesehen, der diese Begegnung ermöglichte, unendlich oft.

Sie wendet sich von der Uhr ab und ertappt sich dabei, dass sie wartet; sie fragt sich, worauf. Sie steht auf, öffnet die Seitentasche ihres Rucksacks, entnimmt ihr eine Schachtel. Geht ins Badezimmer, lässt kaltes Wasser in den Zahnputzbecher laufen.

Eine Gruppe Jugendlicher nähert sich Anders und Idi.

Komm, gehen wir.

Idi fasst Anders am Arm, zieht ihn mit sich. Er folgt ihr ein paar Schritte, weigert sich dann aber weiterzugehen, denn er beobachtet seinen Freund Morten, der eine Dose Bier in die Hand gedrückt bekommt und aus ihr trinkt. Er nähert sich ihm.

Hej Morten!

Hej Anders!

Morten lacht, schlägt Anders auf den Rücken, Anders zuckt zurück.

Kann ich auch?

Klar.

Morten gibt ihm die Dose. Anders nimmt einen Schluck, spuckt ihn aus. Morten wird in die Menge gezogen, Anders hört sie diskutieren, sieht sie in den Hosentaschen wühlen. Er schüttet das Bier weg, stellt die Büchse auf die Erde.

Komm jetzt!

Idi stupst Anders an. Anders ignoriert sie, lacht aber und winkt, als er Lars sieht.

Hej Lars!

Lars, der ihn immer grüßt, immer ein paar Worte mit ihm spricht, ignoriert ihn heute Nacht.

Komm endlich!

Idi verschwindet im Dunkel, und mit ihr Anders; von weitem hört er die Gruppe noch streiten.

In diesem Moment steht Per vor dem Haus seiner Kindheit und kann den Gedanken nicht abschütteln, dass alle Wege zu diesem einen Gebäude führen, zum Waisenhaus; dass die Straße, nein, dass ganz Amarâq so gebaut wurde, dass man auf dieses Haus zusteuern muss, selbst wenn man es nicht will und man noch so sehr versucht, ihm auszuweichen –

am Ende steht man doch wieder davor, vor der geschlossenen Tür.

Das Gewehr ist geladen.

Er hält den Lauf gegen seine Brust und drückt ab.