1.
Die Tür des kleinen Minimarkts hängt geborsten und schief im Rahmen. Ich gehe vorsichtig hindurch, wohl wissend, dass ich nicht die Erste bin, die hier nach Nahrung sucht. Gleich hinter dem Eingang ist ein Karton mit einem Dutzend Eiern vom Regal gefallen. Das schwefelgelbe Innere ist längst auf dem Boden verkrustet. Der Rest des Ladens sieht nicht viel besser aus als die Eier. Die meisten Regale sind leer, und etliche Vitrinen sind umgekippt worden. Ohne hinzuschauen, registriere ich die Kamera in einer Ecke oben an der Decke, und als ich weiter in den Raum gehe, dringt mir ein widerlicher Gestank in die Nase. Ich rieche die verfaulten Lebensmittel, die verdorbenen Milchprodukte in den offenen Kühlregalen, die nicht mehr mit Strom versorgt werden. Ich nehme auch noch einen anderen Geruch wahr, den ich, so gut ich kann, ignoriere, während ich mich weiter umsehe.
Zwischen zwei Gängen liegt eine aufgeplatzte Tüte Tortilla-Chips auf dem Boden. Ein Fußabdruck hat den verschütteten Haufen größtenteils zerkrümelt. Ein großer Fußabdruck mit einem deutlich erkennbaren Absatz. Ein Arbeitsstiefel, vermute ich. Er gehört einem der Männer – nicht Cooper, der behauptet, schon seit Jahren keine Stiefel mehr zu tragen. Julio vielleicht. Ich gehe in die Hocke und hebe einen Tortilla-Chip auf. Wenn er noch knusprig ist, weiß ich, dass der Stiefelbesitzer erst kürzlich hier war. Ich zerbrösele den Chip mit den Fingern. Er ist weich und alt. Er verrät mir nichts.
Ich überlege, den Chip zu essen. Seit der Hütte habe ich nichts mehr gegessen, das letzte Mal, bevor ich krank wurde, und das ist Tage her, vielleicht eine Woche, keine Ahnung. Vor lauter Hunger spüre ich keinen Hunger mehr. Vor lauter Hunger habe ich meine Beine nicht mehr richtig unter Kontrolle. Zu meiner eigenen Verblüffung stolpere ich ständig über Steine und Wurzeln. Ich sehe sie, und ich will einen Schritt über sie hinweg machen, ich meine, dass ich einen Schritt über sie hinweg mache, aber dann bleibe ich mit der Schuhspitze hängen und gerate ins Straucheln.
Ich denke an die Kamera, stelle mir vor, dass mein Mann dabei zusieht, wie ich Tortilla-Chips vom Boden eines Minimarkts in mich reinstopfe. Das ist es nicht wert. Sie müssen mir noch irgendwas anderes hiergelassen haben. Ich lasse den Chip fallen und richte mich schwerfällig auf. Von der Bewegung wird mir schwindelig. Ich warte, bis ich das Gleichgewicht wiedergefunden habe, gehe dann an der Obst- und Gemüseauslage vorbei. Dutzende faulige Bananen und verschrumpelte braune Kugeln – Äpfel? – sehen mich an. Ich weiß jetzt, was Hunger ist, und es macht mich wütend, dass sie so viel haben verderben lassen, nur damit die Atmosphäre stimmt.
Schließlich etwas Glänzendes unter einem Regal. Ich gehe auf alle viere. Der Kompass, den ich an einer Kordel um den Hals trage, rutscht mir heraus und knallt auf den Fußboden. Als ich den Kompass wieder zwischen Hemd und Sport-BH stecke, fällt mir auf, dass der hellblaue Farbtupfer am unteren Rand fast komplett abgescheuert ist. Müde, wie ich bin, muss ich mir ganz bewusst sagen, dass das nicht von Belang ist; es bedeutet bloß, dass sie dem Praktikanten, der dafür zuständig war, billige Farbe gegeben haben. Ich bücke mich tiefer. Unter dem Regal liegt ein Glas Erdnussbutter. Ein kleiner Riss zieht sich vom Deckel nach unten und verschwindet hinter dem Etikett, genau über dem O in Bio. Ich streiche mit einem Finger über den Sprung im Glas, kann ihn aber nicht spüren. Natürlich haben sie mir Erdnussbutter dagelassen. Ich kann Erdnussbutter nicht ausstehen. Ich stecke das Glas in meinen Rucksack.
Die Kühlregale sind leer bis auf ein paar Dosen Bier, die ich nicht nehme. Ich hatte auf Wasser gehofft. Eine von meinen Trinkflaschen ist leer, und die zweite, die seitlich an meinem Gürtel schwappt, ist nur noch ein viertel voll. Vielleicht waren ein paar von den anderen vor mir hier. Sie haben daran gedacht, ihr ganzes Wasser abzukochen, und haben nicht Tage damit verloren, allein im Wald zu kotzen. Wer immer den Fußabdruck hinterlassen hat – Julio oder Elliot oder dieser nerdige asiatische Typ, dessen Namen ich mir nicht merken kann –, er hat sich die besten Sachen geschnappt, und wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben mit einem gesprungenen Glas Erdnussbutter.
Der einzige Teil des Ladens, den ich noch nicht abgesucht habe, ist hinter der Kasse. Ich weiß, was mich da erwartet. Der Geruch, den ich krampfhaft ignoriere, verrät es mir: verdorbenes Fleisch und tierische Exkremente, ein Hauch Formaldehyd. Ich weiß, was sie wollen: Der Geruch soll mich an menschlichen Tod denken lassen.
Ich ziehe mir das Shirt über die Nase und nähere mich der Kasse. Die Attrappe ist genau da, wo ich sie erwartet habe, liegt mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden hinter der Ladentheke. Der hier haben sie ein Flanellhemd und eine Cargohose angezogen. Ich atme durch mein Shirt, trete hinter die Theke und steige über die Attrappe hinweg. Die Bewegung scheucht einen Schwarm Fliegen auf, die zu mir hochschwirren. Ich spüre ihre Beine, ihre Flügel, ihre Fühler an meiner Haut kribbeln. Mein Puls beschleunigt sich, und mein Atem weht hoch, lässt den unteren Rand meiner Brille beschlagen.
Nur eine weitere Challenge, sage ich mir. Mehr ist das hier nicht.
Ich sehe eine Tüte Studentenfutter auf dem Boden. Ich hebe sie auf und weiche zurück, durch die Fliegen hindurch, über die Attrappe. Zur geborstenen und schiefen Tür hinaus, die klatschend zuschlägt, als wollte sie meinen Abgang mit höhnischem Applaus quittieren.
»Ihr Arschlöcher«, flüstere ich, die Hände auf die Knie gestützt, die Augen geschlossen. Sie werden das rausschneiden müssen, aber egal, scheiß auf sie. Fluchen ist nicht gegen die Regeln.
Ich spüre den Wind, kann aber den Wald nicht riechen. Ich rieche nur den Gestank der Attrappe. Die erste roch nicht so schlimm, aber die war frisch. Diese hier und die in der Hütte sollen älter wirken, denke ich. Ich schnäuze mich kräftig in Windrichtung, aber ich weiß, ich werde den Geruch noch stundenlang in der Nase haben. Bis dahin kann ich nichts essen, ganz gleich, wie dringend mein Körper Kalorien braucht. Ich muss weiter, weg von hier. Wasser finden. Ich sage mir das, werde aber einen anderen Gedanken nicht los – die Hütte und die zweite Attrappe. Die in Himmelblau gehüllte Puppe. Die erste echte Challenge dieser Phase ist zu einer gallertartigen Erinnerung geworden, die mein Bewusstsein trübt.
Denk nicht dran, sage ich mir. Die innere Beschwörung ist vergeblich. Noch etliche Minuten lang höre ich das Geschrei der Puppe im Wind. Und dann – genug jetzt – reiße ich mich los und stopfe die Tüte Studentenfutter in meinen schwarzen Rucksack. Ich schnalle ihn um und putze meine Brille mit dem Saum des langärmeligen Mikrofaser-T-Shirts, das ich unter der Jacke trage.
Dann mache ich das, was ich fast jeden Tag mache, seit Wallaby nicht mehr da ist: Ich gehe los und suche nach Hinweisen und Anhaltspunkten, den sogenannten Clues. Wallaby hatte ich ihn getauft, weil die Kameramänner uns ihre Namen nicht verrieten, und wenn er frühmorgens auftauchte, erinnerte mich das an meinen Campingtrip durch Australien, den ich vor vielen Jahren gemacht habe. Als ich an meinem zweiten Tag morgens in einem Nationalpark an der Jervis Bay aufwachte, saß ein graubraunes Sumpfwallaby im Gras und sah mich an. Nur etwa zwei Schritte entfernt. Ich hatte meine Kontaktlinsen über Nacht dringelassen; meine Augen brannten, doch ich konnte den hellen Fellstreifen über der Wange des Wallabys deutlich sehen. Es war wunderschön. Der Blick, den ich im Gegenzug für meine Ehrfurcht erntete, wirkte abschätzend und eindrucksvoll, aber auch völlig unpersönlich: ein Kameraobjektiv.
Die Analogie passte natürlich nicht ganz. Der menschliche Wallaby war bei weitem nicht so hübsch wie das Beuteltier und wäre auch nicht davongehüpft, wenn ein Nachbarcamper aufgewacht und »Känguru!« geschrien hätte. Aber Wallaby kam immer als Erster, richtete als Erster seine Kamera auf mein Gesicht, ohne guten Morgen zu sagen. Und als sie uns im Gruppencamp allein ließen, war er derjenige, der gerade lange genug wieder auftauchte, um die gewünschten Videobeichten zu filmen. Verlässlich wie der Sonnenaufgang bis zum dritten Tag dieser Solo-Challenge, als die Sonne ohne ihn aufging, ohne ihn am Himmel entlangwanderte, ohne ihn unterging – und ich dachte, Irgendwann musste es ja so kommen. Im Vertrag stand, dass wir lange Zeit allein unterwegs sein würden, aus der Ferne beobachtet. Ich war darauf gefasst, freute mich sogar darauf, nicht mehr unverhohlen, sondern diskret beobachtet und beurteilt zu werden. Jetzt wäre ich heilfroh, wenn Wallaby durch den Wald gestapft käme.
Ich bin es so satt, allein zu sein.
Der Spätsommernachmittag verrinnt. Die Geräusche um mich herum überlagern sich: das Schlurfen meiner Schritte, der Trommelwirbel eines Spechts in der Nähe, das Rascheln des Laubs im verspielten Wind. Sporadisch fällt ein anderer Vogel mit ein, sein Ruf ein weiches tschip tschip tschip tschippi tschip. Der Specht war einfach, aber diesen zweiten Vogel kenne ich nicht. Um mich von meinem Durst abzulenken, stelle ich mir vor, was für ein Vogel zu diesem Ruf passen würde. Sehr klein müsste er sein. Mit leuchtenden Farben. Ich stelle mir einen Vogel vor, den es nicht gibt: kleiner als meine Faust, hellgelbe Flügel, blauer Kopf und Schwanz, am Bauch ein Muster wie glimmende Glut. Das wäre natürlich das Männchen. Das Weibchen wäre mattbraun, wie so oft bei Vögeln.
Der Ruf des Glutvogels ertönt ein letztes Mal, weit weg, und dann lässt sein Fehlen den Gesamteindruck verblassen. Mein Durst kehrt zurück, richtig stark. Der Druck in den Schläfen signalisiert, dass ich dehydriert bin. Ich greife nach meiner fast leeren Trinkflasche, spüre, wie leicht sie ist, befingere den Stoff des verkrusteten Bandanas, das ich an die Deckelschlaufe gebunden habe. Ich weiß, mein Körper kann einige Tage ohne Wasser auskommen, aber die Trockenheit im Mund ist unerträglich. Ich trinke einen kleinen Schluck und lecke die verbliebene Feuchtigkeit von den Lippen. Ich schmecke Blut. Ich hebe die Hand. Als ich sie wieder sinken lasse, ist die Rückseite meines Daumens rot verschmiert. Sobald ich das sehe, spüre ich den schmerzhaften Riss in meiner aufgesprungenen Oberlippe. Ich weiß nicht, wie lange ich den schon habe.
Ich brauche dringend Wasser. Ich bin seit Stunden unterwegs, glaube ich. Mein Schatten ist jetzt deutlich länger als zu dem Zeitpunkt, als ich den Laden verlassen habe. Ich bin an einigen Häusern vorbeigekommen, aber an keinen Läden mehr und an nichts, was blau markiert war. Noch immer habe ich den Geruch der Attrappe in der Nase.
Während ich dahintrotte, versuche ich, auf die Knie meines Schattens zu treten. Es ist unmöglich, aber es lenkt mich ab. Es lenkt mich so sehr ab, dass ich den Briefkasten erst bemerke, als ich schon fast daran vorbei bin. Er hat die Form einer Forelle, und die Hausnummer besteht aus hölzernen Schuppen in allen Farben. Neben dem Briefkasten ist die Mündung einer langen Zufahrt, die sich zwischen Weißeichen und vereinzelten Birken hindurchwindet. Am Ende der Zufahrt muss ein Haus sein, aber ich kann es nicht sehen.
Ich will nicht dorthin. Ich habe kein Haus mehr betreten, seit mich etliche hellblaue Ballons zu einer Hütte führten, die innen blau war. Überall Hellblau. Dämmriges Licht und ein Teddybär, der mich beobachtete.
Ich kann das nicht.
Du brauchst Wasser! Sie werden denselben Trick nicht zweimal anwenden.
Ich gehe die Zufahrt hoch. Jeder Schritt ist mühsam, und ich stolpere immer wieder. Mein Schatten ist rechts von mir, klettert an Baumstämmen hoch und springt wieder herab, wenn ich sie passiere, so leichtfüßig, wie ich schwerfällig bin.
Bald sehe ich eine wuchtige Villa im Tudor-Stil, deren grauweißer Anstrich dringend einmal aufgefrischt werden müsste. Das Haus versinkt fast in einem verwilderten Rasen, und als Kind hätte ich mir eingeredet, dass es darin spuken muss. Ein roter SUV parkt davor, versperrt mir die Sicht auf die Haustür. Nachdem ich so lange auf den Beinen bin, kommt mir der SUV wie ein außerirdisches Etwas vor. Die Regeln verbieten, ein Fahrzeug zu benutzen, und der Wagen ist nicht blau, aber er steht da, und vielleicht hat das etwas zu bedeuten. Ich gehe langsam auf den SUV und das Haus zu. Vielleicht haben sie ja einen Kasten Wasser hinten ins Auto gestellt. Dann muss ich nicht reingehen. Der SUV ist mit getrocknetem Schlamm bespritzt. Es sieht aus wie ein Tintenkleckstest, aber ich kann keine Bilder erkennen.
Tschip tschip tschip, höre ich. Tschippi tschip.
Mein Glutvogel ist wieder da. Ich lege lauschend den Kopf schief, um die Richtung abzuschätzen, wo der Vogel ist, und dabei nehme ich ein weiteres Geräusch wahr: das leise Murmeln von plätscherndem Wasser. Erleichterung durchströmt mich, weil ich nicht in das Haus muss. Der Briefkasten sollte mich lediglich zu dem Bach führen. Ich hätte es auch so hören müssen, aber ich bin zu müde, zu durstig – ich brauchte den Vogel, um mich weniger auf das zu konzentrieren, was ich sehe, und mehr auf das, was ich höre. Ich drehe mich um und folge dem Geräusch von fließendem Wasser. Der Vogel ruft erneut, und ich flüstere lautlos danke. Meine gesprungene Lippe brennt.
Während ich zurückgehe, um den Bach zu finden, denke ich an meine Mutter. Auch sie würde denken, dass ich den Briefkasten finden sollte, aber in ihren Augen wäre die führende Hand nicht die des Produzenten. Ich stelle mir vor, wie sie in ihrem Wohnzimmer sitzt, eingehüllt in eine Wolke Zigarettenrauch. Ich stelle mir vor, wie sie zuschaut und jeden meiner Erfolge als Bestätigung und jede meiner Enttäuschungen als Lektion deutet. Meine Erfahrungen als ihre eigenen vereinnahmt, wie sie das immer getan hat. Weil es mich ohne sie nicht geben würde, und das hat ihr immer genügt.
Ich denke auch an meinen Vater, nebenan in der Bäckerei, wie er mit Gratis-Kostproben und Bauernschläue Touristen bezirzt, während er versucht, diese nach Tabak riechende Frau zu vergessen, mit der er seit einunddreißig Jahren verheiratet ist. Ich frage mich, ob auch er mir jetzt zuschaut.
Dann sehe ich den Bach, ein mickriges und doch herrliches Bächlein, nicht weit von der Zufahrt. Ein Energiestoß durchfährt mich, und mein Inneres wird vor Erleichterung ganz weich. Ich sehne mich danach, mir das kalte Nass mit hohlen Händen an die Lippen zu schöpfen. Stattdessen trinke ich den letzten Rest warme Flüssigkeit aus meiner Flasche – höchstens ein halber Becher. Ich hätte ihn wahrscheinlich schon eher trinken sollen; es sind schon Leute verdurstet, während sie Wasser sparten. Aber das war in heißeren Klimazonen, in Gegenden, wo die Sonne einem die Haut wegbrennt. Nicht hier.
Nachdem ich getrunken habe, folge ich dem Bachlauf und halte Ausschau nach bedenklichem Unrat, toten Tieren oder Ähnlichem. Ich will nicht noch einmal krank werden. Ich gehe etwa zehn Minuten am Ufer entlang, entferne mich mehr und mehr von dem Haus. Schon bald komme ich zu einer Lichtung mit einem riesigen umgestürzten Baum am Rand, gut zwanzig Schritte vom Wasser entfernt, und ich fange gewohnheitsmäßig an, eine kreisrunde Fläche freizuräumen und Holz zu sammeln. Das Holz sortiere ich in vier Haufen. Der ganz links besteht aus Zweigen, die dünner als ein Bleistift sind, der ganz rechts aus Ästen dicker als mein Handgelenk. Als ich genug Brennholz für ein paar Stunden zusammenhabe, hebe ich einige trockene Kringel Birkenrinde auf, zerrupfe sie zu Zunder und lege alles auf ein festes Stück Rinde.
Ich löse den Karabinerhaken, den ich an einer Gürtelschlaufe auf der linken Hüfte trage. Mein Feueranzünder gleitet von dem silbrigen Metall in meine Hand, die sonnenverbrannt und dreckverkrustet ist. Der Anzünder sieht ein bisschen so aus wie ein Schlüssel und ein USB-Stick zusammen an einer orangen Schnur. Das war mein erster Gedanke, als ich ihn nach der ersten Challenge durch eine Kombination aus Geschick und Zufall ergatterte. Damals, an Tag eins, sah ich die Kamera immer und überall und fand alles einfach nur aufregend, sogar die langweiligen Sachen.
Ich ziehe den Anzünder ein paarmal rasch über den Feuerstahl, und schon beginnt der Zunder zu qualmen. Vorsichtig nehme ich ihn in die Hand und puste, was zunächst noch mehr Rauch erzeugt und schließlich winzige Flämmchen. Ich hake den Anzünder rasch wieder an meine Gürtelschlaufe, lege dann mit beiden Händen den Zunder mitten in meinen freigeräumten Kreis. Als ich weiteren Zunder hinzufüge, wachsen die Flammen, und Rauch füllt meine Nase. Ich lege erst die kleinsten Zweige nach, dann größere. Nach wenigen Minuten lodert ein kräftiges Feuer, obwohl es auf den Fernsehbildschirmen wahrscheinlich nicht viel hermacht. Die Flammen sind bloß dreißig Zentimeter hoch, aber mehr brauche ich nicht – ich will kein Signalfeuer, sondern Wärme.
Ich hole meine Edelstahltasse aus dem Rucksack. Sie ist verbeult und leicht angekohlt, aber noch immer dicht. Ich schöpfe sie voll Wasser und stelle sie dann dicht ans Feuer. Während ich darauf warte, dass das Wasser heiß wird, zwinge ich mich, einen Fingervoll Erdnussbutter zu essen. Nachdem ich so lange nichts zu mir genommen habe, hätte ich gedacht, dass selbst das, was ich am wenigsten mag, himmlisch schmecken würde, aber die Erdnussbutter ist widerlich, zäh und salzig, und sie klebt mir am Gaumen. Ich bearbeite die gummiartige Masse mit meiner trockenen Zunge und denke unwillkürlich, dass ich lächerlich aussehen muss, wie ein Hund. Ich hätte bei der Bewerbung eine Allergie vortäuschen sollen, dann hätten sie mir etwas anderes dalassen müssen. Aber vielleicht wäre ich dann gar nicht genommen worden. Mein Gehirn ist zu verkrampft, um mir darüber Gedanken zu machen, wo ich jetzt wohl wäre, wenn sie mich abgelehnt hätten.
Endlich kocht das Wasser. Ich lasse etwaigen Mikroben ein paar Minuten Zeit, um abzusterben, benutze dann meinen zerfransten Jackenärmel als Topfhalter und ziehe die Tasse vom Feuer weg. Sobald das Brodeln aufhört, gieße ich das abgekochte Wasser in eine meiner Trinkflaschen, die etwa ein Drittel voll wird.
Der zweite Schwung kocht schneller. Erneut kippe ich das Wasser in die Flasche, und nach der dritten Runde ist sie voll. Ich drehe den Verschluss fest zu und ramme die Trinkflasche in den schlammigen Grund des Bachs, so dass kaltes Wasser fast bis zum Rand über den Kunststoff fließt. Das hellblaue Bandana treibt in der Strömung. Als ich die zweite Flasche gefüllt habe, ist die erste schon fast kalt. Ich fülle die Tasse und stelle sie wieder ans Feuer, trinke dann ein paar Schlucke aus der abgekühlten Flasche, spüle den Erdnussbutterrest hinunter. Ich warte ein paar Minuten und trinke noch einmal ebenso viel wie zuvor. Mit diesen kleinen Mengen in gleichmäßigen Abständen leere ich die Flasche. Das Wasser in der Tasse kocht wieder, und ich spüre allmählich, wie meine Gehirnzellen rehydrieren, meine Kopfschmerzen nachlassen. Vermutlich ist die ganze Arbeit unnötig; der Bach ist klar und fließt schnell. Das Wasser ist aller Wahrscheinlichkeit nach ungefährlich, aber auf diese Wette habe ich mich schon einmal eingelassen und verloren.
Als ich die letzte Tasse abgekochtes Wasser in meine Flasche gieße, fällt mir ein, dass ich mir noch keinen Wetterschutz gebaut habe. Der Himmel ist bewölkt, und es könnte Regen geben. Ich stemme mich auf die Beine, verziehe das Gesicht, weil meine Hüften so steif sind. Ich hole mir fünf dicke Äste aus dem Wald und lehne sie gegen die windabgewandte Seite des umgestürzten Baumes, den längsten zuerst, den kürzesten zuletzt, so dass ein dreieckiges Gebilde entsteht, gerade breit genug, um hineinzukriechen. Ich ziehe eine schwarze Mülltüte aus meinem Rucksack – ein Abschiedsgeschenk von Tyler, überraschend, aber willkommen – und breite sie über das Gerüst. Während ich anschließend mit den Armen welkes Laub über das Plastikdach schaufele, denke ich an die wichtigsten Überlebensregeln.
Die Dreierregel: Selbstüberschätzung kann dich in drei Sekunden töten; Sauerstoffmangel kann dich in drei Minuten töten; Unterkühlung in drei Stunden, Dehydrierung in drei Tagen und Hunger in drei Wochen. Oder waren es drei Monate? Wie auch immer, Hunger ist meine geringste Sorge – ich fühle mich zwar schwach, aber es ist noch nicht so lange her, dass ich zuletzt etwas gegessen habe. Sechs oder sieben Tage höchstens, und das ist großzügig gerechnet. Unterkühlung muss ich auch nicht befürchten; selbst wenn es diese Nacht regnet, wird es nicht so kalt werden, dass es mich umbringt. Selbst ohne Wetterschutz würde es zwar nass und ungemütlich für mich, aber wohl nicht gefährlich.
Aber ich möchte es nicht nass und ungemütlich haben, und so verschwenderisch das Budget für diese Produktion auch sein mag, sie können keine Kameras in einem Unterschlupf haben, den ich gerade erst gebaut habe. Ich schaufele weiter Laub auf das Plastikdach, und als eine Wolfsspinne von der Größe einer Vierteldollarmünze meinen Ärmel hochhuscht, zucke ich zusammen. Von der jähen Bewegung fühlt mein Kopf sich plötzlich schwerelos an, als säße er nicht mehr fest auf meinem Hals. Die Spinne verharrt in Höhe meines Bizeps. Ich schnippe sie mit der anderen Hand weg und sehe, wie sie im Laub landet, das neben meinem Wetterschutz herumliegt. Sie verschwindet unter den Blättern, und es stört mich nicht sonderlich, schließlich sind Wolfsspinnen nur schwach giftig. Ich sammle weiter Laub und Erde, bis ich eine dicke Schicht auf dem Dach meiner Hütte habe und eine weiche Unterlage auf dem Boden im Innern.
Zum Schluss lege ich ein paar abgebrochene, beblätterte Zweige auf die Konstruktion, damit nichts runterfällt. Als ich mich wieder dem Feuer zuwende, sehe ich, dass es bis auf die Glut heruntergebrannt ist. Ich bin heute Abend völlig neben der Spur. Das hängt mit der Hütte zusammen, denke ich. Meine Nerven liegen noch immer blank. Während ich kleine Stöckchen zerbreche und auf die Glut werfe, blicke ich über die Schulter auf meinen Wetterschutz. Das Ding ist niedrig und sieht aus wie eine Bruchbude, aus der Zweige und Äste in alle Himmelsrichtungen abstehen. Ich denke daran zurück, wie sorgfältig und systematisch ich anfangs beim Bau meiner Unterschlüpfe vorgegangen bin. Sie sollten so gut aussehen wie die von Cooper und Amy. Jetzt geht es mir bloß noch um Funktionalität, obwohl die simplen Holz- und Laubkonstruktionen ehrlich gesagt alle in etwa gleich ausfallen – mit Ausnahme des großen Unterschlupfs, den wir gemeinsam gebaut haben, bevor Amy das Handtuch warf. Das war ein Prachtexemplar, mit einem Dach aus verflochtenen Ästen, wie Reet, und groß genug für uns alle, obwohl Randy etwas abseits in einem eigenen Wetterschutz schlief.
Ich trinke noch etwas Wasser und setze mich neben mein wiederbelebtes Feuer. Die Sonne ist verschwunden, und der Mond lässt auf sich warten. Die Flammen flackern, ein Schmierfleck auf meinem rechten Brillenglas verleiht ihnen den Glanz eines Strahlenkranzes.
Wieder steht mir eine einsame Nacht bevor.