16.
Am Morgen nach der Bären-Challenge lassen sich die Kameraleute nicht blicken, und in den folgenden vier Tagen sehen die Kandidaten nur selten jemanden außer einander. Der Moderator ist ebenso verschwunden wie der ständig umherlaufende Produzent und die allgegenwärtigen Praktikanten. Im Laufe dieser vier Tage machen die Kandidaten deutliche Fortschritte in Sachen Survival-Fähigkeiten. Sie sind noch lange nicht perfekt, aber von bloßem Überleben kann längst keine Rede mehr sein, hauptsächlich, weil Tracker für die gesamte Gruppe eine Art Mentor geworden ist. Am zweiten Tag bezeichnet Black Doctor ihn in Reichweite der rund ums Lager montierten Kameras und Mikrophone scherzhaft als den »Dorfältesten«.
Am dritten Morgen taucht ein Kameramann auf, still und irritierend. Er rückt den Teilnehmern mit seinem Objektiv zu dicht auf die Pelle, bis er schließlich bei Tracker ist und ihm auf den Arm klopft. Zeit für eine Videobeichte. Er lässt Tracker auf einem Baumstumpf in der Sonne Platz nehmen, in Sicht-, aber außer Hörweite der anderen. »Ja, ich könnte einfach verschwinden und allein leben«, sagt Tracker. Er hat jetzt einen Bartschatten auf Kinn und Wangen, und auf seinem Kopf zeichnet sich dunkel ein niedriger Haaransatz ab. »Die anderen würden wahrscheinlich ohne mich klarkommen. Sie würden sich durchschlagen. Sie würden lernen, sie haben schon gelernt, das gilt besonders für … Ich helfe ihnen bloß, ein bisschen schneller zu lernen.« Er stockt, blickt an dem Kameramann vorbei zu den anderen hinüber, die in einiger Entfernung vor sich hin arbeiten. »Warum? Weil es das Richtige ist. Und es ist interessanter. Ich glaube nach wie vor nicht, dass mich einer von ihnen auf lange Sicht schlagen kann, aber so fühle ich mich wenigstens ein bisschen gefordert. So werde ich nicht selbstzufrieden.«
Nach dem Interview kommt eine Montage, untermalt mit fetziger Musik. Ganz schön kitschig, ganz schön mitreißend. Air Force’ Gang wird unter Black Doctors wachsamen Augen immer sicherer. Die Kellnerin müht sich ab, eine Viererfalle zu bauen. Die Kerben, die sie ins Holz schneidet, sind stümperhaft und oft auf der falschen Seite – und dann: Es klappt. Die Kerben sind nicht perfekt, und ihre Hände sind übersät mit kleinen Schnittwunden und Blasen, aber die Falle steht, stützt wackelig das Gewicht eines langen, schweren Astes. Vor Freude kommen ihr die Tränen. Banker baut eine Schlingenfalle, die tatsächlich ein Eichhörnchen fängt. Schreiner-Girl und Ingenieur flechten aus Zweigen ein Dach für ihren Unterschlupf. Ingenieur trägt sein Bandana neuerdings als Rapper-Kopftuch. Fast alle lernen, wie man kleine Jagdbeute abzieht und ausweidet. Exorzist entpuppt sich dabei als Naturtalent. Er verwahrt den Schwanz von jedem Eichhörnchen, das er ausnimmt, lässt den Stummel trocknen und packt ihn in seinen Rucksack.
Die Kandidaten sehen bereits schlanker aus, zäher. Ihre Gesichter und Hände sind ständig schmutzig. Bios Brüste sind kleiner geworden, und im Gegenzug sind ihre attraktiven Wangenknochen stärker hervorgetreten. Alle haben einen dunkleren Teint bekommen: Das Lager liegt größtenteils im Schatten, aber sie sind immer im Freien. Zoo kümmert sich hauptverantwortlich um das Feuer, und ihre Jacke ist inzwischen gesprenkelt mit winzigen Brandlöchern von fliegenden Funken. In einer Szene steht Tracker neben ihr und unterdrückt ein Lächeln, als sie ihm ihren perforierten Ärmel zeigt, während im Hintergrund das Lagerfeuer lodert, dessen Flammen rechts und links von ihnen, aber nicht zwischen ihnen zu sehen sind. Fast jeder hat ein Loch im Knie seiner Jeans oder im Ärmelbündchen seines Shirts. Ingenieurs grüne Boxershorts lugen durch einen schmalen Riss unterhalb der Gesäßtasche.
Ein negativer Aspekt zieht sich durch die ganze Montage: Exorzist. Die Gruppe hat ihn wieder aufgenommen, und obwohl er die Geste mit offensichtlicher Demut akzeptiert hat, sabotiert er die Bemühungen der anderen. Er löst die Viererfalle der Kellnerin absichtlich mit der Schuhspitze aus und zwinkert dabei in die Kamera. Beim Feuerholzsammeln bleibt er lange weg und kommt mit so wenig Holz zurück, dass die anderen ihn verdächtigen, sich bloß ausgeruht zu haben, aber wer ihm das beweisen wollte, müsste schon aus der Sendung aussteigen und sich die Episode im Fernsehen anschauen. Sein unverschämtestes, aber heimlichstes Mätzchen: Tief in der Nacht pinkelt er in eine Trinkflasche der Kellnerin. Er schüttet die Flasche zwar danach aus und füllt sie mit sauberem Wasser, doch als die Kellnerin am nächsten Morgen daraus trinkt, bemerkt sie einen leicht säuerlichen Geschmack, den sie nicht benennen kann.
Die Montage endet mit folgender Szene: Die Kandidaten sitzen am Abend ihres dritten Gruppenlagertages zusammen am Feuer. Alle plaudern gesellig miteinander, bis auf Exorzist, der mit dem Messer die Enden seiner Wünschelrute anspitzt. Zoo bereitet den Tagesfang zu – Kaninchen –, mit Reis und Löwenzahnblättern. Schreiner-Girl sitzt neben ihr, und die beiden witzeln darüber, dass sie sich einer Kommune oder einem Kibbuz anschließen sollten. »Vielleicht machen sie bei uns Nichtjuden eine Ausnahme«, sagt Zoo, »weil wir doch jetzt Siedler sind.« Auf der anderen Seite des Feuers versucht Black Doctor, mit seinem gelben Bandana und dem blauen von Air Force einen Doppelknoten zu machen. Tracker liegt lang ausgestreckt da, die Augen geschlossen, und gönnt sich eine Pause, die er nach Meinung aller redlich verdient hat.
Plötzlich springt Exorzist auf und schleudert seine angespitzte Wünschelrute über den Kopf der Kellnerin in den dunklen Wald. Er rennt dem Ding hinterher und schreit: »Hab eins erwischt!« Die Kellnerin erschrickt, doch als Exorzist an ihr vorbeistürmt, verdreht sie bloß die Augen. »Der will sich bloß interessant machen«, sagt sie. Tracker öffnet die Augenlider einen Spalt und blickt in die Runde. Zoo gibt ihm ein Zeichen, alles in Ordnung, und er döst weiter.
An dem Abend wird ohne Wissen der Kandidaten die erste Folge von Im Dunkeln ausgestrahlt. Die Fernsehzuschauer sehen, wie Cheerleader allein loszieht; sie sehen, wie er scheitert.
Am nächsten Abend nimmt Exorzist zwei von seinen gesammelten Eichhörnchenschwänzen und bindet sie sich mit seinem Bandana über den Ohren fest. »Was denn jetzt?«, fragt Rancher, als Exorzist anfängt, mit Verbeugungen und Drehungen zu tanzen.
»Ich spüre sie«, ruft Exorzist. Er schwenkt die Arme und wirbelt im Kreis. »Ich höre sie!« Einer der Eichhörnchenschwänze löst sich und fliegt Banker auf den Schoß.
Banker hebt ihn mit spitzen Fingern auf und spielt mit dem Gedanken, ihn ins Feuer zu werfen. »Wen genau hörst du denn?«, fragt er.
Exorzist kommt zu ihm gewirbelt, reißt Banker den Schwanz aus der lockeren Hand. Und jetzt singt er: »Sie wollen, dass wir gehen! Sie flehen uns an, zu ge-he-hen!« Er hat eine unerwartet angenehme Singstimme.
»Er sollte weniger reden und mehr singen«, sagt Air Force. Black Doctor nickt.
Nach weiteren Tanzbewegungen löst sich der andere Eichhörnchenschwanz, landet als graues Flattern vor Bios Füßen. Exorzist wirft die Arme nach hinten, beugt das vorgestreckte Knie und stößt in dieser Pose ein lautes Heulen aus, so dass eine Eule erschreckt aus einem nahen Baum aufflattert. Sein Geheul verhallt, Exorzist vollführt einen Sprung und nimmt eine kerzengerade Haltung ein. »Alles in Ordnung«, erklärt er. »Die Geister sagen, wir dürfen bleiben.«
Keiner würdigt ihn eines Blickes.
Am nächsten Tag sitzen Schreiner-Girl und Zoo zusammen auf einem umgestürzten Baumstamm. Schreiner-Girl ist dabei, einen primitiven Pfannenheber zu schnitzen, während Zoo an einer Viererfalle bastelt. »Die hätten ihn gar nicht erst nehmen sollen oder wenigstens sein Kreuz konfiszieren«, sagt Schreiner-Girl. »Ich weiß«, sagt Zoo mit einem »Hast du schon mal gesagt«-Unterton. Dann blickt sie überrascht auf. Sie hört laute, schwere Schritte im Wald und weiß, dass es keiner von den anderen Kandidaten sein kann. Selbst diejenigen, die anfangs noch geräuschvoll durch den Wald gestapft sind, haben dazugelernt und wissen inzwischen, dass sie sich vorsichtig, wenn schon nicht lautlos bewegen sollten. Diese Schritte sind stolz und zerstörerisch. Sie sind fremd. Auch Schreiner-Girl hebt den Kopf, und einen Moment später erscheint der Moderator, adrett und arrogant wie immer, mit mehreren Kameramännern im Schlepptau.
»Guten Morgen!«, sagt er mit dröhnender Stimme. Zoo und Schreiner-Girl wechseln einen Blick, und Zoo flüstert: Morgen? Sie sind seit Sonnenaufgang wach; zehn Uhr kommt ihnen sehr viel später vor als dem Moderator, der erst vor zwei Stunden aufgestanden ist. »Kommt bitte aller her, es ist Zeit für eure nächste Challenge.«
Alle außer Tracker und Air Force, die unterwegs sind, um Fallen zu überprüfen, versammeln sich rasch um den umgestürzten Baum. Der Produzent am Set sagt in ein Funkgerät: »Holt sie her.« Vierzehn Minuten später zieht Air Force die blonden Augenbrauen hoch, als er den Moderator sieht. Tracker zeigt keinerlei Überraschung; er empfindet keine. Als ein Kameramann bei ihnen aufgetaucht ist und ihnen seelenruhig mitgeteilt hat, sie sollten ins Lager zurückkehren, hat er sich gleich gedacht, dass wieder eine Challenge ansteht.
»Was ihr alle in den letzten Tagen als Gruppe geleistet habt, ist sehr beeindruckend«, sagt der Moderator. »Aber jetzt heißt es, sich der nächsten Team-Challenge zu stellen.« Er bittet die Kellnerin und Air Force zu sich. »Als Gewinner unserer letzten Challenge« – Überraschung zeichnet sich im Gesicht der Kellnerin ab; ihr Sieg ist doch schon so lange her – »dürft ihr beide euch je drei Teampartner aussuchen. Die verbliebenen Kandidaten bilden dann ein drittes Team.«
»Ad tenebras dedi«, sagt Schreiner-Girl.
Selbst der Moderator ist für einen Moment baff.
Zoo entfährt ein überraschtes Was?. Gestern Abend, als sie gemeinsam gekocht haben, hat Schreiner-Girl ihr erzählt, dass sie mit dem Gedanken spielt, auszusteigen, aber sie hat es in demselben Ton gesagt, in dem sie davon redete, in einen Kibbuz zu gehen. Erst jetzt wird Zoo klar, wie sehr es Schreiner-Girl ärgert, dass Exorzist keinerlei Konsequenzen dafür tragen muss, sein Team und einen verletzten Mann im Stich gelassen zu haben.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fragt Ingenieur. Es hat ihm Spaß gemacht, mit Schreiner-Girl zusammen an dem Unterschlupf zu arbeiten. Sie haben sich gegenseitig aufgezogen von wegen, sie hätten beide zwei linke Hände, und blöde Witze gerissen, die jedoch ausnahmslos dem Schnitt zum Opfer fallen werden, weil sie auf Shows bei Konkurrenzsendern anspielen.
Bio berührt Schreiner-Girl am Arm. »Du darfst jetzt nicht aufgeben«, sagt sie. Die Pädagogin in ihr bedauert, dass hier ein tatkräftiger, begabter Mensch die Leistung verweigert. Ein paar von den anderen murmeln irgendwelche Einwände.
»Sorry«, sagt Schreiner-Girl. »Aber ich bin durch.« Mehr kann sie nicht mehr sagen, ehe sie auch schon zügig weggeführt wird. Ihre Gründe für den Ausstieg aus der Show werden auf ein schlichtes Statement gekürzt: »Ich wusste, dass ich nie im Leben gewinnen würde, und Zuschauerliebling war ich ganz bestimmt nicht, also hab ich mir gedacht: Warum noch weiter mitmachen?« Aber so ganz stimmt das nicht. Sie glaubt, dass sie eine Chance gehabt hätte – nicht auf den ersten Platz, aber vielleicht auf den zweiten oder dritten. Als sie nachschiebt: »Das ist es nicht wert«, meint sie damit nicht das Preisgeld oder ihre Zeit.
Auf den Gesichtern der übrigen Kandidaten zeichnet sich pure Verblüffung ab. Nur Tracker, der am Ende der Reihe steht, wirkt ungerührt. Der Moderator berät sich kurz mit dem Produzenten und verkündet dann eine Regeländerung: Die Kellnerin und Air Force werden jetzt jeder zwei statt drei Teampartner auswählen, und die verbleibenden Kandidaten bilden ein Viererteam.
Er stellt sich vor die Kellnerin und streckt ihr die Hände hin, zu Fäusten geballt. »Welche Hand?« Die Kellnerin tippt auf seine Rechte, und als sie sich öffnet, ist sie leer. Die Linke bringt einen marmorierten Kieselstein zum Vorschein. »Du darfst anfangen«, sagt der Moderator zu Air Force.
Air Force wird garantiert seinen besten Freund auswählen. Das ist so naheliegend, dass selbst Tracker verblüfft ist, als die Wahl stattdessen auf ihn fällt. Es ist ein Risiko: Air Force ist sichtlich nervös, bis die Kellnerin Zoo auswählt – dann erst entscheidet er sich für Black Doctor, der ihn anlächelt; er hat die Strategie seines Freundes verstanden und befürwortet sie. Die Kellnerin vervollständigt ihr Team mit Rancher, weil sie dessen stille Standhaftigkeit beruhigend findet.
»Was, mich will keiner? Schon wieder?«, sagt Exorzist und stellt sich zu Ingenieur, Bio und Banker. Vielen Kandidaten kommt es irgendwie komisch vor, plötzlich wieder aufgeteilt zu werden, nachdem sie so lange als Gruppe zusammengearbeitet haben. Die letzten paar Tage haben sie sich in einem trügerischen Gefühl der Gemeinschaftlichkeit gewiegt – was natürlich beabsichtigt war.
Der Moderator gibt ihnen die TV-Fassung ihrer Instruktionen:
»Gestern sind drei Freunde für eine Tageswanderung in diesen Wald gekommen. Sie sind keine erfahrenen Wanderer, und sie haben sich überschätzt. Sie haben weder Wasser noch Proviant noch eine Landkarte mitgenommen. Um die Mittagszeit haben sie gestern den Berggipfel erreicht, wo sie sich aus den Augen verloren. Sie haben sich verirrt. Eure Aufgabe ist es, sie zu finden, und zwar unbedingt noch vor Sonnenuntergang.«
Die Gruppen erhalten im Off weitere Instruktionen – »Wenn ihr euren jeweiligen Wanderer gefunden habt«, sagt der Moderator, »müsst ihr unter allen Umständen seine Identität überprüfen« – sowie zwei Stunden Zeit, um ihre spärlichen Habseligkeiten zu packen und ihr Lager wieder in einen natürlicheren Zustand zurückzuversetzen. Aber sie sollen es nicht vollständig abreißen – ihren Wetterschutz sollen sie stehen lassen. Die Produzenten wollen ihn in den sozialen Medien zum Mittelpunkt eines Fan-Wettbewerbs machen, bei dem ein Wochenende in dem Unterschlupf gewonnen werden kann.
Schließlich – es ist inzwischen Nachmittag – werden die Kandidaten zurück zu der Lichtung geführt, die vor fünf Tagen Ausgangspunkt der Bären-Challenge war. Von dort wird jedes Team zur »letzten bekannten Position« seiner jeweiligen Zielperson geführt und erhält einen Umschlag mit näheren Informationen.
Das Startsignal erfolgt. Ohne Sichtkontakt zueinander reißen die Kellnerin, Air Force und Ingenieur die Umschläge auf.
»Timothy Hamm«, sagt die Kellnerin. »Sechsundzwanzig Jahre alt. Größe: eins achtzig, Gewicht: zweiundachtzig Kilo. Braunes Haar, braune Augen. Kleidung: Jeans und rote Fleece-Jacke.« Während sie vorliest, sehen die Zuschauer das Foto eines Schauspielers, der der Beschreibung entspricht.
Das Gleiche passiert bei Air Force und Ingenieur, als sie die Informationen über ihre Zielpersonen lesen:
»Abbas Farran, fünfundzwanzig Jahre alt. Größe: eins siebenundsiebzig. Gewicht: fünfundsiebzig Kilo. Schwarzes Haar, braune Augen. Kleidung: gelber Sweater und Jeans.«
Und: »Eli Schuster, sechsundzwanzig Jahre alt. Größe: eins zweiundsiebzig. Gewicht: dreiundsiebzig Kilo. Braunes Haar, grünbraune Augen. Kleidung: blaues T-Shirt, weiße Weste und Cargohose.«
Das Foto von Abbas wird bei vielen Fernsehzuschauern Äußerungen wie »Araber«, »Islamist« und »Terrorist« auslösen, mit unterschiedlichen Intonationen. »Die sind nie im Leben Freunde« wird eine häufige Reaktion lauten. Aber in diesem Fall verfälscht die Show die Realität weniger krass als sonst. Der jüdische und der muslimische Schauspieler sind tatsächlich befreundet, und genau deshalb wurden sie gecastet. Allerdings kannte keiner von beiden vor diesem Engagement den Mann, der Timothy Hamm spielt.
Diese Challenge ist als der Höhepunkt der Premierenwoche gedacht, doch sie gestaltet sich zunächst schleppend. Air Force überlässt Tracker die Führung, und ihr Team macht sich auf die Fährte von Abbas, der auf seinem Weg durchs Dickicht geknickte Zweige hinterlassen hat, aufgewühlte Erde und ein besonders verräterisches Duo von gelben Fäden aus seinem Sweater, die sich an Dornen verfangen haben.
Auf Drängen der Kellnerin übernimmt in ihrem Team Zoo die Führung. »Das macht bestimmt Spaß«, sagt Zoo zu ihren Partnern, die sie beide skeptisch ansehen. Sie entdeckt rasch die Schuhabdrücke und roten Fäden, die Timothys Route verraten.
Die dritte Gruppe tut sich von Anfang an schwer. Exorzist und Banker machen einander die Teamführung streitig, während Ingenieur und Bio sich schon mal nach Spuren von Eli umschauen. Sie geraten jedoch mit ihren eigenen Abdrücken durcheinander, und erst nach fast zwanzig Minuten bemerkt Bio die verdächtige helle Stelle an einem liegenden Baumstamm. Hinter dem Stamm sind zertretenes Laub und ein deutlicher Handabdruck zu erkennen. Die Fernsehzuschauer werden eine eingeblendete Szene sehen: Ein junger Mann tritt offensichtlich frustriert auf den Stamm, rutscht beim Darübersteigen ab und landet auf einer Hand und einem Knie.
»Hierher«, ruft Ingenieur Exorzist und Banker zu, die immer wieder böse Blicke wechseln, während sie scheinbar suchen. Ein derartiges Verhalten ist untypisch für Banker, aber Schreiner-Girls Ausstieg hat ihn verunsichert. Ihm geht es bei der Show mehr um das Erlebnis als um Geld, deshalb irritiert ihn vor allem die Leichtfertigkeit, mit der sie vor Beginn einer neuen Challenge das Handtuch geworfen hat, als ob es gar nichts wäre. Von allen Kandidaten ist er womöglich am meisten der Täuschung verfallen, seine Konkurrenten wären Teampartner, und Schreiner-Girl erschien ihm als besonders nützlich.
Ingenieur und die anderen folgen Bio, die sich langsam zwischen den Bäumen hindurchbewegt. Nach einigen Minuten bleibt sie stehen. »Ich hab die Fährte verloren«, sagt sie.
Die Kamera zoomt auf zwei Fäden – einer blau, einer weiß –, die zwei Schritte vor ihr an einem Zweig hängen. Erst neunzehn Minuten später wird Exorzist diese Fäden entdecken.
Unterdessen führt Tracker sein Team ohne Umwege durch den Wald, erkennt, welche Spuren absichtlich gelegt und welche ungewollt hinterlassen wurden. Plötzlich runzelt er die Stirn; er ist tatsächlich überrascht. Er geht vor einem großen Stein in die Hocke, auf dem ein roter Klecks ist.
»Was ist das?«, fragt Black Doctor. Er ist tief beeindruckt davon, wie mühelos Tracker einer Fährte folgt, die er selbst nicht mal sehen kann.
»Sieht aus, als wäre er gestürzt«, sagt Tracker. Er zeigt auf eine Delle in der Erde, gut einen Meter von dem Stein entfernt. »Da ist er mit dem Knie gelandet.« Eine weitere etwas näher: »Und da mit dem Ellbogen.« Schließlich deutet er auf den kleinen roten Fleck auf dem Stein. »Anscheinend ist er mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Mit dem Kopf aufgeschlagen?«, sagt Black Doctor. Er und Air Force wechseln einen besorgten Blick.
Tracker erhebt sich wieder. »Ab hier wird die Fährte deutlicher. Sieht aus, als würde er taumeln.«
»Gehirnerschütterung?«, fragt Air Force.
»Wahrscheinlich«, antwortet Black Doctor. Er wendet sich dem Kameramann zu. »Ist das echt?«, fragt er. Sein ärztliches Ethos ist stärker als der Wunsch, sich an die Regeln zu halten. Der Kameramann reagiert nicht. Black Doctor schiebt sich an der Kamera vorbei, bis dicht vor das Gesicht des Mannes. »Ist. Das. Echt?« Der Kameramann ist geschockt, verlegen. Black Doctor zwingt ihn zum Augenkontakt. »Wenn Sie es nicht wissen, fragen Sie gefälligst über Funk jemanden, der es weiß«, fordert er. »Sofort.«
Der Kameramann greift zu dem Funkgerät an seinem Gürtel. Er zeigt Black Doctor die Oberseite. »Akku ist leer«, sagt er.
»Nie im Leben«, sagt Air Force und nimmt ihm das Funkgerät aus der Hand. Er betätigt den Ein-Aus-Schalter, aber die Stromanzeige leuchtet nicht auf. Er nimmt den Akku heraus, legt ihn wieder ein, versucht es erneut. Nichts. Die Produzenten haben mit so etwas gerechnet und die Kameramänner angewiesen, ihre Funkgeräte für die Dauer der Challenge mit leeren Akkus zu bestücken.
»Ich denke, ab jetzt sollten wir davon ausgehen, dass dem Mann wirklich was passiert ist«, sagt Black Doctor. Als Tracker ungläubig die Augenbrauen hochzieht, fügt er hinzu: »Sicher ist sicher.«
Keine Meile entfernt ist Zoo auf allen vieren.
»Was machst du?«, fragt die Kellnerin.
»Ich suche nach Farbabweichungen, Veränderungen der Oberflächenstruktur«, erklärt Zoo. »Eine glänzende Laufspur in einer matten Umgebung oder eine matte Laufspur in einer glänzenden Umgebung. So was in der Art.«
»Siehst du was?«, fragt Rancher, der neben ihr in die Knie gegangen ist, die Hand auf seinem Hut.
»Ich weiß nicht«, sagt Zoo. »Er ist offensichtlich von da gekommen.« Sie deutet auf eine Stelle zwei, drei Schritte rechts von ihr. »Aber danach …«
»Was denn danach?«, fragt die Kellnerin.
»Genau meine Frage.«
Rancher richtet sich auf. »Hört ihr das?«, fragt er.
Zoo und die Kellnerin legen beide den Kopf schief und lauschen. »Wasser?«, fragt die Kellnerin.
»Ich glaube, ja«, sagt Rancher. »Wenn ich mich verlaufen hätte und Wasser hören würde, würde ich in die Richtung gehen.«
»Gute Idee«, sagt Zoo.
Einige Minuten später finden sie einen Schuhabdruck. Zoo gibt Rancher einen Klaps auf den Rücken.
Sie kommen zu dem Bach. Die Kellnerin zeigt auf einen roten Handabdruck auf einem Stein, der in der Mitte aus dem Wasser ragt, und fragt: »Ist das Blut?«
Ja, denkt Zoo, dann: nein. Sie will schon »Falsches Blut« sagen, überlegt es sich aber anders. Sie weiß nicht, ob sie disqualifiziert werden könnte, wenn sie Zweifel äußert, möchte das Risiko aber nicht eingehen. Daher sagt sie: »Er muss gestürzt sein.«
»Und dann ist er in die Richtung da, seht mal«, sagt Rancher und deutet auf einen anderen Stein ein Stück entfernt, der mit Schlamm und noch mehr Rot beschmiert ist.
Weit hinter ihnen findet Exorzist endlich die Fäden, die sein Team zu ihrer Blutspur leiten sollen. Aber das Quartett kommt wegen seiner ständigen Zankereien nur langsam voran. Bio will die Stimme der Vernunft sein. Sie dreht sich jäh zu den anderen um und klatscht in die Hände – klatsch, klatsch, klatsch-klatsch-klatsch –, eine Methode, mit der sie sonst störende Schüler zur Räson bringt. »Vertragt euch!«, ruft sie. Ihre Teampartner sehen sie an, doch der Blick von einem ruht merklich unterhalb ihres Gesichts. Sie marschiert resolut auf Exorzist zu, und der sieht ihr in die Augen, verblüfft. »Schon besser«, sagt sie.
»Sie hat recht«, sagt Banker und tritt zwischen Bio und Exorzist, ehe der etwas sagen kann. »Konzentrieren wir uns auf die Suche nach Eli.« Sein Fuß landet auf ihrer nächsten Spur – ein Abdruck – und verwischt sie. Es gibt noch etliche weitere, weniger offensichtliche Spuren, aber keiner in dieser Gruppe sieht sie. Tracker wären sie nicht entgangen; auch Zoo oder Air Force hätten wahrscheinlich ungefähr erkannt, wohin die Fährte verläuft. Aber diese zusammengewürfelte Gruppe wird von nun an scheitern. Ingenieurs Blick bemerkt eine Unregelmäßigkeit auf der Erde. Es ist eine Kombination aus natürlicher Erosion, Wildwechsel und Phantasie. Er und seine Teampartner wollen Spuren sehen, unbedingt, und deshalb sehen sie welche. Bald folgen sie einer Fährte, die es gar nicht gibt, und sie folgen ihr in die falsche Richtung.
Trackers Gruppe ist zügig auf Kurs und folgt ihrer Zielperson, die eine größere Strecke zurückgelegt hat, als die drei erwartet haben, schon fast vier Meilen. Tracker gehen zwei Gedanken durch den Kopf: erstens, keine der anderen Gruppen wird ihre jeweilige Zielperson vor Sonnenuntergang finden; zweitens, vielleicht sollen sie das ja auch gar nicht.
Aber Tracker und seine Partner kommen schneller voran, als das Produktionsteam kalkuliert hat. Als sie nur noch eine Viertelmeile vom Endpunkt entfernt sind, bricht im Produktionsteam Hektik aus. Der Schauspieler, der Abbas Farran verkörpert und gerade eine Kaffeepause nutzt, um Chatnachrichten zu schreiben, wird kurz in die Maske gescheucht und dann zurück zu der Stelle, wo seine Fährte endete.
Und genau da finden Air Force, Tracker und Black Doctor ihn. Der Schauspieler, der für sie Abbas ist, sitzt auf einem Vorsprung nah an der oberen Kante einer verwitterten Felswand. Er stöhnt und hält sich mit beiden Händen den Kopf. Die Kandidaten können den Felsvorsprung nicht sehen, sie wissen nicht, wie hoch er ist – oder ob es überhaupt ein Felsvorsprung ist, obwohl die Topographie hinter dem Schauspieler zumindest einen Steilhang vermuten lässt.
»Abbas!«, ruft Black Doctor. »Abbas, ist alles in Ordnung?«
Der Schauspieler stöhnt ein wenig lauter und steht schwankend auf. »Wer ist da?«, fragt er. Er dreht sich zu der Gruppe um. Etwas Rotes rinnt ihm über Stirn und Gesicht, und auch seine Hände sind damit beschmiert.
Die ausbleibende Reaktion des Kameramanns verrät Tracker, dass das Blut unecht ist, dass keine wirkliche Gefahr besteht. Er ist angewidert – er hat echte Notfälle erlebt, hat Wanderer gerettet, die sich wirklich verirrt und verletzt hatten –, und er hat keine Lust auf diese Farce. Aber er braucht das Geld. Er sieht, dass Black Doctor ernsthaft besorgt ist. Das ist sein großer Augenblick, denkt Tracker und weicht einen Schritt zurück.
Der Abbas-Darsteller stolpert auf den Klippenrand zu.
»Langsam!«, sagt Air Force. »Vorsicht, Mann.«
Black Doctor schreitet zielstrebig, aber nicht überhastet auf den jungen Mann zu. Air Force folgt seinem Freund. Er und Black Doctor erreichen den Schauspieler gleichzeitig. Air Force packt ihn am Arm, um ihn zu stützen, und Black Doctor sagt: »Setzen Sie sich, junger Mann.« Der Schauspieler lässt sich zurück auf den Felsen bugsieren, wo er zuvor gesessen hat, und Black Doctor geht vor ihm in die Hocke, schaut ihm in die Augen. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragt er.
Der Schauspieler bewegt den Kopf benommen hin und her. »Ich … ich weiß nicht«, sagt er. »Ich … danke Ihnen.«
Und dann taucht der Produzent aus dem Wald auf und ruft: »Gute Arbeit! Alle mal herkommen!«, und plötzlich erhebt sich der Schauspieler, der den verletzten Abbas gemimt hat, ohne zu taumeln und mit klarem Blick. Er wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn und geht dann auf den Produzenten zu. »Kann ich was zum Abschminken haben?«
Air Force versteift sich. Black Doctor richtet sich auf und sieht ihn an. »Tja«, sagt Air Force, »jetzt wissen wir’s.«