2.
Das Eröffnungsbild der Premierensendung wird Tracker an einem Fluss zeigen. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, und seine Haut ist dunkel, ein Teint wie frisch gepflügte Erde. Er hat Jahre damit verbracht, sich die Aura einer Raubkatze zuzulegen, und jetzt verströmt er mühelos eine katzenartige Kraft und Anmut. Sein Gesicht ist entspannt, doch seine Augen blicken starr auf das Wasser, als würde er eine Beute in der Strömung beobachten. Trackers Körperhaltung ist leicht vorgebeugt, was den Zuschauern den Eindruck vermittelt, dass er sich jeden Moment auf irgendetwas stürzen wird – auf was? –, und dann blinzelt Tracker zum Himmel, und auf einmal erscheint es genauso gut möglich, dass er sich ein sonniges Fleckchen sucht, um ein Nickerchen zu halten.
Tracker wägt seine Optionen ab: Er kann versuchen, den gut fünf Meter breiten Fluss hier zu überqueren, oder sich weiter stromaufwärts eine bessere Stelle suchen. Er traut sich durchaus zu, von Stein zu Stein bis ans andere Ufer zu springen, doch ein Felsbrocken in dem zwar schnell fließenden, aber seichten Wasser gibt ihm zu denken. Er meint zu sehen, dass der Stein sich in der starken Strömung bewegt. Tracker wird nicht gern nass, aber bewundert die gestaltende Kraft von Wasser, und diese Bewunderung liegt nun in seinem Lächeln.
Die Zuschauer werden ihre eigenen Erklärungen auf dieses Lächeln projizieren. Diejenigen, die Tracker nicht leiden können, sei es aufgrund seiner Hautfarbe oder seiner Haltung – bislang haben sie lediglich gesehen, wie er dasteht, somit kann ihre Abneigung nur auf Voreingenommenheit beruhen –, werden ihn für arrogant halten. Ein besonders zynischer leitender Produzent wird diese Aufnahme sehen und hämisch denken: Er sieht böse aus.
Tracker ist nicht böse, und sein Selbstvertrauen ist redlich verdient. Er hat schon Herausforderungen gemeistert, die weit bedrohlicher waren als ein schneller, flacher Fluss und wesentlich natürlicher als das, was ihn auf der anderen Seite des Flusses erwartet – die erste inszenierte Challenge.
Am anderen Ufer wird Tracker auch seine elfköpfige Konkurrenz kennenlernen. Er weiß, es wird Teamwork verlangt werden, aber er will in den anderen ausschließlich Konkurrenten sehen. Das hat er in seiner Videobeichte vor Beginn des Wettbewerbs gesagt. Er hat noch einiges mehr gesagt, aber ihm als stärkstem Kandidaten wird kein mitfühlendes Motiv erlaubt sein. Trackers Begründung ist schon rausgeschnitten, und der Clip zeigt ihn, wie er mit stählernem Blick vor einer weißen Wand steht und lediglich sagt: »Ich will nicht einfach nur dabei sein. Ich will gewinnen.«
Seine Strategie ist simpel: besser sein als die anderen.
Tracker verweilt. Die Kamera gleitet über das rauschende Wasser und durch dichtbelaubte Äste zur Kellnerin, die auf einen Kompass blickt. Sie trägt eine schwarze Yogahose und ein neongrünes Sporttop, um das rote Haar zu betonen, das ihr in wallenden Locken über die Schultern fällt. Sie ist gut einen Meter achtzig groß und sehr schlank. Ihre Taille ist extrem schmal – »Ein Wunder, dass ihre Innereien da reinpassen«, wird ein Troll online lästern. Ihr Gesicht ist lang und blass, ihr Teint mit einer dicken Schicht Grundierung mit Lichtschutzfaktor geglättet. Ihr Lidschatten passt farblich zu dem Top und glitzert.
Die Kellnerin muss den Fluss nicht überqueren, sie muss nur mit Hilfe des Kompasses in südwestlicher Richtung durch den Wald finden. Für sie ist das eine schwierige Aufgabe, und die Aufnahme vermittelt das auch: Die Kellnerin dreht sich auf der Stelle im Kreis, das Gesicht von Locken umrahmt, während sie das unbekannte Instrument studiert. Sie nagt an der Unterlippe, teils, weil sie ratlos ist, und teils, weil sie denkt, dass das sexy wirkt.
»Zeigt das weiße oder das rote Ende nach Norden?«, fragt sie. Sie ist angewiesen worden, ihre Gedanken auszusprechen, und das wird sie auch tun. Oft.
Die Kellnerin hat ein Geheimnis, das die Zuschauer nicht erfahren werden: Sie hat gar keine Bewerbung eingereicht, sondern wurde angeworben. Die verantwortlichen Männer wollten eine attraktive, aber im Grunde unnütze Frau, möglichst eine Rothaarige, da sie bereits zwei Brünette und eine Blondine hatten – keine Wasserstoffblondine, aber eine, deren Haare blond genug sind, um in der Sonne zu leuchten. Ja, dachten sie, eine schöne Rothaarige würde die Besetzung abrunden.
»Okay«, sagt die Kellnerin. »Das rote Ende ist spitziger. Das muss Norden sein.« Sie dreht sich um die eigene Achse, nagt wieder an der Unterlippe, bis die Nadel auf N zeigt. »Und ich muss nach … Südwesten.« Und obwohl sie die Kompassspitzen deutlich markiert vor Augen hat, sagt sie mit Singsangstimme: »Nicht ohne Seife waschen – Norden, Osten, Süden, Westen.«
Sie geht los, genau Richtung Süden, murmelt dann wieder die Himmelsrichtungen vor sich hin und schwenkt nach rechts. Nach einigen Schritten bleibt sie stehen. »Moment«, sagt sie. Sie blickt auf den Kompass, wartet, bis die Nadel zur Ruhe kommt, hält sich dann weiter links. Schließlich geht sie in die richtige Richtung. Sie lacht ein bisschen und sagt: »Ist gar nicht so schwer.«
Die Kellnerin weiß, dass sie wohl kaum gewinnen wird, aber deshalb macht sie auch nicht mit. Sie macht mit, um einen Eindruck zu hinterlassen – bei den Produzenten, bei den Zuschauern, bei wem auch immer. Ja, sie arbeitet als Kellnerin in einer Tapas-Bar, aber als sie sechs war, hatte sie mal eine Hauptrolle in einem Süßigkeiten-Werbespot, und sie sieht sich in erster Linie als Schauspielerin, in zweiter Linie als Model und in dritter Linie als Kellnerin. Auf ihrem Weg durch den Wald hat sie einen Gedanken, den sie nicht aussprechen wird: Diese Show wird ihr Durchbruch.
Zurück am Fluss, beschließt Tracker, dass der Felsbrocken ein relativ geringes Risiko darstellt und dass ein bekanntes Hindernis besser ist als ein unbekanntes. Er springt. Der Cutter wird die Szene verlangsamen, als würde es sich um eine Naturdokumentation handeln und als wäre Tracker die Raubkatze, in deren Körper er in einem früheren Leben steckte, wie er insgeheim glaubt. Die Zuschauer werden sehen, wie weit und kraftvoll er springt. Sie werden sehen – einigen wird es auf Anhieb auffallen, die Übrigen werden mit einer Nahaufnahme darauf gestoßen –, was für eigentümliche, aber unverkennbare Schuhe er trägt, denn das winzige gelbe Logo in der Mitte des Fußes springt als greller Farbfleck an dem ansonsten dunkelgekleideten Tracker geradezu ins Auge. Sie werden sehen, wie seine Füße in den Zehenschuhen rutschsicher auf Stein landen. Sie werden seine Balance und seine Schnelligkeit bemerken, seine Körperkontrolle, und manche von ihnen werden denken: Ich sollte mir auch so welche kaufen. Aber Trackers Schuhwerk betont lediglich seine Körperbeherrschung, die wunderbar zum Ausdruck kommt, während er von Stein zu Stein springt und das reißende Wasser überwindet. Sein Körper wirkt in der Bewegung länger als im Ruhezustand, und auch in dieser Hinsicht ist er katzenartig.
Sein rechter Fußballen landet auf dem wackeligen Felsbrocken, der nach vorn kippt. Das ist ein wichtiger Moment. Falls Tracker stürzt, wird er eine bestimmte Figur werden. Falls er problemlos weiterspringt, wird er eine andere werden. Das Casting ist zwar abgeschlossen, aber nur offiziell.
Tracker breitet die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren – wobei ein rotes Bandana sichtbar wird, das er wie ein Armband am Handgelenk trägt –, und erlebt einen seltenen Moment nicht ganz vollkommener Eleganz; er schwankt. Dann folgt er der Bewegung des Felsens, und weg ist er, schon auf dem nächsten Stein, der stabil ist. Sekunden später ist er am anderen Ufer, nur mäßig außer Atem, trocken vom kahlgeschorenen Kopf bis zu den einzeln umkleideten Zehen, bis auf eine leichte Feuchtigkeit unter den Armen, die die Zuschauer aber nicht sehen können. Er rückt die Trageriemen seines windschnittigen, fast leeren schwarzen Rucksacks zurecht und geht dann weiter in den Wald, der Challenge entgegen.
Das Schwanken auf dem Stein wird rausgeschnitten werden. Tracker ist als abgebrüht und unbesiegbar gecastet worden.
Unterdessen stolpert die Kellnerin über eine Wurzel und lässt den Kompass fallen. Sie beugt den Oberkörper, um ihn aufzuheben, und die Schwerkraft sorgt für einen Blick in ihren Ausschnitt – genau wie die Kellnerin das wollte.
Zwei Enden eines Spektrums fallen zusammen.
Der Rancher, irgendwo zwischen diesen beiden Extremen, trägt einen Cowboyhut, der fast genauso verwittert aussieht wie sein zerfurchtes, stoppeliges Gesicht, und er schreitet gemächlich durch den Wald. Er trägt sein schwarzgelbes Bandana in echter Cowboymanier um den Hals, damit es sich flugs über Mund und Nase ziehen lässt, sollte ein Sandsturm aufziehen. Er ist tausend Meilen entfernt von seinem gefleckten Appaloosa-Pferd, aber an den Absätzen seiner Lederstiefel klemmen Sporen. Sie sind kamerawirksam, und der Produzent am Set hat sie Rancher gegeben. Als Rancher sie entgegennahm, brachte er das Rädchen an einem Sporn zum Drehen. Eine stumpfe Schneide, aber immerhin eine Schneide. Könnte nützlich sein, dachte er. Man gab ihm auch einen gestreiften Poncho, den er tragen sollte, doch den lehnte er ab. »Was denn noch?«, fragte er. »Soll ich mit einem Stapel Tortillas und einer Chilischote durch die Gegend laufen?«
Ranchers Vorfahren wurden einst als Mestizen eingestuft und von den Mächtigen praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Sein Großvater überquerte eines Nachts die Grenze und fand Arbeit auf einer Ranch, wo er Mist schaufelte und Kühe molk. Jahre später heiratete er die Tochter vom Boss, die den Betrieb erbte. Sie bekamen einen hellhäutigen Sohn, der eine dunkelhäutige Näherin aus Mexico City heiratete. Ranchers Haut hat eine leichte Tönung, die aus dieser Verbindung resultiert. Er ist siebenundfünfzig, und sein zotteliges kinnlanges Haar ist ebenso deutlich schwarzweiß wie seine Vorstellungen von Gut und Böse.
Zwischen Rancher und der Challenge liegen keine Hindernisse. Kompetenz – oder mangelnde Kompetenz – ist nicht das, was ihn definieren wird. Das Publikum soll seinen stolzen Cowboygang sehen. Die Rolle, die er verkörpert, ist im Nu etabliert.
Asia-Girl ist nicht so leicht einzuordnen. Sie trägt eine khakifarbene Arbeitshose und ein blaukariertes Hemd. Das lange glatte Haar hat sie zu einem schlichten pechschwarzen Pferdeschwanz nach hinten gebunden; für einen Farbakzent sorgt ein neongelbes Bandana, das sie wie ein Stirnband trägt, den Knoten im Nacken versteckt. Asia-Girl trägt nur so viel Make-up, wie ihr aufgedrängt wurde: Eyeliner, der ihre Mandelaugen zusätzlich verlängert, und pinkfarbener Glitzer-Lippenstift.
Sie blickt sich suchend um, als sie zwischen den Bäumen hervortritt und auf eine weite Waldwiese gelangt. Mitten auf der Wiese wartet ein Mann.
Hinter dem Mann, auf der anderen Seite der Wiese, tritt Air Force in den Sonnenschein.
Für ihren militärischen Kandidaten wollten die Produzenten ein Stereotyp, und der Mann, den sie ausgesucht haben, ist genau das: kurzgeschnittenes blondes Haar, das in der Sonne glänzt, stechende blaue Augen, kräftiges Kinn, das permanent nach vorn gereckt ist. Air Force trägt Jeans und ein langärmeliges T-Shirt, aber er geht, als würde er eine Ausgehuniform tragen. Durch seine kerzengerade Haltung wirkt er größer, als er mit seinen eins dreiundsiebzig ist. Sein dunkelblaues Bandana – eine Nuance dunkler als das offizielle Air-Force-Blau – hat er sich links an den Gürtel gebunden.
Air Force wird als Pilot vermarktet, doch dabei wird gezielt etwas ausgelassen: Es wird mit keinem Wort erwähnt, was für Flugzeuge er fliegt. Kampfjets, werden die meisten Zuschauer vermuten – was sie auch vermuten sollen. Aber Air Force ist kein Kampfpilot. Wenn er fliegt, transportiert er Fracht: Panzer und Munition, Batterien und Metallrollen, Zeitschriften und Schokoriegel, um die Regale der Shopping-Center zu füllen, die die USA netterweise für ihre Männer und Frauen auf den Truppenstützpunkten in aller Welt einrichten. Er ist ein schlanker Ganzjahres-Weihnachtsmann, der Care-Pakete vom lieben Uncle Sam mitbringt. In einer Organisation, wo Kampfpiloten Götter sind und Bomberpiloten meinen, dass sie die Sonne selbst fliegen, hat er einen weitgehend undankbaren Job.
Air Force und Asia-Girl erreichen die Mitte der Waldwiese, begrüßen sich mit Kopfnicken und bleiben vor dem Mann stehen, der da auf sie wartet. Der Moderator. Er wird erst ins Bild kommen, wenn er redet, und er wird erst reden, wenn alle Kandidaten versammelt sind.
Tracker taucht aus dem Wald hinter dem Moderator auf. Rancher erscheint im Osten und mit ihm zusammen ein großer rothaariger Mann um die dreißig mit einem giftgrünen Bandana. Bald kommen Kandidaten von allen Seiten. Eine Frau Ende zwanzig mit hellem Haar und Brille, ein hellblaues Bandana ums Handgelenk geschlungen. Ein Schwarzer im mittleren Alter, ein Weißer von höchstens zwanzig, ein asiatisch aussehender Mann, der als minderjährig durchgehen könnte, aber in Wirklichkeit sechsundzwanzig ist. Ein Weißer etwa Mitte dreißig und eine hispanische Frau, deren Alter unerheblich ist, weil sie jung genug ist und ihre Brüste üppig und echt sind. Alle tragen ein Bandana in einer eigenen Farbe gut sichtbar am Körper. Als Letzte taucht die Kellnerin auf, die überrascht ist, dass schon so viele Leute da sind. Sie nagt an der Unterlippe, und Air Force spürt ein verlockendes Prickeln.
»Willkommen«, sagt der Moderator, ein achtunddreißigjähriger B-Promi, der hofft, seine Karriere wiederzubeleben – oder wenigstens seine Spielschulden abbezahlen zu können. Er ist nichtssagend gutaussehend, mit braunen Haaren und Augen. Seine Nase ist in etlichen angesagten Blogs als »Römernase« beschrieben worden, doch er gibt vor, nicht zu wissen, was das bedeuten soll. Der Moderator trägt Outdoor-Kleidung, und wenn er gefilmt wird, ist stets seine obere Brusthälfte im Bild, wo stolz der Name eines Sponsors prangt. »Willkommen«, sagt er erneut, in einer tieferen, übertrieben maskulinen Stimme, und er beschließt, genau diese Stimme zu benutzen, wenn sie die richtige Begrüßung drehen. »Willkommen in unserer Show Der Wald.«
Ein leises Surren lässt die Kandidaten aufmerken. Air Force dreht sich als Erster um. »Fuck«, sagt er, ein ungewöhnlicher Ausrutscher und der erste Kraftausdruck, der zensiert werden muss. Die anderen drehen sich um. Hinter der Gruppe schwebt in Augenhöhe eine gut anderthalb Meter breite Drohne mit einem Kameraobjektiv in der Mitte. Prompt sind etliche weitere beeindruckte Ausrufe zu hören sowie ein gemurmeltes »Cool« von der hellhaarigen Frau.
Die Drohne schwirrt hinauf in den Himmel. Schon nach wenigen Sekunden ist sie ganz leise und so weit weg, dass sie fast unsichtbar ist.
»Wo ist das Ding hin?«, flüstert die Kellnerin. Als sie die Frage ausgesprochen hat, ist Tracker der Einzige, der die Drohne noch von Wolken und Himmel unterscheiden kann.
»Eins der vielen Augen, die euch beobachten werden«, klärt der Moderator die Gruppe auf. Seine Stimme klingt bedeutungsschwanger, doch in Wahrheit ist das die einzige Drohne, und da die Kandidaten die meiste Zeit von einem Blätterdach verdeckt sein werden, wird man sie vor allem für Eröffnungsszenen benutzen.
»Dann wollen wir mal anfangen«, sagt der Moderator. »Im Laufe der nächsten Wochen werden wir eure Fähigkeiten auf die Probe stellen und euch physisch und psychisch ans Limit bringen. Ihr habt jedoch die Möglichkeit, auszusteigen. Falls eine Challenge wirklich zu hart sein sollte oder wenn ihr es keine Nacht länger aushaltet, von Mücken gepiesackt zu werden, sagt einfach ›Ad tenebras dedi‹, und es ist sofort Schluss. Prägt euch das ein. Das ist eure Ausstiegsformel.« Während er spricht, reicht er jedem Kandidaten einen Zettel. »Eure einzige Möglichkeit, auszusteigen. Wir haben es für jeden von euch aufgeschrieben, damit ihr es auswendig lernt. Ad tenebras dedi. Damit eins klar ist: Sobald ihr das aussprecht, gibt es kein Zurück mehr.«
»Und was bedeutet es?«, fragt Rancher.
»Ihr werdet die Bedeutung noch erfahren«, erwidert der Moderator.
Black Doctor ist kleiner und rundlicher als Tracker und hat einen Spitzbart. Sein senfgelbes Bandana bedeckt seinen Kopf. Eine seiner weißmelierten Augenbrauen hebt sich, während er auf den Zettel in seiner Hand blickt. Dann eine Nahaufnahme von ihm, hinter ihm Bäume, dunkler Bartschatten um den Spitzbart herum. »Das ist Latein«, sagt Black Doctors zukünftiges Ich. »›Der Nacht ergebe ich mich.‹ Oder der Dunkelheit, das weiß ich nicht genau. Ist vielleicht ein bisschen hochtrabend unter den Umständen, aber ich bin froh, dass es ein Ausstiegssignal gibt. Gut zu wissen, dass man jederzeit rauskann.« Er stockt. »Ich hoffe, alle können es sich merken.«
Und dann Schnitt auf den Moderator, der in einem Segeltuchcampingstuhl an einem bei Tag brennenden Lagerfeuer sitzt und sich direkt an die Zuschauer wendet. »Die Kandidaten wissen nicht alles«, sagt er, und sein leiser Tonfall und das nach unten geneigte Kinn fordern die Fernsehzuschauer auf, sein Geheimnis mit ihm zu teilen. Seine Körpersprache sagt: Wir sind jetzt eine verschworene Gemeinschaft. »Sie wissen, dass keiner rausgewählt wird, dass es ein Wettkampf ist – besser gesagt, eine Reihe von Wettkämpfen, in denen sie Pluspunkte und Minuspunkte sammeln. Aber sie wissen nicht, dass es in diesem Wettkampf keine Ziellinie gibt.« Er beugt sich vor. »Das Spiel geht so lange weiter, bis nur noch ein Kandidat übrig bleibt, und die einzige Möglichkeit auszusteigen heißt – aufgeben.« Niemand weiß, wie lange die Show dauern wird, weder die Macher noch die Kandidaten. In ihren Verträgen steht nicht weniger als fünf Wochen und nicht mehr als zwölf, doch eine Fußnote im Kleingedruckten erlaubt im Ausnahmefall bis zu sechzehn Wochen. »Ad tenebras dedi«, sagt der Moderator. »Das ist die einzige Möglichkeit. Und in dieser Hinsicht sind die Kandidaten wirklich Im Dunkeln.«
Es folgt eine Reihe von Videobeichten, allesamt mit ununterscheidbarer Wildnis im Hintergrund.
Die Kellnerin weiß, dass ihre einzige Chance auf einen Geldgewinn darin besteht, zum Zuschauerliebling gewählt zu werden: »Was ich als Erstes mache, wenn ich die Million Dollar gewinne? Strandurlaub. Jamaica, Florida, keine Ahnung, irgendwo, wo es richtig schön ist. Ich nehme meine besten Freundinnen mit, und wir sitzen den ganzen Tag am Strand, trinken Cosmos und alles auf der Karte, was mit ›tini‹ aufhört.«
Rancher, mit einem ehrlichen Achselzucken: »Ich mach mit, weil ich das Geld will. Keine Ahnung, was sie so alles für uns auf Lager haben, aber ich hab jedenfalls nicht vor, diese drei Worte zu sagen. Meine Jungs kümmern sich zu Hause um die Ranch, aber sie sollen aufs College gehen, und das kann ich unmöglich bezahlen, wenn ich sie gleichzeitig als Arbeitskräfte verliere. Deshalb mach ich hier mit, für meine Kinder.«
Die blonde Frau mit der braunen Brille. In ihrem Bewerbungsvideo hielt sie eine stachelige gelbe Echse in der Hand, und der Cutter sieht in ihr mehr als bloß ihre Haarfarbe. »Ich weiß, das klingt jetzt absurd«, sagt sie, »aber ich bin nicht wegen des Geldes hier. Natürlich würde ich eine Million Dollar nicht ablehnen, aber ich hätte auch ohne das Preisgeld mitgemacht. Ich bin fast dreißig, ich bin seit drei Jahren verheiratet, es wird Zeit, den nächsten Schritt zu machen.« Zoo atmet nervös aus. »Kinder. Es ist Zeit für Kinder. Alle meine Freunde, die Kinder haben, sagen, dass dann nichts mehr ist wie vorher, dass es dein Leben verändert und du nie mehr Zeit für dich hast. Dazu bin ich bereit, ich gebe gern etwas von meiner Unabhängigkeit ab, und ja, auch von meinem gesunden Menschenverstand. Aber bevor das passiert, bevor ich meinen Namen gegen den Titel Mom eintausche, möchte ich ein letztes Abenteuer erleben. Deshalb bin ich hier, und deshalb werde ich nicht aufgeben, auf gar keinen Fall.« Sie hält den Zettel mit dem Ausstiegsspruch hoch und zerreißt ihn. Die Geste ist symbolisch – sie hat den Spruch auswendig gelernt –, aber bei aller Dramatik dennoch aufrichtig. »Also«, sagt sie und blickt eindringlich mit einem angedeuteten Lächeln in die Kamera, »dann zeigt mal, was ihr draufhabt.«