22.
Das Aufnahmematerial vom ersten Tag der Solo-Challenge wird ans Studio geschickt, aber der Cutter bekommt es nie zu Gesicht, wird es nie bearbeiten. Er wird nie den Farbton der Bäume oder die Intensität von Zoos grünen Augen nachbessern. Die Kandidaten werden in Echtzeit nach Clues suchen und durch die Gegend marschieren und an Mückenstichen kratzen, für alle Zeit. Am Abend wird die dritte Episode von Im Dunkeln ausgestrahlt, das erste und einzige Wochenfinale. Die Einschaltquoten sind hoch, aber nur wenige Zuschauer werden sich an die Folge erinnern. Aufnahmen vom zweiten Tag der Solo-Challenge werden schon gar nicht mehr zum Schneideraum geschickt. Eine Drohne landet, um nie wieder zu starten.
Als Exorzist am Morgen des dritten Tages wach wird, liegt sein Kameramann zusammengebrochen draußen vor dem Unterschlupf; roter Schleim läuft ihm aus der Nase. Über das Funkgerät des Kameramannes ruft er Hilfe. Die Stimme am anderen Ende klingt panisch, versichert ihm aber, dass Hilfe unterwegs ist. Exorzist hält den verschwitzten, blutigen Kopf des Kameramannes stundenlang auf seinem Schoß, erzählt ihm Geschichten und träufelt ihm Wasser in den Mund. Hilfe kommt keine, und schließlich setzt das Herz des Kameramanns aus. Exorzist versucht, den Leichnam aus dem Wald zu tragen, bricht aber nach einer langsamen halben Meile selbst erschöpft zusammen. Er faltet dem Toten die fast schon steifen Hände über der Brust, murmelt ein kurzes Gebet und lässt ihn unter einer Schwarzbirke liegen. Bald darauf verwechselt er eine Mischung aus großem Durst und krankheitsbedingter Übelkeit mit Hunger und beschließt zu jagen. Während er durch den Wald stolpert, senkt sich Delirium über ihn wie Nebel. Ein Ast schwankt vom Gewicht eines Eichhörnchens. Exorzist wirft seine angespitzte Wünschelrute. Sie zischt durch die Luft, prallt gegen einen Baum und fällt in einen Blätterhaufen. Er sucht und wühlt nach ihr, bis die Sonne untergeht. Als es dunkel ist, bekommt er Schweißausbrüche, und dann muss er sich übergeben. Er hustet ununterbrochen. Er glüht am ganzen Körper. Er wischt sich mit dem Ärmel die tropfende Nase ab und bemerkt roten Schlier. Er wimmert, sieht das blutunterlaufene Auge seiner Exfrau. Sein inneres Monster ist nichts im Vergleich zu dem Dämon, der ihn jetzt befallen hat – so rasch, so schmerzhaft, so total. In einem Augenblick, in dem er halbwegs bei Sinnen ist, fragt er sich, warum er nicht versucht hat, die Krankheit des Kameramanns auszutreiben. Und dann packt der Dämon mit seinen zahllosen Krallen seine Organe und zerfetzt ihm die Eingeweide.
Vier Kandidaten erhalten Hilfe. Air Force, Bio, Ingenieur und Banker werden von ihren noch symptomfreien Kameramännern zurück ins Produktionscamp gebracht. Und als Trackers Kameramann am dritten Morgen der Solo-Challenge nicht auftaucht, folgt Tracker seiner Fährte vom Vorabend und findet ihn mit hohem Fieber zusammengerollt in seinem Schlafsack. Tracker hilft ihm zurück ins Basiscamp. Diese fünf Kandidaten werden mit dem Rest der Produktionscrew in ein Quarantänezentrum geschickt, wo man sie in Einzelkabinen mit Plastikwänden sperrt. Dort werden sie erneut gefilmt, umgeben von der Geräuschkulisse weinender, sterbender Menschen.
Der rasch mutierende und noch immer nicht identifizierte Krankheitserreger erwischt zuerst Tracker, ohne Vorwarnung. Er schwitzt und weint und träumt, aber er blutet nicht, und er stirbt nicht. Dank seiner genetischen Veranlagung plus seines jahrelang auf Hochleistung trainierten Immunsystems bleibt er verschont. Er wird alt werden, wird seine Geschichte nur wenigen Menschen erzählen und niemals öffentlich machen, und er wird sich sein Leben lang fragen, ob er nicht größere Anstrengungen hätte unternehmen sollen, um sie zu finden.
Banker fängt sich lediglich eine Erkältung ein. In den Tagen, die er in Quarantäne verbringt, schwankt er zwischen Angst und Langeweile. Als er später in ein kalifornisches Flüchtlingscamp verlegt wird, erzählt er seine Geschichte jedem, der sie hören will.
Am zweiten Tag in Quarantäne läuft Air Force Blut aus Augen und Nase, beschmiert sein attraktives Kriegergesicht. Er dachte immer, sollte er jung sterben, dann durch einen spektakulären Absturz. Sein letzter Atemzug ist wie der Schrei eines Falken, der seine Beute verfehlt. Bio schläft relativ friedlich ein, ohne Schmerzen zu spüren, im Traum bei ihrer Partnerin. Ingenieur ist bis zum Schluss bei Bewusstsein. Er bleibt der unverwüstliche Optimist, der er immer war, und denkt noch Augenblicke vor seinem Tod: Bald geht’s mir wieder besser.
Rancher ist unter denen, die in dem Evakuierungschaos zurückbleiben. Er findet das Produktionscamp erst nach Tagen, als alle längst weg sind. Nur der Experte ist geblieben, um nach den anderen zu suchen. Als Rancher ihn findet, erkennt er ihn praktisch nur noch an dem Flanellhemd. Fliegenschwärme tun sich an seinem ausgetretenen, schon fast trockenen Blut gütlich. Rancher setzt die Suche nach den anderen fort und stirbt nach einer Woche, allerdings nicht an der sich ringsum rasch ausbreitenden Krankheit – die er aufgrund seiner Gene überlebt hätte –, sondern an Mikroben in einem stehenden Gewässer, aus dem er unglücklicherweise trinkt. Er wird im Delirium sterben, dehydriert und in seinen eigenen Exkrementen liegend. Aber er wird lächeln, wird seine drei Kinder in der Ferne spielen sehen. Seine Söhne und seine Tochter werden die genauen Todesumstände ihres Vaters nie erfahren. Sie werden sich immer fragen, was passiert ist, werden sich wünschen, er hätte nie an der Show teilgenommen. Wenn er doch bloß zu Hause geblieben wäre, werden sie sagen.
Die Kellnerin hat nicht die nötigen Gene zum Überleben. Am dritten Morgen der Solo-Challenge wird sie mit Fieber wach, ihre Kehle ein einziger stummer Schrei. Sie kann sich nicht aufsetzen. Ihr Kameramann steht vor ihr, hört den panischen Rückruf über Funk: »Bringt sie zurück. Bringt sie alle zurück!« Er sieht das rote Rinnsal, das ihr aus dem linken Nasenloch läuft. Er lässt die Kamera fallen und flieht. Die Kellnerin schaut ihm nach. Ihr Fieber sagt ihr, dass das nicht richtig ist. Sie greift nach der Trillerpfeife, die sie am Anfang der Bären-Challenge bekommen hat, und hebt sie an die Lippen, doch sie hat nicht mehr genug Atem, um einen Ton zu erzeugen. Der Kameramann wird lügen und behaupten, er hätte sie nicht finden können. Auch er wird sterben, zu schnell und unter zu großen Schmerzen, um Reue zu empfinden.
Zoo wacht am dritten Morgen auf und fühlt sich bloß ein wenig steif. Sie wartet auf ihren Kameramann, aber der lässt sich nicht blicken. Sie weiß nicht, dass er etwa hundert Meter von ihr entfernt im Spätsommerlaub liegt und sinn- und zwecklos in sein Funkgerät schluchzt. Innerhalb von Minuten wird auch dieser Kameramann sterben. Innerhalb von Stunden werden Truthahngeier ihn finden. Innerhalb von Tagen werden Kojoten seine Überreste verstreuen.
Wenn Zoo jetzt nach dem Kameramann suchen würde, könnte sie ihn finden. Aber sie macht sich nicht auf die Suche, sie wartet. Sie ruht sich aus und wäscht ihre Kleidung in einem Bach, den sie gestern überquert hat, kurz bevor sie ihr Lager aufgeschlagen und ihren neuen Clue erhalten hat. Während sie den Schweiß aus ihren Socken wringt, bereitet ihr Körper sich auf einen Kampf vor, den ihr Verstand nicht einmal ahnt. An ihrem zweiten Morgen allein kommt sie zu dem Schluss, dass sie sich wieder auf den Weg machen soll, um dem Clue zu folgen: Du bist auf Kurs; such nach dem Zeichen hinter dem nächsten kleinen Fluss. Während Geier ungesehen kreisen und landen, zerlegt Zoo ihren Unterschlupf, hängt sich eine Wasserflasche an den Gürtel und schnallt den Rucksack um.
»Na gut«, sagt sie zu der winzigen Kamera über der Stelle, wo ihr Unterschlupf gestanden hat, »dann mach ich mich mal auf die Suche nach dem Bach.« Sie klopft sich den Hosenboden ab und marschiert los. Sie geht Richtung Osten, weil das die Richtung ist, in die sie zuletzt geschickt wurde, und weil sie laut Clue auf Kurs ist. Nach Osten, wo an einem ausgetrockneten Flussbett ein längst in Sicherheit gebrachter Praktikant nie eine Box deponieren wird. Nach Osten, wo sie einem plätschernden Bach bis zu einer Unterquerung folgt, über die eine Straße verläuft, von der Einfahrten abzweigen wie Ranken von einem Wurzelstamm.
An einer dieser Einfahrten steht eine frischgebackene Mutter, erschöpft und mit einem leicht flauen Gefühl im Magen, das sie in ihrem Glück als nebulöse postpartale Unpässlichkeit abtut. Ihr Neugeborenes, ein Junge, gluckst in dem Tragetuch vor ihrer Brust, während sie drei hellblaue Luftballons an den Briefkasten bindet. Für eine Party, die nie stattfinden wird, in einem kleinen braunen Haus mit roten Fensterrahmen, einem Haus, das sie dezent blau dekoriert hat. Stilvoll, denkt die frischgebackene Mutter.
Genau richtig.