Lavinias Haus war leer und still, als Tobias ihr kurze Zeit später durch den Flur folgte. Das war auch besser so, denn er hatte vor, ihr eine ernste Predigt zu halten.
»Mrs. Chilton ist heute Nachmittag bei ihrer Tochter«, erklärte Lavinia und hängte ihre Haube an einen Haken. »Emeline ist bei einem Vortrag über Antiquitäten, zusammen mit Priscilla und Anthony.«
»Das weiß ich. Anthony hat etwas davon gesagt, dass er die beiden zu diesem Vortrag begleiten würde.« Er legte seinen Hut und die Handschuhe auf den Tisch und sah sie an. »Lavinia, ich möchte mit dir sprechen.«
»Möchtest du nicht ins Arbeitszimmer kommen?« Sie war schon den halben Weg durch den Flur gegangen. »Wir können ein Feuer anmachen. Eine angenehme, gemütliche Atmosphäre ist einem unserer kleinen Streits angemessen, findest du nicht auch?«
»Verdammt.« Er konnte nicht anders. Er folgte ihr in das Arbeitszimmer. Sie hatte Recht. In dem kleinen Raum ließ es sich bei weitem besser streiten als im Flur. Er stellte fest, dass er sich in diesem behaglichen, mit Büchern angefüllten Zimmer sehr wohl fühlte. Immer wenn er es betrat, hatte er das eigenartige Gefühl, nach Hause zu kommen.
Völliger Unsinn natürlich.
Er sah, wie Lavinia sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch setzte. Die außerordentlich zufriedene Laune, die sie ausstrahlte, war beinahe mit Händen zu greifen.
Er hockte sich vor den Kamin und zuckte zusammen, als der Schmerz durch sein Bein fuhr, dann zündete er das Feuer an.
»Du scheinst sehr erfreut über deinen unmöglichen Plan, nicht wahr?«, sagte er.
»Komm schon, Tobias. Mrs. Dove vorzuschlagen, dass Emeline und ich sie zu dem Colchester-Ball begleiten, war doch die vernünftigste Lösung für dieses schwierige Dilemma. Es war doch offensichtlich, dass sie entschlossen war, an dem Ball teilzunehmen. Auf diese Art können wir sie wenigstens im Auge behalten.«
Er lächelte freudlos. »Was für ein Glück für dich, dass Mrs. Dove kein Problem darin gesehen hat, noch einige Einladungen für Freunde aus Bath zu besorgen, die sie zufällig besucht haben.«
»Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Selbst wenn sie diese zusätzlichen Einladungen nicht bekommen hätte, wäre es kein Problem gewesen, zwei Begleiterinnen mitzubringen. Der Colchester-Ball ist ein so riesiges Ereignis, dass niemand zwei zusätzliche Gäste bemerken wird.«
»Könntest du ein wenig versuchen, nicht so zu strahlen? Es ist sehr irritierend.«
Sie warf ihm einen unschuldigen Blick zu. »Ich mache mir diese ganze Mühe, um meine Klientin zu beschützen.«
»Versuche nicht, so zu tun, als hättest du dieses Angebot nur gemacht, um Joan Dove im Auge zu behalten.« Sein Bein protestierte noch einmal, als er versuchte, wieder aufzustehen. »Ich kenne dich zu gut, Madam. Du hast die Gelegenheit genutzt, um für deine Nichte eine Einladung zu dem Ball zu bekommen.«
Sie lächelte zufrieden. »Es ist wirklich ein unglaublicher Glücksfall, nicht wahr? Stell dir nur vor, heute Abend wird Emeline an einem der wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse der Saison teilnehmen. Warte nur, bis Lady Wortham davon hört. Dann kann sie sich all die Bemerkungen sparen über die Gefallen, die sie Emeline tut.«
Tobias war trotz seiner schlechten Laune beinahe belustigt. »Erinnere mich daran, dass ich mich niemals zwischen eine Kupplerin und eine Einladung zu einem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis stelle.«
»Komm schon, Tobias. Wenigstens wissen wir, dass Mrs. Dove heute Abend in Sicherheit sein wird.« Lavinia hielt inne. »Dabei glaube ich nicht, dass Neville versuchen wird, sie während des großartigsten Balles der ganzen Saison zu ermorden.«
Tobias dachte genauer darüber nach. »Mir scheint es wirklich eine ungewöhnliche Gelegenheit, um einen Mord zu begehen. Aber dennoch, wenn man bedenkt, wie zurückgezogen Mrs. Dove lebt und dass sie immer in Begleitung dieser riesigen Lakaien ist, wenn sie das Haus verlässt, so könnte ein verzweifelter Mörder vielleicht glauben, dass er keine andere Wahl hat.«
»Mach dir keine Sorgen, Tobias. Ich werde sie auf dem Colchester-Ball nicht aus den Augen lassen.« Lavinia beugte sich vor und stützte ihr Kinn in die Hand. Der Ausdruck ihrer Augen wurde nachdenklich. »Hast du das wirklich ernst gemeint, als du ihr gesagt hast, du wolltest heute Abend Nevilles Haus durchsuchen?«
»Jawohl. Wir brauchen schnell einige Antworten, und ich weiß nicht, wo ich sie sonst finden könnte.«
»Aber was ist, wenn er zu Hause ist?«
»Das ist der Höhepunkt der Saison«, erklärte Tobias. »Bei ihrem gesellschaftlichen Stand werden Neville und seine Frau beinahe jeden Abend aus dem Haus sein. Ich weiß, dass Neville kaum einmal vor der Morgendämmerung nach Hause kommt, nicht einmal in den ruhigeren Monaten.«
Lavinia zog die Nase kraus. »Es ist wohl offensichtlich, dass Neville und seine Frau die Anwesenheit des anderen nicht gerade genießen.«
»In dieser Hinsicht haben sie sehr viel mit anderen Paaren der höheren Gesellschaft gemein. Aber wie dem auch sei, meiner Erfahrung nach schleicht sich auch viel Personal aus dem Haus, wenn die Diener wissen, dass ihre Arbeitgeber den größten Teil des Abends nicht da sind. Wenn ich Glück habe, wird das Haus heute Abend fast leer sein. Die wenigen Mitglieder der Dienerschaft, die im Haus bleiben, werden wahrscheinlich in ihren eigenen Räumen beschäftigt sein. Es sollte einfach sein, unbeobachtet ins Haus zu kommen.«
Lavinia sagte nichts.
Er sah sie an. »Nun? Was ist?«
Sie nahm einen Federkiel in die Hand und klopfte damit in ihre Handfläche. »Dein Plan gefällt mir nicht, Tobias.«
»Warum denn nicht?«
Sie zögerte, dann legte sie den Federkiel wieder beiseite. Sie stand auf und sah ihn an, Unbehagen lag in ihrem Blick.
»Das ist nicht das Gleiche, als würdest du Sally Johnsons kleines Haus durchsuchen«, erklärte sie ruhig. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Neville ein Mörder ist. Der Gedanke, dass du in der Nacht allein durch sein Haus schleichst, beunruhigt mich sehr.«
»Deine Sorge ist rührend, Lavinia. Und außerdem überrascht sie mich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so sehr um meine Sicherheit besorgt bist. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich für dich so eine Art Ärgernis bin.«
Ohne Vorwarnung wurde sie wütend. »Du sollst dich nicht darüber lustig machen. Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der wahrscheinlich einige Frauen ermordet hat.« »Und der wohl auch den Mord an Bennett Ruckland in Auftrag gegeben hat«, stimmte er ihr zu.
»Ruckland? Der Mann, der in Italien umgebracht wurde?«
»Jawohl.«
»Aber du hast doch gesagt, Carlisle sei für den Mord an ihm verantwortlich gewesen.«
»Neville und Carlisle kannten einander sehr gut, wegen ihrer Verbindung zum Blue Chamber. Ich nehme an, dass Neville ihm einen großen Betrag dafür gezahlt hat, dass er dafür sorgte, dass Ruckland nie wieder nach England zurückkehrte.«
»Du bist so sehr darauf bedacht, die Informationen zu finden, die du haben willst, dass ich befürchte, du wirst jedes Risiko eingehen. Vielleicht solltest du Anthony mitnehmen. Er könnte als dein Leibwächter dienen.«
»Nein. Ich möchte, dass Anthony mit euch zum Colchester Ball geht. Er kann dir helfen, Joan Dove zu bewachen.«
»Ich bin selbst in der Lage, Joan im Auge zu behalten. Ich finde, Anthony sollte mit dir gehen.«
Er lächelte matt. »Es ist sehr nett von dir, so sehr um mich besorgt zu sein, Lavinia. Aber tröste dich mit dem Gedanken, dass es ganz allein mein Fehler sein wird, wenn etwas schief läuft. Wie es ja deiner Meinung nach immer der Fall ist.«
»Verdammt, Sir, du versuchst, das Thema zu wechseln.«
»Nun ja, das tue ich wirklich. Ich finde, dass die Unterhaltung unnütz ist.«
»Tobias, hör auf, mich zu provozieren, denn sonst werde ich für meine Taten nicht mehr verantwortlich sein.«
Lavinias geballte Fäuste und ihr stürmischer Blick sagten ihm sofort, dass sein Versuch, die Unterhaltung ein wenig aufzulockern, gescheitert war.
»Lavinia ...«
»Hier geht es nicht darum, jemandem einen Vorwurf zu machen. Wir sprechen hier von gesundem Menschenverstand.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ist dir eigentlich noch gar nicht aufgefallen, Madam, dass der gesunde Menschenverstand ausgeschaltet ist, wenn es um dich und mich geht?« Sie umklammerte seine Handgelenke. »Versprich mir, dass du heute Abend außergewöhnlich vorsichtig sein wirst, Tobias.«
»Darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Versprich mir, dass du das Haus erst gar nicht betrittst, wenn es ein Anzeichen dafür gibt, dass Neville zu Hause ist.«
»Ich versichere dir, Neville wird ganz sicher heute Abend nicht zu Hause sein«, erklärte er. »In der Tat ist es sehr gut möglich, dass er und seine Frau auf dem Colchester-Ball erscheinen. Du wirst wahrscheinlich mehr von ihm zu sehen bekommen als ich.«
»Das genügt mir nicht. Versprich mir, dass du nicht in das Haus gehen wirst, wenn jemand zu Hause ist?«
»Lavinia, das kann ich nicht.«
Sie stöhnte auf. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest. Versprich mir ...«
»Ich habe dir für den Augenblick bereits genug versprochen. Ich würde dich viel lieber küssen.«
Ihre Augen blitzten, war es nun Zorn oder Leidenschaft, das konnte er nicht feststellen. Er hoffte allerdings, dass es das Letztere war.
»Ich habe die Absicht, eine ernsthafte Unterhaltung zu führen«, behauptete sie.
»Möchtest du mich küssen?«
»Darum geht es hier gar nicht. Wir reden davon, dass du deinen Hals riskierst.«
Er strich mit dem Daumen über ihr Kinn. Ihre sanfte glatte Haut bezauberte ihn.
»Küss mich, Lavinia.«
Sie legte beide Hände auf seine Schultern und grub die Finger tief in seinen Rock. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn wegstoßen oder noch näher ziehen wollte.
»Versprich mir, dass du vernünftig sein wirst«, bat sie.
»Nein, Lavinia.« Er hauchte einen Kuss auf ihre Stirn und dann auf ihre Nase. »Das kannst du nicht von mir verlangen. Es liegt nicht in meiner Natur, ich kann das nicht versprechen.«
»Unsinn. Natürlich kannst du das.«
»Nein.« Er schüttelte ein wenig den Kopf. »Ich bin nicht mehr vernünftig gewesen, seit ich dich zum ersten Mal auf einer Straße in Rom gesehen habe.«
»Tobias.« Ihr stockte der Atem. »Das ist verrückt. Wir mögen einander noch nicht einmal sehr.«
»Du sprichst nur für dich selbst, Madam. Ich allerdings stelle fest, dass ich dich sehr mag, trotz deiner Fähigkeit, mich so schnell wütend zu machen.«
»Mögen?« Ihre Augen weiteten sich. »Du magst mich?«
Ein leichtes Zucken ging durch seinen Körper. Er hörte beinahe, wie Anthony ihm einen Vortrag hielt.
»Mögen ist vielleicht unter diesen Umständen nicht das richtige Wort.«
»Mögen ist ein Wort, das man benutzt, wenn man die Gefühle für einen guten Freund beschreibt oder eine liebevolle Tante oder ... einen kleinen Hund.«
»Dann ist es ganz sicher das falsche Wort«, schloss er. »Weil meine Gefühle für dich gar keine Ähnlichkeit haben mit den Gefühlen für Freunde, Tanten oder Hunde.«
»Tobias ...«
Er berührte die bezaubernde Stelle in ihrem Nacken, wo sich ein paar vorwitzige Haarsträhnen aus den Haarnadeln gelöst hatten. »Ich will dich, Lavinia. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich eine Frau schon einmal so sehr gewollt habe. Es ist ein Schmerz in meinem Inneren, der nicht mehr weggeht.«
»Wundervoll, ich verursache dir Bauchschmerzen.« Sie schloss die Augen. Ein Schauer rann durch ihren Körper. »Ich habe immer davon geträumt, einen Mann auf so erregende Art zu beeinflussen.«
»Anthony hat gesagt, dass ich nicht sehr gut darin bin, mit Frauen zu sprechen. Vielleicht würde es alles wesentlich einfacher machen, wenn du aufhören würdest zu reden und mich küsst.«
»Du bist ein unmöglicher Mann, Tobias March.«
»Dann passen wir wirklich gut zusammen. Du bist sicher die unmöglichste Frau, die ich in meinem ganzen Leben kennen gelernt habe. Wirst du mich küssen?«
Etwas blitzte in ihren Augen auf. Es hätte Wut sein können oder Frustration oder Leidenschaft. Sie nahm die Hände von seinen Schultern und legte sie um seinen Nacken. Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Er öffnete den Mund, schmeckte sie, suchte nach der Wildheit, die er in dieser Nacht in der Kutsche gefühlt hatte. Sie erschauerte und schlang die Arme noch fester um ihn. Ihr Verlangen weckte die Glut in seinem Blut.
»Tobias.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch sein Haar und küsste ihn mit wachsender Leidenschaft.
»Du hast etwas an dir, das mir das Gefühl gibt, in den Fängen einer mächtigen Droge zu sein«, flüsterte er. »Ich fürchte, dass ich abhängig werde.«
»Oh, Tobias.«
Diesmal kam sein Name als ein erstickter Schrei aus ihrem Mund, den sie an seinen Hals presste.
Er schloss die Hände um ihre Rippen, gleich unter ihren Brüsten, dann hob er sie hoch. Sie stieß ein leises, erotisches Stöhnen aus, das die Glut in seinem Inneren noch mehr anfachte.
Er ging ein paar Schritte mit ihr auf seinem Arm. Sie legte die Hände wieder auf seine Schultern und bedeckte sein Gesicht mit feuchten, heißen, kleinen Küssen.
Als er an ihrem Schreibtisch angekommen war, ließ er sie vorsichtig herunter, bis sie auf der Schreibtischkante saß. Mit einer Hand hielt er sie fest, mit der anderen öffnete er seine Hose. Als sein Glied befreit war, streckte sie die Hand aus und umschloss es mit ihren sanften Fingern.
Er schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um sein Verlangen zu zügeln. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, öffnete er die Augen und sah, dass ihr Gesicht vor Erregung gerötet war.
Er schob ihre Beine auseinander und legte seine Hand auf die weiche nackte Haut über ihren Strümpfen. Dann kniete er vor ihr nieder und küsste die Innenseite ihrer Schenkel. Immer weiter wagte er sich vor, kam seinem Ziel immer näher. »Tobias.« Sie krallte die Finger in sein Haar. »Was tust du ... ? Nein, nein, du kannst mich nicht dort küssen. Um Himmels willen, Tobias, du darfst nicht...«
Er ignorierte ihren erstickten Protest. Als er die sanfte, empfindsame Knospe mit der Zunge berührte, erstarb ihr letzter Protest in einem erstickten Aufkeuchen.
Er schob einen Finger in sie hinein und vertiefte seinen Kuss. Sie kam beinahe schweigend, als hätte sie keinen Atem mehr. Er fühlte, wie sich die Anspannung in ihr in einer Serie von kleinen Schauern löste.
Als der Höhepunkt der Erregung vorüber war, stand er wieder auf und hielt sie in seinen Armen. Sie sank in sich zusammen und lehnte sich an ihn.
»Hast du das in Italien gelernt?«, murmelte sie an seinem Hals. »Man sagt, es gäbe nichts Besseres als eine ausgedehnte Reise, um die Erziehung zu vervollständigen.«
Er fand nicht, dass eine Antwort nötig war. Und das war wohl auch besser so. Er glaubte nicht, dass er in diesem Zustand eine vernünftige Unterhaltung würde führen können. Er drängte sich zwischen Lavinias Schenkel und legte eine Hand um ihren wohl gerundeten Po. Sie nahm die Hände von seinen Schultern und lächelte sanft. Ihre Augen waren tausend Meilen tief und voll warmer, verlockender Versprechungen. Er hätte nicht wegblicken können, auch wenn er es versucht hätte.
»Die Augen eines Hypnotiseurs«, flüsterte er. »Du hast mich wirklich in Trance versetzt.«
Mit der Fingerspitze berührte sie sein Ohrläppchen. Dann legte sie den Finger auf seinen Mundwinkel. Sie lächelte, und er versank noch tiefer in ihrem Zauber.
Er bereitete sich darauf vor, tief in sie einzudringen.
Das Geräusch der Haustür, die geöffnet wurde, und von gedämpften Stimmen im Flur ließ ihn erstarren, gerade als er tief in Lavinias warmen Körper eindringen wollte.
Sie erstarrte in seinen Armen. »Oje«, flüsterte sie erschrocken. »Tobias ...«
»Verdammte Hölle.« Er legte ihre Stirn gegen seine. »Sag nicht...«
»Ich glaube, Emeline ist früher als erwartet nach Hause gekommen.« Panik lag in Lavinias Stimme. Sie schlug nach ihm. »Wir müssen uns sofort herrichten. Sie wird gleich hier sein.«
Der Zauber war gebrochen.
Er trat einen Schritt zurück und machte sich an seiner Hose zu schaffen. »Beruhige dich, Lavinia. Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas bemerken wird.«
»Wir brauchen etwas frische Luft hier drinnen.«
Lavinia sprang von dem Schreibtisch, schüttelte ihre Röcke aus und lief zum Fenster. Sie öffnete es weit. Kalte, feuchte Luft drang in das Arbeitszimmer. Das Feuer flackerte heftig. Tobias war belustigt. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, es regnet.«
Sie wirbelte herum und warf ihm einen bösen Blick zu. »Diese Tatsache ist mir nicht entgangen.«
Er lächelte. Dann hörte er eine bekannte Stimme im Flur. »Ich fand den Teil von Mr Halcombs Vortrag, der sich mit den Ruinen von Pompeji befasste, recht schwach«, hörte man Anthony sagen.
»Da stimme ich dir zu. Ich bezweifle sehr, dass er bei seinen Forschungen weiter als ins Britische Museum gekommen ist.«
Lavinia erstarrte. »Was glauben die beiden wohl? Gütiger Himmel, wenn jemand von den Nachbarn gesehen hat, dass sie zusammen ein leeres Haus betreten haben, dann wäre Emeline ruiniert. Vollkommen ruiniert.«
»Ah, Lavinia ...«
»Ich werde mich schon darum kümmern.« Sie ging zur Tür des Arbeitszimmers und öffnete sie. »Was ist denn hier los?« Anthony und Emeline, die gerade durch den Flur gingen, blieben stehen.
»Guten Tag, Mr March«, begrüßte Emeline Tobias.
»Miss Emeline.«
Anthony blickte vorsichtig. »Stimmt etwas nicht, Mrs. Lake?«
»Besitzt ihr denn überhaupt keinen Verstand?«, fragte sie wütend. »Emeline, es ist gut und schön, wenn du Mr Sinclair erlaubst, dich bis an die Haustür zu begleiten, aber du darfst ihn nicht einladen, mit ins Haus zu kommen, wenn niemand zu Hause ist. Was um alles in der Welt hast du dir nur dabei gedacht?«
Emeline sah verwirrt aus. »Aber Lavinia ...«
»Was ist, wenn jemand der Nachbarn dich gesehen hat?«
Anthony und Emeline warfen einander einen Blick zu. Dann trat ein wissender Blick in Anthonys Augen.
»Ich möchte sichergehen, dass ich das auch verstanden habe«, meinte er. »Sie machen sich Sorgen, dass ich Miss Emeline in ein Haus begleitet habe, in dem es niemanden gibt, der als Anstandsdame fungieren könnte. Richtig?«
»Genau.« Lavinia stützte die Hände in die Hüften. »Zwei unverheiratete junge Leute, die zusammen in ein Haus gehen? Was sollen die Nachbarn wohl denken?«
»Darf ich dich auf einen kleinen Fehler in deiner Logik aufmerksam machen?«, murmelte Emeline.
Lavinia warf ihr einen bösen Blick zu. »Und was sollte das wohl für ein Fehler sein?«
»Das Haus ist nicht leer. Du und Mr March, ihr seid beide hier. Man könnte doch wohl kaum eine passendere Anstandsdame wählen.«
Es gab ein kurzes, angespanntes Schweigen, während diese Bemerkung langsam in Lavinias Bewusstsein drang.
Tobias gelang es, sein Lachen zu unterdrücken. Er warf Lavinia einen Blick zu und fragte sich, wann sie endlich begreifen würde, dass sie völlig überreagiert hatte.
Manchmal wirkte es sich so auf die Nerven aus, wenn man gerade noch einmal davongekommen war, überlegte er.
Lavinia stotterte, ihr Gesicht lief hochrot an, dann nahm sie Ausflucht zum einzigen Argument, das ihr noch blieb.
»Das ist ja alles schön und gut, aber ihr habt nicht gewusst, dass wir hier waren, Emeline.«
»Was das betrifft«, erklärte Anthony bescheiden, »wir haben gewusst, dass Sie zu Hause sind. Der Lakai von Lady Wortham hat Miss Emeline zur Tür gebracht. Als sie die Tür mit ihrem Schlüssel aufgeschlossen hat, hat sie Tobias' Hut und seine Handschuhe gesehen und Ihren Umhang. Sie hat Lady Wortham versichert, dass Sie beide zu Hause sind, und die gute Lady hat die Erlaubnis gegeben, dass ich das Haus mit Miss Emeline betrete, ehe sie und Miss Priscilla weitergefahren sind.«
»Ich verstehe«, erklärte Lavinia matt.
»Offensichtlich habt ihr nicht gehört, dass wir in Lady Worthams Kutsche angekommen sind«, meinte Emeline. »Und ihr habt auch nicht gehört, wie ich ihr gesagt habe, dass ihr zu Hause seid.«
»Ah, nein.« Lavinia räusperte sich. »Wir haben nichts gehört. Wir waren im Arbeitszimmer beschäftigt.«
»Ihr müsst mit wichtigen Dingen beschäftigt gewesen sein«, meinte Anthony mit einem verräterisch unschuldigen Lächeln. »Immerhin haben wir einen ziemlichen Lärm gemacht, nicht wahr, Miss Emeline?«
»Ganz bestimmt«, stimmte ihm Emeline zu. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass uns jemand nicht gehört haben könnte.«
Lavinia öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. Schnell schloss sie ihn wieder. Ihr rosig angehauchtes Gesicht wurde noch röter.
Spott blitzte in Emelines Augen auf. »Was war das denn nur für ein faszinierendes Thema, über das du dich mit Mr March unterhalten hast, dass du uns nicht gehört hast, als wir gekommen sind?«, wollte sie wissen.